Zeitgemäße Prüfungsformate

Oliver Schmitz
5 min readAug 18, 2020

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Oder: Wo werden eigentlich Klassenarbeiten geschrieben?

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Was soll die Frage?

Ausgangslage

Die Organisation von Schule unter Pandemiebedingungen hat ja so ihre Tücken. Was mir aber als besonders störend in den Wochen des Hybridunterrichts nach der Schulschließung in NRW aufgefallen ist: Müssen Klassenarbeiten und Klausuren geschrieben werden — so wie das für die Q1 (11) angesagt war — frisst dies wegen der Hygienevorschriften unverhältnismäßig Ressourcen auf: doppelt bzw. dreimal so viele Räume, Aufsichten und damit Unterrichtszeit für die betroffenen Schüler:innen. Aber auch für andere Schüler:innen, da die für die Klausuren eingesetzten Ressourcen ja irgendwoher kommen müssen. Konkret hieß das an unserer Schule: Wenn in der Q1 Klausur geschrieben wurde, blockierte dies den Präsenzunterricht einer anderen Stufe.

Noch konkreter: Klausurtag in der Q1 = kein Präsenzunterricht in Klasse 5.

Idee: Klassenarbeiten und Klausuren zuhause

Umgekehrt bedeutet das unter den jetzigen Bedingungen: Kein Klausurtag = ein Tag mehr Präsenzunterricht für eine Stufe. Warum also Klassenarbeiten und Klausuren nicht zu Hause schreiben, außerhalb der Präsenzzeit? Die Idee klingt vielleicht simpel, kann aber für die Entwicklung zeitgemäßer Aufgabenformate immense Folgen haben. Denn, wie die Linksammlung von Christian Albrecht und Axel Krommer deutlich macht, müssen sich mit dem Ort des Schreibens einer Klassenarbeit oder Klausur auch die Aufgabenformate verändern. Wenn man zu Hause beim Schreiben einer Klassenarbeit oder Klausur auf Ressourcen zurückgreifen darf, wie z.B. eigene Aufzeichnungen, Bücher, das Internet, können die Inhalte dieser Ressourcen nicht allein zur Leistungsbewertung herangezogen werden. Aufgaben, die man durch Copy&Paste lösen kann, sind keine Aufgaben für Klassenarbeiten und Klausuren. Auch nicht zu Hause.

Rechtliche Bedingungen in NRW

Analyse

In der oben angegebenen Linksammlung habe ich irgendwo sinngemäß gelesen: Wir haben bei der Gestaltung von Prüfungsaufgaben vielleicht viel mehr Freiheiten, als wir denken. Daraufhin habe ich folgende, im Hinblick auf die Fragestellung relevante Rechtstexte überprüft: SchulG NRW (v.a. §§ 48–52), APO-SI (v.a. § 6), APO-GOSt (v.a. §§ 13–17) und die dazugehörenden Verwaltungsvorschriften VVzAPO-SI und VVzAPO-GOSt sowie der Runderlass BASS 12–63, Nr. 3. Dort stehen so einige Bestimmungen über Klassenarbeiten und Klausuren, dass sie aber in der Schule zur selben Zeit von allen Schüler:innen einer Klasse oder eines Kurses geschrieben werden, steht dort nicht. Es scheint den Verfasser:innen eine so alternativlose Konvention zu sein, dass sie nicht extra erwähnt werden muss. Hinzu kommt, dass die Informatikmittel zur Abfassungszeit der juristischen Texte andere gewesen sind als heute. So etwas ist damals wahrscheinlich nicht denkbar gewesen, deshalb hat man wohl dazu keine Aussagen getroffen.

Antwort aus der Bezirksregierung Köln

Mit den Ergebnissen meiner ersten Analyse habe ich mich dann mit einer Challenge ans #twitterlehrerzimmer gewandt und gleichzeitig meine Frage an die Bezirksregierung Köln gestellt. Für alle, die in ihrem Bundesland keine Bezirksregierungen haben: In NRW sind sie als Vertretung der Landesregierung in den fünf Regierungsbezirken die dienstvorgesetzte Stelle. Aus dem Dezernat 48, Schulrecht und Schulverwaltung, antwortete mir kompetent und hilfsbereit wie immer Frau Fritsche, die u.a. für Leistungswidersprüche in der SI und im Berufskolleg zuständig ist. Ich fasse im Folgenden ihre Antworten sinngemäß zusammen. Zitate sind gekennzeichnet:

Eine Regelung in Gesetzen, Erlassen, Verordnungen etc. dazu gebe es in NRW nicht. “Um eine Gleichwertigkeit der Klassenarbeiten zu gewährleisten”, hielte sie es aber “für schwierig Klassenarbeiten ohne Aufsicht schreiben zu lassen”. Regelungen dazu gebe es in anderen Bundesländern, z.B. in Thüringen, aus denen man ableiten könne, dass Klassenarbeiten und Klausuren unter Aufsicht von Lehrpersonen geschrieben werden: “Bezug genommen wird dabei u.a. auf die Thüringische Schulordnung, wonach nach § 58 Abs. 3 eine Klassenarbeit abgenommen werden darf, wenn sich ein Schüler bei der Anfertigung einer Klassenarbeit unerlaubter Hilfe bedient. Eine Klassenarbeit kann denklogisch nur abgenommen werden, wenn sie unter Aufsicht angefertigt wird.” Gleiches gilt übrigens für Bayern, wo ganz klar zwischen Schul- (= Klassenarbeiten) und Hausaufgaben unterschieden wird bzw. „Hilfsmittel bei Leistungsnachweisen an bayerischen Gymnasien, Abendgymnasien und Kollegs“ (KWMBI.2011.S.129) definiert sind. Dies hat über Twitter @HellwaldKarl zur Diskussion beigetragen. Weiterhin ließe Sekundärliteratur, wie das Handbuch Schulrecht (Avenarius/Hanschmann) und Prüfungsrecht (Niehues u.a.) annehmen, dass Klassenarbeiten und Klausuren nicht zu Hause geschrieben werden können.

Einwände

Auch wenn in den allermeisten Bundesländern keine konkrete rechtlichen Regelungen zur Frage existieren, Argumente dagegen gibt es schon:

  • Die Eigenständigkeit und Gleichwertigkeit von Schüler:innenleistungen müssten gewährleistet sein, da die Rechtstexte sehr wohl das Thema “Täuschungsversuch” thematisierten (z.B. Apo-SI, §6 (7) und Apo-GOSt, §13 (6)). Dies geht ja auch ganz klar aus der Antwort der Bezirksregierung hervor.
  • Dies sei auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, wie z.B. @c_huetter mir auf Twitter geantwortet hat, aber auch Frau Fritsche aus der Bezirksregierung zu bedenken gibt. Die teurere technische Ausrüstung zu Hause, die bezahlte Nachhilfe oder — ergänzend — die besser ausgebildeten Eltern, Geschwister, Familienmitglieder, Freund:innen müssten sicher als Hilfe ausgeschlossen werden.

Einwände gegen Einwände

Im Hinblick auf die Gewährleistung der Eigenständigkeit der Leistungen zuhause werden natürlich alle zustimmen. Die Beispiele aus der oben zitierten Linksammlung sind hierzu ebenfalls eindeutig. In Prüfungsformaten unter den Bedingungen der Digitalität verändert sich notwendigerweise das Aufgabendesign. Beispielhaft kann man dies an den Versuchen erkennen, aus “normalen” Prüfungsaufgaben “Anti-Copy&Paste-Aufgaben” zu machen oder an den ausführlichen Hinweisen für Lehrende zur Erstellung von Online Open Book Exams und Take Home Exams durch Olivia Vrabl, um Tiefenlernen zu forcieren.

Zudem — und da werden auch viele, wenn nicht alle zustimmen — gibt es bereits jetzt schon schulische Leistungsnachweise aus dem Bereich der Sonstigen Mitarbeit, die (teilweise) zuhause erledigt und danach klaglos unter der Annahme der Eigenständigkeit bewertet werden: Portfolios, Lesetagebücher, Referate…

Auch im Bereich der schriftlichen Leistungsüberprüfungen existiert nicht nur in NRW die sogenannte Facharbeit, die fast ausschließlich in “Heimarbeit” erstellt wird. Kluge Kolleg:innen sollen hier angeblich schon seit Jahren die Aufgaben so stellen, dass sie sich nicht um Copy&Paste kümmern müssen. Ebenfalls kann wahrscheinlich nicht nur in NRW pro Jahrgang und Fach “eine Klassenarbeit durch eine andere, in der Regel schriftliche, in Ausnahmefällen auch gleichwertige nicht schriftliche Leistungsüberprüfung ersetzt werden” (APO-SI, §6 (8)), die dann häufig auch zu Hause angefertigt wird.

Was ich damit sagen möchte: Auch hier, bei existierenden vergleichbaren Formaten, wird seit Jahren die Eigenständigkeit der Leistungen überprüft, obwohl sie nicht zur gleichen Zeit im gleichen Schulgebäude erbracht werden. Warum dann also — natürlich unter Wahrung der Eigenständigkeit — keine Klassenarbeiten und Klausuren zu Hause?

Das könnte an einer Stelle sogar ein Hebel für mehr Bildungsgerechtigkeit sein: Wenn Klassenarbeiten und Klausuren zu Hause geschrieben werden, müssen dazu die technischen Voraussetzungen gegeben sein, bei allen Schüler:innen.

Die teure Nachhilfe, die besser ausgebildeten Familienmitglieder und Freund:innen bleiben. Allerdings auch ohne Klassenarbeiten und Klausuren zu Hause. Vielleicht sollte da mal jemand drüber nachdenken.

Fazit

Schlussendlich spricht nach der Analyse der juristischen Texte, die durch die Antwort der Rechtsabteilung der Bezirksregierung Köln zumindest für das Land NRW hinreichend abgesichert sind, einiges dafür, dass unsere allgemeine Praxis des Klassenarbeits- und Klausurschreibens in der Schule nichts anderes ist als: eine Konvention der Gewohnheit. Zumindest wenn man nicht in Thüringen oder Bayern zur Schule geht.

Um Klassenarbeiten und Klausuren auch ohne Aufsicht zu Hause schreiben zu können, müssen Aufgaben so gestellt werden, dass Eigenständigkeit, Gleichwertigkeit und Chancengleichheit der Leistungen gewährleistet sind. Dies bedeutet mit Sicherheit eine große Sorgfalt in der Entwicklung der Aufgaben. Die oben angesprochene Linksammlung macht aber deutlich, dass viele Kolleg:innen hier schon auf dem richtigen Weg sind.

Bei meiner Anfrage an die Bezirksregierung Köln wollte ich auch wissen: Was passiert eigentlich, wenn mutige Menschen den Versuch wagen und es Beschwerden gibt? Hier die Antwort als Zitat:

“Grundsätzlich hat ein Verstoß gegen die Aufsichtspflicht bei Klassenarbeiten keine unmittelbaren rechtlichen Auswirkungen. Allerdings könnte eine ungleiche Verwendung von Hilfsmitteln dazu führen, dass die Chancengleichheit nicht gewahrt ist und eine Prüfung erneut durchgeführt werden muss.”

Ich glaube, das kann man aushalten?!

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Oliver Schmitz

Schüler am Niederrhein. Lehrer D/Phil/KR/Lit in Bilderstöckchen und Shanghai. Schulleiter in Kalk. Vater in Bensberg.