XR-Mitglieder mit Fahne “Sagt die Warheit”

Der Kampf um die Deutungshoheit: Warum wir uns mit einer Vielfalt an Perspektiven auseinandersetzen müssen

Buzzard
4 min readNov 3, 2019

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Gut oder böse, richtig oder falsch, Rechts oder Links — Die Menschen in der Bundesrepublik finden immer gegensätzlichere und stark polarisierte Antworten auf die gegenwärtigen Fragen und Phänomene unserer Gesellschaft. Einige sehen dadurch sogar unsere demokratische Ordnung in Gefahr. Denn wo AfD oder Extinction Rebellion (XR) für die einen jeweils demokratische Prinzipien verkörpern, werden sie für die anderen zum Inbegriff des Demokratiefeinds. Der Kommunikationswissenschaftler Uwe Krüger erklärt, warum sich die Polarisierung Deutschlands zunächst in unseren Köpfen vollzieht und was wir dagegen tun können.

Ein Text unserer Redakteurin Nicole Eyberger

Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen zeigen eindrucksvoll: die Polarisierung der Gesellschaft kann die Arbeitsweise unserer demokratischen Institutionen ins Stocken bringen. Für den Kommunikationswissenschaftler und Journalist Uwe Krüger ist die Lage klar: Der Ursprung der Polarisierung liegt auch an einer grundsätzlichen Funktionsweise menschlichen Kommunikation — und unserem Versäumnis, diese auch in massenmedialer Kommunikation zu erkennen: dem Framing. Der Begriff Framing (engl. frame = Rahmen) lässt sich etwa mit ‚(Ein)Rahmung‘ übersetzen. Darunter versteht man einen kommunikativen Prozess, durch den wir Ereignisse interpretieren, Fakten einordnen und deuten.

„Wir leben in einem Zeitalter, wo wir uns von der Idee verabschieden müssen, dass Medien außerhalb der Gesellschaft stehen, ein Spiegel der Welt sein können und uns neutral und objektiv informieren können. Wir kommen langsam dahinter, dass jegliche Kommunikation immer eine bestimmte Perspektive hat”, so der Framing-Experte der Universität Leipzig. Frames sind Deutungsmuster, die Probleme definieren, Ursachen zuschreiben, Lösungswege nahelegen, und einordnen, wie wichtig oder unwichtig ein Thema ist: „Oft ist es so, dass ein Deutungsmuster dominiert und die Vertreter des anderen Frames beschweren sich dann, weil die eigenen Themen und Interpretationen nicht vorkommen! Zum Beispiel in Sachen Russland dominiert ganz klar ein Frame, der Russland als aggressive Großmacht darstellt, die andere Länder bedroht. Doch da gibt es die, die den Ukrainekonflikt anders sehen, die die Annexion der Krim anders sehen. Für die gibt es dann Grund, einen solchen Mainstream zu beklagen“, erklärt Krüger.

„Jemandem Framing vorzuwerfen ist, als würde man ihm oder ihr vorwerfen, zu atmen.“

Nicht nur Medien, sondern auch jede*r Einzelne von uns selektiert und ordnet Ereignisse: „Framing wird heute in der öffentlichen Debatte immer als etwas Böses angesehen. Aber jemandem Framing vorzuwerfen ist, als würde man ihm oder ihr vorwerfen zu atmen“, so Krüger. Denn erst dadurch können wir aus der Welt um uns herum, aus täglichen Ereignissen Sinn ziehen, ohne von einer Masse an ungeordneten Informationen und Einzelheiten überfordert zu werden.

„Es gibt da schon eine Welt außerhalb unserer Gehirne. Aber wie die genau aussieht, verhandeln wir kommunikativ.“

Durch Framing schaffen wir nicht nur Sinn und Zusammenhänge: Wir erschaffen gleichzeitig Realität. „Wir können uns ja mal vorstellen, wie wir die Welt wahrnehmen würden, wenn es keinerlei Medien gäbe, keinerlei Kommunikation. Was würden wir dann überhaupt in der Welt sehen? Wir würden einem undurchdringlichem Chaos gegenüberstehen“, führt Krüger an. Ein beispielhafter Wechsel des Interpretationsmusters der letzten Jahre dürfte vielen in Erinnerung geblieben sein: Die Silvesternacht in Köln 2015/2016 war für das Thema Migration ein Schlüsselereigniss, bei dem der bis dahin dominante Frame wechselte. Zuvor verlief die öffentliche Debatte überwiegend verständnisvoll für Geflüchtete und Merkels Politik der offenen Grenzen. Danach dominierte ein neues Framing, das den „Sexismus des jungen, arabischen Mannes“ als zu lösendes Problem voranstellte und dementsprechende Lösungswege vorgab.

Jede Debatte, so Krüger, sei ein Kampf von Frames gegeneinander: Politik, Wirtschaft, soziale Bewegungen, Aktivist*innen und generell jede*r Einzelne versucht ständig die jeweils eigenen Perspektiven, Interpretationen und Themen durchzusetzen. Das sei ein Kampf um Macht, um Deutungshoheit, der ständig stattfindet. Erkennbar wird dieser Kampf auch an den polarisierten Debatten um Fridays for Future, XR, AfD oder Migration.

Selbst Fakten können der Wirkung von Frames oft nichts entgegensetzen, denn sie wirken viel unterbewusster, und sind gerade deshalb so wirkungsvoll. Persönliche Einstellungen und politische Grundhaltungen können diese Wirkung verstärken und Frames können so schlimmstenfalls zu Propagandazwecken eingesetzt werden. Das Wissen darum, dass Frames existieren, bietet aber auch die Möglichkeit, sie aufzudecken, kritisch zu betrachten und zu überdenken. Es bietet ein Hilfsmittel, um gesellschaftlichen Debatten verstehen zu lernen und wieder gemeinsame Grundlagen zu schaffen.

Mehr Perspektivenvielfalt und Transparenz in unserer Kommunikation

Für Krüger ist es eine unverzichtbare Art von Medienkompetenz, sich bewusst zu sein, dass mit jedem Beitrag, der konsumiert wird, auch bestimmte Frames konsumiert werden. Unsere massenmediale Kommunikation müsste die Vielfalt von Deutungsmustern und Inhalten zulassen können, ohne diesen ausgeliefert zu sein. „Das fängt natürlich bei den Journalist*innen selber an. Es ist schon mal ein wichtiger Schritt, sich klarzuwerden, dass man keine Maschine ist, die die Welt objektiv beschreiben kann.“ Es sei die Aufgabe der Journalist*innen, sich selbst zu reflektieren, die eigenen Frames zu erkennen und offen zu bleiben, die Debatten von allen Seiten zu beleuchten. Auch für Mediennutzer*innen sei es wichtig, Medien verantwortungsbewusst zu konsumieren.

Demokratie bedeutet Arbeit, Einmischen und gemeinsamen Diskurs. Gemeinsamer Diskurs kann nur dann fair und gewinnbringend sein, wenn alle Interpretationen und Perspektiven transparent für jeden und jede zugänglich sind. Wenn wir uns unsere Meinung eigenständig bilden wollen, ist es wichtig, alle Seiten zu kennen, die Debatten zu durchdringen und zu beherrschen — um nicht selbst beherrscht zu werden.

Wir hoffen, dass wir mit Buzzard unsere Debatten wieder transparenter, verantwortungsvoller und vielfältiger gestalten können.

Ab dem 5. November läuft unser Crowdfunding für das neue Online-Medium für mehr Perspektivenvielfalt. Wenn auch du mit einer simplen App wieder komplexe Diskurse ermöglichen willst, unterstütze unser Crowdfunding auf buzzard.org!

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