Āyurvedische Pflanzenheilkunde

Besondere Merkmale der āyurvedischen Pharmakologie (dravyaguṇa) und Stellenwert im Gesamttherapiesystem der Āyurveda-Medizin

Simon Tobor
10 min readOct 11, 2019

Die Geschichte der Pflanzen beginnt weit vor der Existenz von Tier und Mensch(tier) in prähistorischer Zeit. So beschreibt die vedische Literatur über Jahrhunderte gesammeltes Wissen über deren Herkunft und Bedeutung (Vgl. Tiwari, 2010, S.10).

„Der Ṛgveda personifiziert Pflanzen (oṣadhi) als Gottheiten, widmet ihnen eine umfassende Hymne und lobt vor allem ihre Heilkräfte“ (Patil 1973, S.230) und bildet somit „das erste Verzeichnis medizinischer Heilpflanzen“ (Rhyner, 2018, S.24)

Rudimentäre Klassifikationen des Ṛgveda und insbesondere die spezifizierte Darstellung und Anwendung von Substanzen (dravyas) im Atharvaveda bildeten wichtige Grundlagen für den Āyurveda. Dessen Pharmakologie Dravya-guṇa-karma-vijñāna (kurz und übergreifend: dravyaguṇa) ist die Wissenschaft (vijñāna) von Substanzen (dravya), ihren Eigenschaften (guṇa) und Wirkungen (karma) und beschäftigt sich ebenso mit Indikation, Dosis, Verträglichkeit und Verarbeitung.

Insgesamt gibt es vier Hauptbereiche (vgl. Ranade 2001, S.138; Rhyner 2018, S.198; Sharma 1976, S.3):

  • Pharmakognostik (Nāma-rūpa-vijñana): beschäftigt sich mit Namensgebung und Synonymen (Nāma) von Substanzen, als auch morphologischen Charakteristika (Rūpa)
  • Pharmakologie (Guṇa-karma-vijñana): siehe oben; lässt sich wiederum unterteilen in Pharmakodynamik (Effekt der Substanz auf den Organismus) und Pharmakokinetik (Effekt des Organismus auf die Substanz)
  • Pharmakotherapeutik (Prayoga-vijñana): erklärt auf Basis von Eigenschaft (Guṇa) und Wirkung (Karma) die medizinische Anwendungsweise von Substanzen (Dravya), deren Dosierung und Dauer der Einnahme, zu benutzende Vehikelsubstanzen (Anūpana) sowie auch förderliche (Pathya) und nicht zuträgliche (Apathya) Ernährung
  • Pharmazie (Bheṣaja-kalpanā): gibt Kriterien für die Lese von verwendeten Substanzen vor, ebenso für die Arzneimittelzubereitung und -aufbewahrung

Sharma (1976, S.8) beschreibt Dravyaguṇa als Apex einer Triangel aus Śārīra (Anatomie), Prakṛti-Vijñāna (Physiologie) und Vikṛti-Vijñāna (Pathologie), und zugleich als Stütze für den achtgliedrigen (= aṣtaṅga) Āyurveda, bestehend aus: Śalya-Tantra (Chirurgie), Śālākya („HNO“ & Gesichtschirurgie), Kāya-Cikitsa (Innere Medizin), Kaumāra-Bhṛtya (Pädiatrie, Geburtshilfe, Gynäkologie), Bhūta-vidyā (Psychiatrie), Agada-Tantra (Toxikologie), Rasāyana (Geriatrie & Verjüngungstherapien), Vājīkaraṇa (Sexualkunde), vgl. CS.Sū.30.28.

Die āyurvedische Pharmakologie beruht auf nachvollziehbaren Gesetzmäßigkeiten und wird als rationale Therapie (yukti-vyapāśraya-cikitsā) bezeichnet, zu welcher auch Ursachenvermeidung (Nidāna-parivarjana), ausgleichende (Śamana) sowie ausleitende (Śodhana) Maßnahmen zählen. Ferner heben Gupta und Stapelfeldt (2013, S.60) hervor, dass Āyurveda als Gesamtsystem verstanden und praktiziert werden muss, daher stets eine Kombination aus phytotherapeutischen, manuellen, ausleitenden Verfahren kombiniert mit Ernährungs- bzw. Verhaltensempfehlungen und Psychotherapie darstellt.

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BASISELEMENTE — DER URSPRUNG ALLER DINGE

„Die āyurvedische Pharmakologie beruht auf anderen Prinzipien als die moderne Naturwissenschaft“ (Gupta Stapelfeldt 2013, S.98)

Alle Existenz basiert laut der vedischen Philosophie auf den so genannten pañca-mahā-bhūta, den fünf grobstofflichen Elementen: Äther (ākāśa), Wind (vāyu), Feuer (tejas), Wasser (āp), Erde (pṛthivi). Während die Mahābhūta die physische Basis des Körpers ausmachen, sind die Tri-doṣa (vgl. Cs.Sū.1.57) repräsentativ für physiologische Funktionen.

Auch die Beschaffenheit von Dravyas wird beschrieben anhand der Mahābhūtas, wohingegen die Wirkung und Anwendung beschrieben wird auf Basis der Tridoṣa (vāta, pitta, kapha), welche wiederum aus der Kombination der Basiselemente hervorgehen (vgl. Sharma, 1976. S.4–6):

  • Vāta (kinetisch-kataboles Prinzip) geht hervor aus Äther (ākāśa) und Wind (vāyu),
  • Pitta (metaboles Prinzip) entsteht durch das Element Feuer (tejas),
  • Kapha (anaboles Prinzip) baut auf den Bhūtas Wasser (āp) und Erde (pṛthivi) auf.
Abbildung 1: Zusammensetzung der tridoṣa vāta (V), pitta (P), kapha (K) aus den pañcamahābhūta und sich daraus ergebende Wirkung (karma) und Eigenschaften (guṇas) der drei doṣas.

Erklären lässt sich die Wirkung von Substanzen durch folgende Konzepte:

  • 1. Dravya = bezeichnet die jeweilige Substanz
  • 2. Guṇa = Eigenschaft / Qualität (indirekte Ursache ohne Wirkungskraft)
  • 3. Rasa = über die Zunge wahrnehmbarer Geschmack
  • 4. Vipaka = Umwandlung / Nachgeschmack / Effekt nach der Verdauung
  • 5. Vīrya = Dynamik / Potenz / Temperaturwirkung
  • 6. Prabhāva = Spezifische Wirkung einer Substanz (falls vorhanden)
  • 7. Karma = Medizinische Wirkung

DRAVYA

Dravya, die verwendete Substanz, ist untrennbarer Sitz von Eigenschaft (Guṇa) und Wirkung (Karma). Substanzen bleiben ohne Effekt bis zur Assimilation und Metabolismus im Organismus. Hervorzuheben ist, dass die Substanz immer nur in ihrer Vollkommenheit Relevanz hat. Verändert sie sich in ihrer Beschaffenheit, so ändern sich auch ihre Eigenschaften und Wirkungen.

„Es gibt nichts auf der Welt ohne therapeutischen Nutzen“ (Cs.Sū. 26.12)

Dies beruht darauf, dass auch der menschliche Körper aus den fünf Elementen zusammengesezt ist. Somit können alle Substanzen (insbesondere auch die Beköstigung) Arzneien sein und körperliche Ungleichgewichte ausgleichen (oder hervorrufen). Präzise Dokumentationen liefern die drei authentischen Werke Carakasaṃhita mit 110 Heilpflanzen, Suśrutasaṃhitā mit 1270 und die Aṣṭāṇgahṛdaya mit 1150 (vgl. Rhyner 2018, S.199), welche gemeinsam die Bṛhaḥtrayī („die großen Drei“) bilden.

Caraka klassifiziert Substanzen (Dravyas) trikathegorisch:

  • nach ihrer Wirkung: Doṣa-beruhigend, Dhatu-beeinträchtigend ((bzgl. Körpergewebe) und eine gute Gesundheit erhaltend (Cs. Sū. 1.67)
  • nach ihrer Herkunft: animalischen, pflanzlichen und mineralischen Ursprungs (Cs.Sū.68)

GUṆA

Tabelle 1: Die Gurvādi-Guṇa: schwer (guru) „und andere“ (ādi), (Rhyner 2018, S.208)

Die so genannten Gurvādi-Guṇa sind zwanzig für die āyurvedische Pharmakologie relevante physiopharmakologische Eigenschaften (vgl. CS. Sū. 1.49), die sich in jeweils zehn gegensätzliche Paare einteilen lassen (Tabelle 1). Sie qualifizieren als inaktive Ursache eine Substanz zur Wirkung und sind inhärent mit ihr verbunden.

Grundsätzlich gilt das Gesetz von Gleichheit und Ungleichheit durch rasa: „Gleichheit (Sāmānya) ist immer Ursache für die Vermehrung aller Wesen, und Verschiedenheit (Viśeṣa) ist Grund für deren Verringerung — vorausgesetzt beide werden angewendet“ (CS.Sū.1.44)

RASA

Rasa bezieht sich hier auf den Geschmack, lässt sich gustatorisch bestimmen und ist Indikator für Beschaffenheit, Eigenschaften als auch mögliche Wirkungsweise: „Die Geschmacksqualitäten, die wahrgenommen werden, sind konstituierend für die Wirkung einer Substanz“ (Mittwede 1998, S.139). Anmerkung: Rasa kann in der Therapie aber auch Quecksilber (Parada) benennen. In der Metallopharmakologie Rasaśāstra werden mitunter toxische Schermetalle und Mineralien für die Anwendung purifiziert. Rhyner (2018, S. 27) vergleicht solche Medikamente (Rasauṣadhi) mit der „Anwendung von Kortison in der modernen Medizin“.

Tabelle 2: Die sechs Geschmäcke und deren komponierende Basis-Elemente (vgl. CS Sū. 26.40)

Laut Caraka Saṃhitā (CS. Sū. 1.65) sind die Geschmäcke sechs an der Zahl: süß (madhura), sauer (amla), salzig (lavaṇa), scharf (kaṭu), bitter (tikta), zusammenziehend (kaṣāya). Diese entstehen aus jeweils zwei Basis-Elementen (Tabelle 2). Erfahrbar und erklärbar sind ihre Wirkungsweisen (Tabelle 4) durch „umfassende Betrachtung (Parīkṣā, yukti)“ (Mittwede 1998, S.140).

Allerdings sind während der primären Verdauung (Prāpaka, Avasthāpāka) gewisse Veränderungen observierbar, die sich nicht durch rasa erklären lassen. Beispielsweise inhäriert Pippalī (lat. Piper longum) einen kaṭu-rasa und sollte demnach katabol wirken, verhält sich allerdings anabol. Dies lässt auf einen madhura-vipāka nach der Umwandlung schließen.

VIPĀKA

Tabelle 3: Trividha Vipāka Vāda nach Caraka. Suśruta vertritt die Theorie der Dvividha Vipāka von Guru (agiert aequivalent zu Madhura-vipāka; erhöht Kapha) und Laghu (inkludiert hier die Vipāka Amla und Kaṭu; erhöht Pitta und Vāta). Beide Theorien decken sich in ihrem Hintersinn.

Vipāka ist das systemische Resultat der Digestion auf den Körper und wird auch Niṣṭhapāka genannt: „was während der Verdauung gebildet wird“.

Ableitbar ist Vipāka durch die tatsächliche Wirkung einer Substanz auf den Organismus nach finaler Transformation, nämlich bṛmhana (anabol: Gewebe aufbauend) oder laṇghana (katabol: Gewebe abbauend), (vgl. Rhanade 2001, S.148; Sharma 1976, S.38–4; Rhyner 2018, S.205–206).

Der „Geschmack nach der Verdauung“ lässt sich somit nicht gustatorisch feststellen. Ein weiteres Beispiel ist Śuṇṭhī (lat. Zingiber officinale, trockener Ingwer) mit einem kaṭu-rasa und madhura-vipāka.

VĪRYA

Vīrya bedeutet (Wirkungs-) Kraft und beschreibt die Prozesse zwischen dem Kontakt von Rasa mit der Zunge und den Effekten der Abwandlungsprodukte nach der Verdauung (Vipāka). Ohne Vīrya ist keine therapeutische Wirkung möglich. Ihre Intensität kann mit der Zeit der Lagerung von Dravyas, aber auch aufgrund Verarbeitungsfehlern, abnehmen (vgl. CS.Sū.26.65–66).

Von den zwanzig Gurvādi-Guṇas sind nur acht potent genug, um eine dynamische Temperaturwirkung (Vīrya) zu erzeugen: Mṛdu, tīkṣṇa, guru, laghu, snigdha, rūkṣa, uṣṇa, śīta. Entscheidend ist in der Praxis allerdings, ob sich die verwendete Substanz im Organismus erhitzend (uśṇa-vīrya) oder kühlend (śīta-vīrya) verhält. „Es kommt also darauf an, ob eine Substanz wegnimmt (adana) wie die Sonne und dadurch den Körper erhitzt; oder zusammenhält (visarga) wie der Mond und den Körper abkühlt“ (Ranade 2001, S.149).

Tabelle 4 (vgl. Ranade 2001, S.149).

Grundsätzlich gilt: „Substanzen mit madhura-rasa und -vipāka haben einen śīta-vīrya; Dravyas mit Amla-/Kaṭu-rasa und -vipāka sind uṣna-vīrya.“ (CS.Sū.26.45). Diese Schlussfolgerung gilt nicht, wenn Rasa und Vīrya sich widersprechen (vgl. CS.Sū.26.48–49). So haben Substanzen mit lavaṇa-rasa und madhura-vipāka ein uṣṇa-vīrya, während Substanzen mit kaṣaya-rasa und kaṭu- vipāka ein śīta-vīrya haben. Außerdem hebt Sharma (1976, S.51) folgende Ausnahmen hervor:

  • Māmsa (Fleisch): Madhura-rasa, madhura-vipāka, uṣṇa-vīrya
  • Āmalaki: amla-rasa, madhura-vipāka, śīta-vīrya
  • Harītakī: kaṣāya-rasa, madhura-vipāka, uṣṇa-vīrya
  • Guḍūcī: Tikta-rasa, madhura-vipāka, uṣṇa-vīrya
  • Bhṛat Pañcamūla: Kaśaya-/tikta-rasa, madhura-vipāka, uṣṇa-vīrya

Guṇa, rāsa, vipāka und vīrya sind in gegenseitiger Abhängigkeit. Es entsteht hierbei (in genannter Reihenfolge) eine hierarchische Potenzsteigerung. Alle werden übertroffen durch Prabhāva (falls vorhanden); die schwächeren Aspekte wirken dennoch „im Hintergrund“.

PRABHĀVA

Unabhängig von ihren determinierenden Eigenschaften können Substanzen eine charakteristische Wirkung entfalten. Auf körperlicher Ebene richtet sich diese direkt an betreffende Gewebe, Organe oder Funktionsstörungen. Beispielsweise ist Arjuna (lat. Terminalia arjuna) „gut für das Herz“ bzw. kardiotonisch (hṛdya); Viḍaṅga (lat. Embelia ribes) wirkt anthelminthisch (kṛmighna).

Prabhāva erklärt auch, warum zwei Substanzen mit ähnlichen Qualitäten (Rasa, Vipāka, Vīrya) sich in ihrer Wirkung unterscheiden können: Milch und Ghī haben beide einen madhura-rasa,- vipāka und śīta-vīrya, allerdings regt von beiden nur Ghī das Verdauungsfeuer an (agni-dīpana). (vgl. Sharma 1976, S.53; Ranade 2001, S:150; Cs.Sū.26.67–72).

KARMA

Karma ist die kinetische Reaktion des Körpers auf die angewendete Substanz und offenbart sich mitunter durch Veränderungen der doṣas, dhātus („Gewebe“ bzw. essentielle strukturelle Komponenten) und malas („Abfallstoffe“ bzw. nicht-essentielle strukturelle Komponenten). Alle Substanzen werden zunächst infolge ihrer Komposition in die Paṇcamahābhūta verstoffwechselt.

Diese beeinflussen wiederum selektiv ihren Guṇas gemäß die Tridoṣa, welche die Mahābhūta in aktiver Form repräsentieren und auf diese Weise Einwirkung auf den Organismus nehmen.

Karma agiert durch Verbindung (Saṃyoga) oder Trennung (Vibhāga) entsprechend Gleichheit (Sāmānya) oder Unterschiedlichkeit (Viśeṣa) der jeweiligen Beschaffenheit (Guṇas) einer Substanz (Dravya) mit reinigender (Saṃśodhana) oder beruhigender (Saṃśamana) Wirksamkeit, lokal oder systemisch, direkt oder indirekt.

Vamana (Emesis), Virecana (Purgieren), Nasya (nasokraniale Reinigung), Āsthāpana und Anuāsana Basti (Klistier) sind die fünf als Pañcakarma (vgl. angewendete Dravyas: Cs.Sū.2) bekannten reinigenden Karmas (Saṃśodhana), zu denen sich auch Rakta-Mokṣana (Aderlass) zählen lässt.

Als Saṃśamana-Karmas zählen Snehana (ölend), Rūkśaṇa (fettlösend/austrocknend), Brṃhaṇa (aufbauend/stärkend), Langhana (reduzierend/leicht machend), Svedana (schweißtreibend), Stambhana (adstringierend/einhaltend), vgl. Sharma 1976, S.60. Caraka dokumentiert fünfzig verschiedene Karmas anhand der Pañcāśata Mahākaṣāya, je zehn medizinisch wertvolle Substanzen in fünfzig Gruppen nach therapeutischen Auswirkungen (vgl. CS.Sū.4.8–26). Hierbei erweist sich als Reglement in der Anwendung das Konzept der Tridoṣa als äußerst hilfreich.

TRIDOṢA

Definiert sind die Doṣas als „pathogene Faktoren“ (CS.Sū.1.57). Vāta, Pitta und Kapha sind allerdings auch essenziell in der Erhaltung von Gesundheit. Dieses „funktionelle Regelsystem“ (Mittwede 1998, S.89) lässt sich durch rasa beeinflussen (vgl. CS.Sū.1.66; CS.Vi.1.6):

  • mahura-, amla- und lavaṇa-rasa harmonisieren vāta;
    (bzw. durch pṛthivī, tejas und āp)
  • kaśaya, madhura- und tikta-rasa harmonisieren pitta;
    (bzw. durch pṛthivī, āp und vāyu)
  • tika-, kaṭu- und kaśaya -rasa harmonisieren kapha;
    (bzw. durch Ākāśa, tejas und vāyu)

Krankheit wiederum kann nur entstehen, wenn die Doṣas aggraviert sind (vgl. CS.Vi.1.5). Um das Aequilibrium (vgl. CS.Sū.9.4) wiederherzustellen, werden also Substanzen mit dem jeweiligen Doṣa entgegengesetzten Eigenschaften und Wirkungen eingesetzt: In einem Kaphaja-Szenario gleicht Kaṭu-rasa die Guṇas schwer (guru), schleimig (picchila) und heiß (uṣṇa) aus durch seine Leichtigkeit (laghu), Nicht-Schleimigkeit (viśada) und Kälte (śīta).

ANUPĀNA

Die stärkste Wirkung kann eine Substanz entfalten, wenn sie auf leeren Magen (a-bhakta) zugeführt wird. Falls nicht anders kommuniziert, sind alle Mittel präprandial (prāg-bhakta) mit warmem Wasser einzunehmen. Je nach dominierendem Doṣa, eignen sich spezifizierend verschiedene Vehikelsubstanzen (vgl. Gupta 2013, S.110). Diese so genannten Anupāna sorgen für optimale Absorption, Assimilation und Effizienz der verwendeten Substanzen:

  • bei Vātala fettige Anupāna: Milch, Ghī und Öle
  • bei Pittala: Milch, reines Ghī (kühlend und süß)
  • bei Śleṣmala: Honig, warmes Wasser (trocken und erwärmend)

Zur Anwendung kommen können zudem kaltes Wasser (selten) und Zucker (Jaggery). Differieren können diese Adjuvantia ebenfalls bzgl. Präparat, Patienten oder Pathogenität.

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Häufige Darreichungsformen / Verarbeitungen von Dravyas (vgl. Gupta 2013, S. 109) sind: Kvātha (Dekokt/Abkochung), Avaleḥa (Mus/Sirup), Āsava/Ariṣta (Kräuterlikör, fermentierte Abkochung), Cūrna (Pulver), Ghṛta (mediziniertes Butterreinfett), Guggul (Harz der Commiphora mukul), Lepa (Paste), Taila (mediziniertes Öl), Vāṭī (Tabletten).

Größtenteils verarbeitet werden: Wurzel (Mūla) oder Teile davon, Blätter (Patra, Parṇa), Rinde (Tvak), Blumen (Puṣpa), Früchte (Phala).

„Das Hauptziel des Āyurveda besteht darin, die Gesundheit der Gesunden zu erhalten und Krankheiten zu heilen, damit der Mensch — ungehindert und mit voller Energie — dharma befolgen, also Tätigkeiten für den spirituellen Fortschritt ausführen kann“ (Sena 2007, S.189)

Dravyaguṇa leistet dabei einen herausragenden Beitrag im Gesamttherapiesystem Āyurveda. Laut Rhyner (2018, S.199) ließen sich in Europa bei 70% der Patienten ayurvedische Heilmittel verschreiben, wohingegen bei den restlichen 30% übliche physikalische Therapien, Medikamente und Gesprächstherapien etc. Einsatz fänden.

Jedoch hat jede Arznei bei übermäßiger Anwendung das Potential nach der Heilung andere Störungen hervorzurufen. Ferner sind insbesondere Inkompatibilitäten (Virodha) unter Betracht zu ziehen, sollten Guṇas und Wirkungsweisen mehrerer Substanzen sich ausschließen. Daher erfordert die Administration nach „sorgfältiger Untersuchung“ des Patienten (vgl. CS.Vi.7.4–7) exzellentes Wissen über alle Aspekte, Scharfsinn und Erfahrung (vgl. CS.Sū.9.6). Ein Arzt, der all dies verkörpert, kann Leben retten (vgl. CS.Sū.9.18).

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