Prüfungen in der Lehrerbildung

Thomas Linke
4 min readDec 14, 2021

Auf Nachfrage meldete ein:e ehemalige:r Lehramtskanidat:in in Bezug auf die Prüfung folgendes zurück:

Ich habe schon am Abend der Prüfung gemerkt, wie die lebendige Kreativität wieder zurückkommt, Ideen und Visionen für die Zukunft. Ich werde nie wieder mit dem Blick von außen (der versucht zu erraten, was erwartet wird) auf “meinen” Unterricht sehen, ich werde das ganze tote Material (Unterrichtsentwürfe und tabellarische Zeitvorgaben) beiseite legen und zielorientiert Lernszenarien planen, die aber offen sind für Spontanität und Unvorhergesehenes.

Ich selbst erinnere mich an meine Staatsexamensprüfung auch mit gemischten Gefühlen: Einerseits natürlich mit Stolz, diese Herausforderung gemeistert zu haben, andererseits aber — und das ist die Stelle, die hier thematisiert werden soll — mit einem Gefühl der Absurdität. Mir schoss nach den gezeigten Unterrichtsproben nur ein Gedanke durch den Kopf: Nie wieder würde ich so realitätsfern und abgehoben Unterricht planen und auswerten müssen.

Jetzt, als Seminarleiter, sitze ich auf der anderen Seite und das Gefühl der Absurdität stellt sich stärker ein als zuvor. Die Gründe dafür:

  1. Ich muss über Berufsbiographien entscheiden mit Messinstrumenten, die wenig zuverlässig und intersubjektiv extrem variabel sind. — Beobachtung, Beschreibung, Bewertung (siehe auch #notenade). Als Messinstrument steht nur meine Wahrnehmung zur Verfügung, die sich in ihrem Fokus an bestimmten Kriterien orientiert. Diese Kriterien sind wenig operationalisiert (Empathie, fachliche Flexibilität etc.), so dass es immer wieder zu Missverständnissen in ihrer Interpretation und Anwendung kommt. Gleichzeitig sind es so viele Merkmale, dass diese unmöglich jederzeit gleichzeitig einer treffsicheren Beobachtung unterliegen können. — Die vorher zu lesende Unterrichtsplanung erzeugt dabei eine Erwartungshaltung, die einer objektiven Beurteilung der Durchführung im Wege steht.
  2. Das Prüfungsformat passt wenig zu den gesellschaftlichen Entwicklungen. Siehe dazu den Artikel von Jan Marenbach.
  3. Der Ausschnitts-Charakter der Prüfungen schränkt die Wahrnehmbarkeit des enorm komplexen Kompetenzgefüges stark ein. — Mit einer Beobachtung des Unterrichts zweier Fächer von jeweils 45 Minuten Dauer können die Prüfenden nur einen kleinen Ausschnitt tatsächlich entwickelter Kompetenzen beobachten und werten; andersherum können die Lehramtskandidat:innen wichtige Kompetenzen nicht zeigen, die für den Lehrer:innenberuf unerlässlich sind (Elternarbeit; Arbeit im Team; Arbeit in den Gremien; Arbeit mit Verwaltungsaspekten etc.; Leistungsbeobachtung und -rückmeldung, etc.).
  4. Das situative Setting kann höchstens einen Stand aber keinen Prozess abbilden. — Ausbildung ist ein Prozess, der im heutigen Berufsleben nicht mit dem Aufhängen eines Zertifikats beendet wird. Das gilt insbesondere für den Lehrer:innen-Beruf, wie es z.B. auch im Kompetenzbereich 10 “Innovieren” der KMK festgehalten ist. Zumindest im Land Brandenburg wird dieser Prozesshaftigkeit durch das Konzept des bedarfsorientierten, bewertungsfreien Ausbildungscoachings teilweise Rechnung getragen; die Prüfung jedoch zielt dann wieder auf die Ermittlung eines Stands ab, der mit Note besiegelt wird. Der Prozess wird damit beendet [1]— dem nach der Ausbildung fortgesetzten, selbstbewussten und selbstgesteuerten Lernen, wie im 4k-Ansatz gefordert wird [2], ist dies ein fatales Signal.

Daraus ergeben sich 4 Ziele für ein sinnhafteres Prüfungssetting: 1. Die Messinstrumente müssen in ihrer Handhabung genauer, aber auch einfacher werden. — Die Komplexität des jetzigen Rasters gaukelt eine Scheingenauigkeit vor. 2. Das Prüfungssetting sollte die Elemente der Kultur der Digitalität berücksichtigen. Kollaboration ist auch in Prüfungen möglich und sinnvoll. 3. Das Prüfungssetting sollte den Fokus so erweitern, das auch andere Beobachtungsbereiche neben dem Unterricht relevant werden. 4. Im Mittelpunkt der Bewertung sollte der Prozess stehen, nicht das Ergebnis. Sind diese vier Ziele erreicht, passt die Prüfung auch zum Ausbildungskonzept.

Letztlich läuft das alles auf einen konsequent formativen Beobachtungs- und Feedbackprozess hinaus. Genauere Prüfungsinstrumente sind nur nötig, wenn eine summative Note gerechtfertigt werden soll. Bleiben die Ausbildenden stattdessen mit Lehramtskandidat:innen im Gespräch über ihre Entwicklung während des Vorbereitungsdienstes, so dass gemeinsam an individuelle Ziele angepasste Evaluationen stattfinden können, bedarf es keiner vermeintlich genauen (validen, reliablen und objektiven) Bewertungsinstrumente. Diese werden dann abgelöste durch Konstruktion und Diskurs, Veränderung und Beobachtung, Prozess und Evaluation.

Sollen die Elemente der Digitalität in diesem Prozess Berücksichtigung finden (wie es inzwischen auch von der KMK gefordert wird), so bietet das 4K-Modell entsprechende Ankerpunkte für Prüfungsgestaltungen [3]. — Neben der Einbeziehung der 4K in den Beobachtungshorizont bedeutet das aber auch, dass während des Ausbildungsprozesses die Möglichkeit besteht kommunikativ, kollaborativ und kritisch zu arbeiten. All zu oft bleiben Lehramtskandidat:innen sich selbst überlassen. Ein Ansatz wäre es, an einer Schule Ausbildungstandems zu bilden, die sich in der Schule gegenseitig hospitieren und rückmelden und gemeinsam Unterricht bzw. Projekte planen und auswerten. — Und wenn das an einer Schule nicht möglich ist, habe ich von technischen Innovationen gehört, die trotz Distanz Kommunikation zu diesen Dingen möglich machen.

Eine konsequente Portfolio-Arbeit kann den Ausbildungsprozess begleiten, um den Fokus auf vielfältige Bereiche des Lehrer:innen-Berufes zu lenken. Das geht auch digital, z.B. mit Taskcards. Der Vorteil der digitalen Variante ist, dass die an der Ausbildung beteiligten Personen (unterschiedliche Fachseminarleiter:innen, Hauptseminarleiter:innen, Ausbildungslehrkräfte, Schulleitungen), die oft nur sporadisch in Kontakt treten können, mit Einsicht in das Portfolio alle über den Stand der Ausbildung und die thematischen Ausbildungsschwerpunkte in den unterschiedlichen Institutionen (Studienseminar vs. Ausbildungsschule) informiert sind. Das kann Missverständnissen vorbeugen und verschiedene Ausbildungsprozesse bedarfsgerecht synchronisieren.

Wird die Ausbildung konsequent durch die oben angesprochenen Prinzipien und Techniken gestaltet, ist am Ende der Ausbildung keine Prüfung mehr nötig. In den gemeinsamen Gesprächen, im Portfolio, in der Zusammenarbeit mit anderen Lehramtskandidat:innen ergibt sich für jede:n Auszubildende:n ganz automatisch, ob sie:er für diesen Beruf geeignet ist. — Da braucht es keine Prüfungskommission, die mit schwammigen Kriterien anhand zweier Stunden Noten aus der Luft zaubert, um am Ende irgendeine Form der Eignung festzustellen. Die Auszubildenden werden stattdessen in die Lage versetzt, selbst zu erkennen, ob sie den Weg zum Lehrer:innenberuf weiter verfolgen wollen. Andererseits ist es möglich frühzeitig zu erkennen, dass berufliche Stärken vielleicht in anderen Bereichen liegen, so dass entsprechend rechtzeitig umorientiert werden kann, anstatt dass Lehramtskandidat:innen nach 24, 18 oder 12 Monaten stressigster Ausbildung mit dem Scherbenhaufen ihrer beruflichen Laufbahn konfrontiert werden.

Ich würde mir für zukünftige Lehramtskandidat:innen wünschen, dass irgendwann ihr Entwicklungsprozess bewertet wird und nicht ihr Vermögen, einzelne Zauberstunden zu planen und durchzuführen. — s.o.

[1] Nölte, Björn; Wampfler, Phillipe: Eine Schule ohne Noten. Neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung. Bern 2021, S.58

[2] Muuss-Merholz, Jöran: Beliebig oder Bahnbrechend. In: Pädagogik 12/2021, S.12

[3] Völker, Eike; von der Meden, Felicitas; Wsysocki, Matthias: Unterrichten und prüfen nach dem 4K-Modell. In Pädagogik 12/2021: S.18 ff.

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