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Der Brexit & unsere fragmentierte Gesellschaft

Thomas Euler
5 min readJun 27, 2016

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Der Brexit ist ein weiteres Signal dafür, dass die gewaltigen Veränderungsprozesse unserer Zeit — von Digitalisierung bis Globalisierung — unsere Systeme unter Stress setzen. Eine erste Suche nach Lösungsansätzen.

Über den #Brexit konnte man dieser Tage Unmengen lesen, von Hot-Takes über differenzierte Analysen bis zum Meme der E.U.-googlenden Engländer. Wer sich in den letzten 72 Stunden nicht sämtlichen Medien und Timelines verweigerte, konnte dem Thema nicht entrinnen.

Naturgemäß wurde sofort nach Bekanntwerden des Ergebnisses vielerorts angefangen, über die Konsequenzen zu spekulieren. Eingedenk der Tatsache, dass der Prozess bis zum tatsächlichen Austritt noch mindestens zwei Jahre dauern wird und dass in Ermangelung eines Präzedenzfalls sämtliche Details offen sind, ist darunter vermutlich viel Lärm.

Während ich den Schaden für die Idee Europa für beträchtlich halte — immerhin hat das politische und wirtschaftliche Zusammenwachsen der europäischen Staaten uns Frieden und Wohlstand beschert, wie wenig zuvor; vor dem Hintergrund zunehmender rechtspopulistischer Strömungen in ganz Europa komme ich nicht umhin, hier einiges an bedrohlicher Geschichtsvergessenheit zu attestieren — bin ich was die wirtschaftlichen und realpolitischen Folgen anbelangt im Camp derer, die zunächst sehen wollen, was tatsächlich passiert. Ich bin vorsichtig optimistisch, dass auch in UK klar ist, dass in Zeiten einer globalisierten, komplett verzahnten Welt selbst die Insel keine Insel sein kann.

Auf einen Text jedoch, der sich nicht mit den Konsequenzen sondern den Ursachen auseinandersetzt, die den Brexit überhaupt ermöglicht haben, will ich jedoch verweisen:

Die Schlacht ums Neuland hat gerade erst begonnen von Richard Gutjahr.

Man könnte den dort anklingenden Themen sicher mehr Raum widmen, als Richard es hier tut, doch als Denkimpuls und Debatteninitiator ist sein Text in jedem Falle wertvoll.

Spaltung und Fragmentierung

In seinem Stück skizziert er eine Entwicklung, die ich ebenfalls wahrnehme: Eine zunehmende Spaltung beziehungsweise, wie ich es bezeichne, Fragmentierung unserer Gesellschaft. In dieser laufen viele Stränge zusammen, über die wir aktuell diskutieren: Digital Divide, Filter Bubble, demografische Entwicklung, der Vertrauensverlust in Demokratie und Politik, Automatisierung der Arbeitswelt, Chancenungleichheit bedingt durch soziale Herkunft uvm.

Diese Entwicklungen können wir nicht nur in UK oder Europa beobachten, sondern auch in den USA (daher der Verweis auf Andrew Sullivan’s extrem lesenswerten Essay, den ich in der ersten Ausgabe von Recommended Reading verlinkt und kommentiert habe).

Zwei Passagen aus Richards Text:

“Das Netz hat den Menschen gezeigt, dass die Welt größer und komplexer ist, als das, was sie bislang nur aus Tageszeitung oder Tagesschau kannten.”

“Wir müssen die neuen Kulturtechniken einer vernetzten Gesellschaft schneller lernen, als dass das die Populisten, die Demagogen und Demokratiefeinde tun.”

Systeme unter Stress

Ich pflichte ihm bei und gehe sogar noch einen Schritt weiter: Unsere politischen Systeme sind strukturell zusehends überfordert mit den Herausforderungen, denen sie gegenüberstehen, wobei die Digitalisierung nicht der einzige, aber einer der entscheidenden Treiber ist. Daher ist der Brexit für meine Begriffe nur der neueste einer Vielzahl von Indikatoren dafür, dass unsere bestehenden Systeme im Begriff sind, die Menschen zu verlieren.

Was nicht verwunderlich ist. Auf der einen Seite ist überall zu spüren, dass wir uns mitten in großen Umwälzungsprozessen (Digitalisierung, Globalisierung et al.) befinden, die zudem wohl weiter an Fahrt aufnehmen werden. Das löst bei vielen Menschen nachvollziehbare Verunsicherung aus. Wir müssen nur in die Geschichte blicken, um entsprechende Muster wiederzuentdecken; denken wir etwa an die Weberaufstände zu Beginn der Industrialisierung.

Wenn dann gleichzeitig unsere etablierten Systeme nur unzureichende Wege finden, diese Veränderungsprozesse zu moderieren (und das obendrein noch zu langsam), ist ein Vertrauensverlust vorprogrammiert. Er ist dann, entgegen der in Politkreisen populären Meinung, keine Entwicklung, der man durch bessere Kampagnen und “bürgernahe Kommunikation” begegnen kann. Vielmehr ist er ein Indikator dafür, dass unsere Systeme de facto unter immensem Stress stehen (um nicht zu sagen: sie sind an der Grenze zur Überforderung, was ich zwar nicht belegen kann, wohl aber befürchte). Dass dann populistische Akteure, die versprechen, den Wandel aufzuhalten oder ihm mit scheinbar einfachen Rezepten begegnen zu können, ist traurig, jedoch in der Logik unserer Demokratien vermutlich unvermeidbar — qua Design.

Die dahinterliegenden, strukturellen Defizite unserer Systeme sind zu komplex und umfassend, als dass ich sie hier in Gänze erörtern könnte, daher nur ein paar Hinweise auf ein paar der Issues:

  • Massive Incentive-Probleme in unseren politischen Systemen
  • systeminhärente Trägheit, die das System in Zeiten gravierenden Wandels an seine Grenzen bringt
  • der Versuch, extrem komplexe Herausforderungen zentral zu lösen, resultiert in einem sehr kleinen Spielraum für (unvermeidbare) Fehler

Die dezentrale Zukunft?

Ich bin ziemlich sicher: Würden wir heute ein politisches Ordnungssystem auf der grünen Wiese bauen, würde es sich sehr von denen unterscheiden, die wir heute nutzen. Nicht zuletzt, weil unsere Technik es heutzutage erlaubt, dezentrale Strukturen — und damit fragmentierte, heterogene Interessenlagen — gänzlich anders zu organisieren. (Das “Organisieren von Dezentralität” ist zum Beispiel, was Facebook, Uber und zunehmend Amazon erfolgreich macht. Deshalb ist auch ein Experiment wie The DAO so spannend, da es uns — alle Hacks und das unausgereifte Design beiseite gelassen — neue Wege vor Augen führt, wie wir Technologie nutzen können, um neue Formen von Organisationen zu schaffen.)

Diese Fähigkeit, übertragen auf ein Ordnungssystem unserer Zivilgesellschaft, hätte immense Design-Implikationen. Statt parlamentarischer Demokratien würden wir vermutlich dezentrale, peer-to-peer Demokratien entwickeln, die Entscheidungsgewalt in einem Netzwerk distribuieren. Wie genau das in der Praxis aussehen könnte, weiß ich noch nicht, doch ich glaube es macht Sinn, dieser Frage weiter nachzugehen (verwiesen sei an dieser Stelle z.B. auf die Arbeit von Clay Forsberg, der sich mit derartigen Fragen im Kontext lokaler Communities befasst).

Zukunft beginnt in der Gegenwart

Allerdings, und hier schließt sich der Kreis zu Richards Stück, operieren wir natürlich nicht auf der grünen Wiese: Die Welt von heute beeinflusst maßgeblich, wie die Welt aussehen wird, in der wir morgen leben. Wenn wir also den Kollaps des Systems vermeiden wollen (erfahrungsgemäß eine schmerzhafte Erfahrung, jedoch in der Geschichte der deutlich häufiger vorzufindende Lauf der Dinge), dann müssen wir es von innen heraus verändern — und zwar konsequent und nicht halbherzig. Das sind wir der kommenden Generation schuldig.

Dies ist ein Ausschnitt meiner (semi-)regelmäßigen Kolumne Recommended Reading, die auf LinkedIn erscheint. Vernetzen Sie sich dort gerne mit mir, wenn Sie auch künftige Ausgaben lesen wollen!

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Thomas Euler

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