Appell zur neuen Literacy
Um die Zukunft gestalten zu können, muss die breite Bevölkerung technologisch literat werden.

Key Points
- Entwicklung und zunehmende Komplexität erfordern neue Sprachen.
- Unsere Politiker sind technologische Analphabeten.
- Die literate Tech-Elite aus FAMGA, BAT und co. herrscht de facto über uns.
- Wir brauchen eine grundlegende, auf das 21. Jahrhundert ausgerichtete, inhaltliche Reform der Schule.
Stellt euch mal folgendes Szenario vor. Menschen, die nicht lesen und schreiben können, wählen Politiker, die nicht lesen und schreiben können. Diese Politiker sollen dann Schriftstellern und Journalisten vorschreiben, was und wie sie zu schreiben haben. Hört sich recht absurd an, oder? Seit ca. 30 Jahren ist das aber überall auf der Welt der Fall.
Ich rede nicht von Buchstaben und Wörtern, sondern von der Tech-Literacy. Das englische Wort Literacy bedeutet, die Fähigkeit lesen und schreiben zu können.
(Leider gibt es kein deutsches Wort, dass den Sinn so einfängt, wie das englische Literacy. Alphabetisierung ist das ähnlichste Wort aber nicht präzise genug. Deswegen werde ich ab jetzt von der Literacy sprechen. Hier könnt ihr schon mal eine Grundidee davon bekommen, was ich mit Tech-Literacy meine: Grund-TL und mittlere TL.)

Immer wieder regt sich die Öffentlichkeit über Facebook, Google, Apple, Amazon und co. auf. Dabei geht es um Datenmissbrauch, Ausnutzung der Monopolstellungen, Uploadfilter, Tracking und Wahlmanipulation — nur einige der Skandale der letzten Jahre.
Gleichzeitig können nur die wenigsten von uns programmieren oder verstehen, was ein Code ist, wie er aufgebaut ist, was er tut und was damit alles möglich ist.
Unsere Bevölkerung ist technologisch illiterat und unsere Politiker sind technologische Analphabeten, die die Technologie regulieren sollen.
„I think everybody […] should learn […] a computer language because it teaches you how to think.“
Grundlage der Macht
Unsere Zivilisation hat sich mit dem Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung entwickelt. Der Staat ist ein komplexes System, das auf Gesetzen, Vorschriften, Finanzbudgets usw. aufgebaut ist. Dafür müssen alle Teile dieses Systems, die aus Staatsbürgern bestehen, lesen, schreiben und rechnen können.
Sprache benötigen wir zur Kommunikation und Koordination. [3] Heutzutage ist es selbstverständlich, dass unsere Mitmenschen lesen, schreiben und rechnen können. Doch lange Zeit war es überhaupt nicht selbstverständlich.
Gesprochene Sprache war eine Revolution und bedeutete einen Riesensprung in der Entwicklung der Kultur. Bildsprache erlaubte uns Geschichten zu dokumentieren. Die ersten Zahlen wurden von den Summerern [4] erfunden, weil dort die ersten Hochkulturen Steuern einnehmen mussten, um den wachsenden Staatsapparat zu bezahlen.
Die ersten Schriften ermöglichten uns, erste Gesetze und Religionen niederzuschreiben. Diese wurden dann von einer Generation zur nächsten weitergegeben. So konnten komplexe Staatsgebilde entstehen.
Zu jedem Zeitpunkt waren es die Eliten, die die jeweilige Sprache beherrschten. Staatsdiener verstanden und gestalteten Steuerkonstrukte und Gesetze. Priester konnten die heiligen Schriften lesen und interpretieren. Diese Interpretationen predigten sie den Gläubigern und waren somit moralische und ethische Instanzen.
Über lange Zeit hinweg war das Gesetz die Religion selbst oder zumindest aus Bibel, Koran und co. abgeleitet. Gesetze konnten nur in der jeweiligen Sprache ausgebildete Geistliche lesen und gestalten. Die Literaten herrschten über die Analphabeten.
Unsere Erwartungen an die herrschende Klasse sind also tief in der Geschichte und Kultur verwurzelt. Daher erwarten wir gerade von Menschen in Führungspositionen, z.B. Politiker, dass sie lesen, schreiben und rechnen können sollen, denn sie müssen Gesetze verabschieden und über die Verwendung von Staatsgeldern entscheiden. Sie sind schließlich diejenigen, die die Regeln unseres Lebens gestalten.
FAMGA rules…
Genauso ist es heute. Die technologisch literaten Eliten aus Facebook, Apple, Microsoft, Google, Amazon (FAMGA) und co. herrschen über die Analphabeten — über uns. Damit meine ich zunächst gar nicht mal die (in-)direkt wirkenden Gesetze, wobei auch diese durch massive Lobbyarbeit beeinflusst werden. Es ist viel mehr unser tägliches Leben, das direkt von ihnen gestaltet wird:
- Unsere Handys sind de facto Google oder Apple (sie entscheiden auch darüber, welche Apps drauf laufen dürfen)
- Computer sind entweder Microsoft oder Apple
- Das Internet ist quasi die erste Seite der Google-Suchergebnisse, wobei die hälfte des Internets auf den Amazon-Servern läuft (AWS)
- Kommunikation ist entweder Facebook mit dessen drei Drachen (Messenger, WhatsApp und Instagram) [5] oder Google (Gmail)
- Einkauf von allem, was über den Bestand des nächsten Supermarktes hinausgeht, wird zunehmend Amazon-ifiziert. [6][7][8]
- Mobile Bezahlung ist Apple und Google
- Online-Bezahlung ist PayPal
- Serien, Filme und der tägliche Soundtrack sind Netflix, Apple, Spotify und Amazon Prime
- unsere persönlichen Assistenten sind Apples Siri, Googles Assistent und Amazons Alexa
- unsere Dateien haben wir auf Google Drive, in der Apples iCloud oder Dropbox
- Transport ist Uber, MyTaxi, Flixbus oder Blablacar
- Kernprozesse vieler Unternehmen sind SAP, IBM, Oracle, Salesforce und Microsoft
Und ja, es sind einige unter uns, die glauben ihr Leben weitestgehend oder zumindest vergleichsweise analog zu führen, doch glaubt mir: Dem ist nicht so! Die goldene Regel der Digitalisierung lautet:
Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert.
Kommunikation, Verwaltung, Verkehr, Energie- und Nahrungsmittelversorgung sind bereits maßgeblich oder werden in der Zukunft zunehmend digital gesteuert. (Wer und was sich dagegen sträubt, wird vaporisiert.)
Wir leben in einer Welt der Monopole und Oligopole, die noch von westlichen Konzernen beherrscht werden. Die Konkurrenz aus China ist aber in den Startlöchern und bereit, eine wichtigere Rolle in unseren Leben zu spielen. Baidu, Alibaba und Tencent (BAT) beherrschen Asien und sie sind hungrig — hungrig nach mehr Daten und unserer Aufmerksamkeit. [9]
Nächsten Schritt wagen
Die wenigsten von uns können Romane schreiben oder die Flugbahn eines Meteoriten berechnen. Jedoch müssen wir alle die Grundlagen des Lesens und Schreibens sowie der Grundrechenarten beherrschen, um mehr oder weniger reibungslos durchs Leben zu kommen. Es ist allgemein akzeptiert, dass das wichtig ist. Kein vernünftig denkender Mensch wird den Deutsch und Matheunterricht abschaffen wollen. Reformieren? Definitiv! Abschaffen? Nein.
Warum also sind noch immer so viele Menschen gegen die Einführung von IT-Unterricht? Und damit meine ich kein Wahlfach und kein Fach, das nur ein Halbjahr in der 9. Klasse dauert. Wir hören ja nicht auf mit Mathe, nachdem wir den Dreisatz gelernt haben; nicht mit Deutsch, nachdem wir gelernt haben, wie man einen Aufsatz schreibt.
Ich rede von einem durchgehenden Unterricht von der ersten Klasse bis zum Schulabschluss und Schulform-übergreifend; einem Unterricht der mit den Grundlagen der Logik beginnt und bis zum Haupt-, Real- oder Gymnasialabschluss den Schülern die verschiedenen Anwendungen vom Coden beibringt.
Jetzt könnte man meinen, dass die Schüler nicht noch mehr Zeit in der Schule verbringen sollen. Längere Schultage? Weitere Schulfächer? Oder gar ein ganzes Schuljahr mehr? Auf keinen Fall! Aber wäre es denn wirklich so schlimm?
Wenn ich die Entwicklung der Schule [10] [11] und die Entwicklung der Lebenserwartung [12] anschaue, wage ich zu behauten, dass es doch völlig in Ordnung wäre, ein Jahr länger zur Schule zu gehen. Seit den 1970ern haben wir nämlich gut 10 Jahre Lebenszeit hinzu bekommen. [13] Warum nicht diesen (Lebenszeit-)Gewinn reinivestieren?
Früher war die Welt weniger komplex, der Stand der Wissenschaft niedriger und die damaligen Berufe setzten keine Ableitungen, Argumentationen oder Wissen über die Zellteilung voraus. Mit der Zeit erhöhten sich die Komplexität der Welt, der Wissenschaftsstand und die Anforderungen an hochspezialisierte Berufsbilder. Es kamen weitere Schulfächer, die als notwendig angesehen wurden, hinzu. Es streitet keiner mehr über den Nutzen von Fremdsprachen — vor allem Englisch. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass Englisch zum Pflicht- und Grundfach erklärt wurde — 1957. [14]
Ich würde sogar soweit gehen, (mich weit aus dem Fenster lehnend) zu behaupten, dass wir einen kleineren Anteil unseres Gesamtlebens in der Schule verbringen als vor 100 Jahren. (Leider konnte ich keine Daten zur durchschnittlichen Schulzeit finden, die man mit der Lebenserwartung hätte kombinieren können. Gerne kann mich hier jemand eines Besseren belehren.)
Weiteres Gegenargument: „Programmieren ist zu schwer für Kinder!“ … Nur weil Eltern und Lehrer es nicht verstehen, heißt es nicht, dass die Kinder es kompliziert finden. Es gibt zahlreiche Spielzeuge und Lehrmaterialien für Kinder aller Altersstufen, die ihnen die Tech-Grundlagen spielerisch und praktisch beibringen.
Die Zeiten in denen man einen Beruf gelernt hat und sich sicher sein konnte, diesen sein ganzes Leben lang ausüben und damit auch seinen Lebensunterhalt sichern zu können, sind lange vorbei. Lebenslanges Lernen ist bereits in aller Munde. Dann lasst uns doch unseren Schülern erstmal das neue Lesen und Schreiben beibringen!
Das Ruder in die eigene Hand nehmen
Unter den Top 10 der wertvollsten Unternehmen der Welt [15] ist kein einziges europäisches oder gar deutsches dabei:
- Apple
- Alphabet
- Microsoft
- Amazon
- Berkshire Hathaway
- JPMorgan Chase
- Bank of America
- Johnson & Johnson
- Exxon Mobil Corp
Genauso verhält es sich bei den “Bewundertsten Firmen der Welt”:

Und den “Wertvollsten Marken der Welt”:
Wir wundern uns, warum kein einziges wirklich großes verbraucherorientiertes IKT-Unternehmen (Informations- und Kommunikationstechnologie) aus Deutschland kommt. Vielleicht liegt es daran, dass wir es einfach nicht können? Wir konsumieren Technologie nur und spielen nicht mit deren Aufbau rum.
Mark Zuckerberg z.B. hat schon als Teenager, lange bevor er Facebook gegründet hat, kleine Anwendungen für die familieninterne Kommunikation gebaut. [16] Nur weil er schon in jungen Jahren programmieren konnte, war er dazu in der Lage, später das größte und mächtigste soziale Netzwerk der Welt bauen.
Wer die Welt gestalten will, muss sie zunächst verstehen. Wie können wir aber erwarten, die nächsten Goethes und Schillers des 21. Jahrhunderts hervorzubringen, wenn unsere Kinder nicht lesen und schreiben können? Wie können wir erwarten, die nächsten Leibnitz und Plancks der digitalen Neuzeit hervorzubringen, wenn unsere Kinder nicht rechnen können?
Stellt euch nur mal vor, wie es um die deutsche und europäische Gesellschaft und Wirtschaft aussähe,
- wenn unsere Schüler Logik- und Syntaxgrundlagen beherrschten?
- wenn sie eine Ahnung davon hätten, was Daten, Cloud und Verschlüsselung überhaupt sind?
- wenn unsere Schulabsolventen Sprachen wie Python, JavaScript oder C++ drauf hätten?
- und wenn sie wüssten, was alles möglich ist? (Pro-Tipp: Alles)
Schlussfolgerung
Die meisten Menschen leben in einer Welt voller Magie. Sie verstehen nicht, wie viele der alltäglichen Dinge funktionieren. Sie drücken und scrollen auf Screens und verstehen nicht, warum die Welt so ist, wie sie ist.
Wenn wir die technologische Entwicklung weiterhin ignorieren, werden weitere Felder unseres Lebens von technologisch literaten Eliten für uns gestaltet. Ob es immer in unserem Interesse sein wird, wage ich zu bezweifeln.
Genauso wie Sprache und Mathematik, hilft uns die Tech-Literacy, unsere Welt zu gestalten. Unsere sozialen Interaktionen, Wirtschaft und Demokratie sind in Gefahr, wenn wir nicht die neue Sprache des digitalen 21. Jahrhunderts lernen.
Ich hoffe wirklich, wir sind nicht so ignorant und arrogant zu glauben, dass wir in der weiteren Entwicklung unserer Zivilisation keine weiteren Literacies mehr brauchen. Die Zeit ist mehr als reif, die Tech-Literacy als Voraussetzung zu einem mündigen Bürger zu machen.
Um die Zukunft gestalten zu können, müssen wir die Menschen technologisch alphabetisieren!