Die große Alphabet-Lüge

Tittaenälg
9 min readDec 30, 2016

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Ich bin sicher, wir alle klicken ab und zu auf Youtube Videos um der Langeweile, dem Hausputz oder der eigentlich schon überfälligen Proseminararbeit zu entgehen.

So bin ich letztens auch auf Videos gestoßen, die sich in etwa “Top 10 hardest languages to learn” or “Top 10 difficult languages to learn” nennen. Nach zwei Minuten dieser Videos verstand ich leider nichts mehr vom Audiomaterial, da mein eigenes Zähneknirschen alle anderen Geräusche im Umkreis von zehn Kilometern übertönte. Allerdings nicht aus Frustration und dem Glauben, diese angeblich schwierigsten aller Sprachen nie lernen zu können, sondern weil besagte Videos meistens in der Manier von Sensationsjournalismus mit Begriffen und Zahlen um sich werfen, die sich schlimm anhören, ohne darauf einzugehen, was sie genau zu bedeuten haben. “18 Fälle!” “14 Vokale!” “36 Diphtonge!” “Homophone!” “Phoneme!” “Suffixe!” sind einige der häufig genannten Schreckgespenster, auch wenn die Begriffe als solche in keinster Weise Furcht einflößend sein sollten.

Desweiteren wird gerne wiederholt, wie lange es dauert, um auch nur die kleinsten Äußerungen und trivialsten Dinge von sich geben zu können. Stundenzahlen werden angegeben, mit denen der geschätzte Lernaufwand einer Sprache umschrieben wird. (Finnisch: 1100+ Stunden! Arabisch: 2200+ Stunden! In anderen Worten: wenn ich jeden Tag eine Stunde lerne, was sich schon mal ziemlich unrealistisch anhört, dann bräuchte ich trotzdem über sechs Jahre um Arabisch zu sprechen!)
Und immer wieder muss betont werden wie UNFASSBAR SCHWIERIG UND MÜHSAM es ist, besagt Sprache zu lernen.

Beispiel: “The use of tones in this language [Vietnamese] is enough to make even language lovers’ heads explode!”

Meine Güte. Diese Darstellung von Sprachen als quasi nicht meisterbar regt mich aus verschiedenen Gründen auf. Sie jagt allen, vor allem Leuten, die vielleicht in ihrer Schulzeit nicht immer die besten Noten in Fremdsprachen geschrieben haben, Angst ein und frustriert quasi schon im Vorhinein.

Die Message: “Diese Sprache ist so scheißkackschwierig, dass sogar Nobelpreisträger sie nicht meistern würden, du 0815-Dumpfbacke aber schon gar nicht!”

Desweiteren finde ich absurd, dass viele der genannten “Schwierigkeiten” oft gar nicht die Schwierigkeiten einer Sprache darstellen. Ich will in keinster Weise leugnen, dass Russisch, Finnisch und Arabisch eine Herausforderung sind. Aber jemandem zu erklären dass eine Sprache wegen Grund 1, 2 und 3 schwierig ist, ist schlichtweg absurd. Es kommt immer darauf an, was für ein Lerntyp mensch ist, mit welcher Muttersprache mensch aufwächst und welche anderen Sprachen bereits beherrscht werden. Für Deutsch-sprechende birgt Russisch tatsächlich so einige Schwierigkeiten, aber für Kenner*Innen slawischer Sprachen ist es vermutlich nicht allzu nervenaufreibend. Ich könnte mich eine ganze Weile darüber unterhalten, aber ich möchte auf folgenden Aspekt eingehen, da er sehr sehr häufig als Grund genannt wird, weshalb eine Sprache von Vornherein schwierig erscheint:

Die Schrift.

Die einschüchternde Wirkung von fremden Schriftsystemen ist mir auch fernab von Youtube schon öfters untergekommen. “Russisch ist schon eine interessante Sprache, aber die schreibt man doch Kyrillisch. Das ist schon schwierig…” “Arabisch stell ich mir verdammt kompliziert vor. Das schreibt sich schließlich von rechts nach links!” und ähnliche Äußerungen vernehme ich immer wieder. Deswegen dachte ich mir, ich versuche ein bisschen auf diese Schriftsysteme einzugehen und hoffe, der “immensen Furcht” die sie verbreiten, entgegen zu wirken. Ich habe drei Schriftsysteme ausgewählt die in den Videos vorkamen und deren “Schwierigkeit” in Gesprächen immer wieder erwähnt wird.

  1. Kyrillisch
Kyrillisch: Russisch Quelle: Google Images

Das kyrillische Alphabet ist ziemlich weit verbreitet. Slawische Sprachen wie z.B. Russisch, Ukrainisch Serbisch und Bulgarisch werden damit geschrieben, aber auch in unseren Gefilden weniger verbreitete Sprachen wie etwa Kasachisch, Kirgisisch und Mongolisch benutzen es. Es hat also durchaus Vorteile Kyrillisch lesen zu können. Ein Wort, dass mensch in Russland z.B. oft auf der Straße lesen kann, ist: ресторан. Pectopah??? Und was soll mir das jetzt sagen??? In lateinischer Umschrift liest sich dieses Wort: “restoran” und bedeutet klarerweise Restaurant. Abgesehen davon ist es natürlich viel leichter sich an einem Ort zurecht zu finden, an dem mensch die Straßenschilder lesen kann.

Nun zum Aufbau des kyrillischen Alphabets und wieso dieser niemandem Furcht einjagen muss. In dem Bild oben sind die 33 Buchstaben des russisch-kyrillischen Alphabets aufgelistet, samt der Schreibschriftformen. Je nach Sprache mögen die Buchstaben etwas variieren (im Ukrainischen gibt es beispielsweise ein <i> das wie das <i> der Lateinschrift geschrieben wird), aber im Großen und Ganzen ist es das. 33 Buchstaben klingt nicht gerade absurd, oder? Wenn die Buchstaben<ä>, <ö>, <ü> und <ß> dazugezählt werden, hat das deutsche Alphabet schließlich auch dreißig. Und das nette am kyrillischen Alphabet ist, dass für Laute wie [sch], [ja], [ju] etc. keine Buchstabenkombinationen notwendig sind, sondern einzelne Buchstaben wie <ш>, <я> und <ю> schreiben kann. (Das heißt auch, dass die Band Russkaja, die sich “Яusskaja” schreibt, sich eigentlich “Jausskaja” liest und mich in den Wahnsinn treibt.)

Verwirrend ist vielleicht die anfangs etwas merkwürdig erscheinende Schreibschrift (warum zur Hölle ist das kleine <t> ein <m>??) aber das lässt sich schnell meistern. Immerhin sind uns viele der Buchstaben bereits aus dem lateinischen Alphabet bekannt, auch wenn sie nicht unbedingt den gleichen Lautwert repräsentieren. Ich schaffe es zum Beispiel bis zum heutigen Tag nicht, die Kokosmilchmarke CHAOKOH (das ist ein etwas spezielles Beispiel, I know) auch Chaokoh zu lesen, da das Wort sich in Großbuchstaben auf Kyrillisch “Snaokon” ließt. (Das Wort ergibt keinen Sinn, aber es ist witzig zu sehen wie mein Vater die Stirn runzelt wenn meine Mutter und ich ihm erklären, dass wir noch “Snaokon” brauchen.)

Quelle: Google Images

Kyrillisch ist wirklich nichts, vor dem mensch sich fürchten muss und ein sehr nützliches Alphabet.

2. Georgisch

Quelle: Google Images

Ich muss gleich zugeben, dass ich weder die georgische Schrift, noch die georgische Sprache beherrsche, obwohl ich das wahnsinnig gern tun würde. Für mich gehört die georgische Schrift zu den ästhetisch ansprechendsten Schriften und ich war etwas perplex, als Georgisch als eine der schwierigsten Sprachen in einem der vorher erwähnten Videos angeführt war, (Georgisch: 1100+ Stunden!!!) unter anderem aufgrund seiner Schrift. Das georgische Alphabet zählt in der heutigen georgischen Sprache allerdings nur 33 Buchstaben, ebenso wie das Kyrillische. Hinzu kommt, dass es keine Unterschiede zwischen Groß- und Kleinschreibung gibt. Klingt nicht wahnsinnig kompliziert, oder? Darüber hinaus ist jedem Phonem, also jedem Laut der Sprache, genau ein Buchstabe zugeordnet.

ქართული- liest z.B: Kartuli, die Bezeichnung für “Georgisch” auf Georgisch.

Wer also Georgisch lernen möchte, solle sich nicht vor der Schrift fürchten.

3. Arabisch

Persisches Alphabet. Quelle: Google Images

“Arabisch, das schreibt sich doch von rechts nach links, oder?? Ist das nicht total schwierig??” Hm. Arabisch ist durchaus etwas kniffliger als Kyrillisch oder Latein, aber der einzige Grund der mir einfällt warum die Schriftrichtung schwieriger sein sollte, ist, dass ich als Rechtshänderin und Füllfederliebhaberin die Schrift leichter verschmiere. Kognitiv gesehen ist absolut nichts komplizierter daran, von rechts nach links zu Schreiben als umgekehrt. Probieren wir’s mal. Lest das folgende Wort von rechts nach links.

.eztümsnätipakstrhafffihcsfpmaduanoD

Okay, dass war natürlich etwas viel. Aber vermutlich ist allen gelungen das Wort <Donaudampfschiffahrtskapitänsmütze> zu erkennen, oder? Natürlich schauen die Buchstaben jetzt für uns noch in die falsche Richtung, aber die arabische Schrift ist schließlich darauf ausgelegt von rechts geschrieben zu werden und somit ist dieser Aspekt kein Problem.

Arabisch lesen zu können ist eine wunderbare Sache, denn nicht nur Arabisch schreibt Arabisch, sondern auch Persisch im Iran (Dari in Afghanistan), Urdu, Punjabi in Pakistan, Kurdisch im Irak und Iran und viele viele weitere Sprachen von Westafrika bis Südostasien verwenden die arabische Schrift oder eine Abwandlung dieser.

Was genau macht das arabische Alphabet jetzt schwieriger?

Um Beispiele zu bringen werde ich das persische Alphabet verwenden, da ich kein Wort Arabisch spreche, aber gerade Persisch lerne und die Schrift gelernt habe. (Das Bild oben zeigt das persische Alphabet).

Wen die Unterschiede interessieren: Persisch unterscheidet sich durch minimale Abweichungen in der Schreibweise der Buchstaben Kāf <ک> und Ye <ى>, sowie vier Buchstaben Pe <پ>, Tsche <چ>, Že <ژ> und Gāf <گ>, die dem arabischen Grundalphabet für das Persische hinzugefügt wurden, da diese Laute im Arabischen nicht existieren. Weiters lässt sich sagen, dass im arabischen Alphabet jeder Buchstabe einen eigenen Laut repräsentiert, während im Persischen es teilweise mehrere Buchstaben für denselben Laut gibt, z.B. <ﺕ >und <ﻁ>, welche beide [t] entsprechen, oder ﺽ, ﻅ, ﺫ und ﺯ, die alle ein stimmhaftes [s] ausdrücken.

Das Persische Alphabet umfasst 32 Buchstaben. 32! Das ist ja einer weniger als Kyrillisch! Und du hast versprochen, dass Kyrillisch einfach ist! Hm, ja schon. Die Sache ist nur, dass Arabisch nur in Schreibschrift existiert. Die Buchstaben sind immer verbunden und es ist nun so, dass diese sich immer etwas ändern, je nachdem, wo im Wort sie vorkommen.

Äh, was??

Im Prinzip ist das nicht so schwierig, ihr müsst einfach nur mehr Formen lernen. Es muss auch gesagt werden, dass die vier verschiedenen Formen eines Buchstabens sich nicht absurd unterscheiden, sondern durchaus einer Logik folgen. Schauen wir es uns genauer an. Die vier Formen wären:

Initial/am Anfang

Medial/ in der Mitte

Final/ am Ende

Isoliert/ allein stehend

Nehmen wir den Buchstaben “b” als Beispiel.

Je nachdem an welcher Stelle im Wort “b” vorkommt, wird es anders geschrieben. Das gilt auch für 24 weitere Buchstaben. 7 Buchstaben allerdings können nicht nach links verbinden. Das bedeutet, dass sie nur zwei Formen haben, nämlich isoliert und final. Wenn ein solcher Buchstabe also in der Mitte eines Wortes steht, muss die finale Form verwendet und dann neu mit der initialen Form weitergeschrieben werden. Ein solcher Buchstabe ist z.B. der erste Buchstabe des Alphabets Alef: (Wer sich für die Lautwerte des persischen Alphabets interessiert, hier ist ein Video dazu, beginnen bei 01:25.)

Das klingt jetzt aber auch nach mehr, als es tatsächlich ist; ihr müsst nicht 32 komplett verschiedene Buchstaben lernen. Im Gegenteil, die Form des Bes im vorletzten Bild ist auch die gleiche Form für die Buchstaben Pe, Te und Se, sie unterscheiden sich nur durch die Anzahl und den Ort ihrer Punkte und es gibt noch einige weitere Buchstaben die sich bis auf ihre Punkte gleich schreiben.

Was passiert nun, wenn sich verschiedene Buchstaben verbinden? Als Beispiel nehmen wie einfach die zwei eben gelernten Buchstaben Be und Alef:

با

ergibt “bā”, was “mit” bedeutet. Wir sehen an diesem Beispiel, dass sich die finale Form des Alef mit der initialen Form des Be verbindet. Auf diese Art und Weise verbindet mensch die arabischen Buchstaben. Im Grunde ist es nicht viel anders, als Schreibschrift zu lernen.

Die wahre Schwierigkeit des arabischen Alphabets besteht auch nicht im Schreiben, sondern im Lesen. Die kurzen Vokale [a], [e] und [o] werden, im Gegensatz zu den langen Vokalen [ā], [i], [u], nicht geschrieben. Das bedeutet nun, dass das Schriftbild für ein Wort genau eingeprägt werden muss, da es anders nicht gelesen werden kann. Beispielsweise das Wort für Mutter:

مادر

Eigentlich steht hier “mādr”. Das Wort heißt aber “mādar”, was allerdings an der Schrift nicht erkennbar ist. Deswegen ist es sehr wichtig, sich die Schreibweise eines Wortes gut einzuprägen.

Hingegen ist das persische Wort für “Persisch” durchaus sofort erkennbar, da alle Laute des Wortes geschrieben werden.

فارسی

Hier steht “fārsi”. Anhand dieses Wortes ist auch nochmal schön erkennbar, dass das Alef mit der Finalform aufhört, das Re ر [r] isoliert steht, da es wie das Alef nicht nach links verbunden werden kann und das Sin س [s], welches alle vier Formen hat, sich an das ye ی [i] anfügt.

Wer also Arabisch, Persisch oder eine andere Sprache, welche das arabische Alphabet benutzt, also lernen möchte, solle sich von der Schrift nicht davon abhalten lassen. Arabisch schreiben zu lernen braucht vielleicht ein bisschen länger als Kyrillisch, verlangt aber keinen Einstein-IQ.

Funfact: Was bei uns als die “arabischen Ziffern” bekannt sind, sind eigentlich Zeichen, die sich von einer altindischen Schrift ableiten. Die arabischen Ziffern von 0–9 sehen folgendermaßen aus (hier von links nach rechts dargestellt):

۰ ۱ ۲ ۳ ٤٥٦ ۷ ۸ ۹

Im Persischen werden dieselben Ziffern verwendet, allerdings unterscheiden sich die Ziffern 4–6 ein wenig:

۴۵۶

Vielleicht haben diese kleinen Einblicke in die Schriftsysteme ja geholfen, ihren “schlechten” Ruf ein wenig zu beseitigen. Eine Schrift oder auch eine Sprache zu lernen braucht Zeit und Hingabe und mensch muss sehr geduldig mit sich sein, aber es ist nicht so superscheißoberkackschwierig und schon gar nicht unmöglich, wie es einem so manches Video weismachen will.

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