Abschied von der gedruckten Zeitung
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Gedacht hätte ich das vor zwei, drei oder mehr Jahren bestimmt nicht. Aber nun ist’s soweit: Heute haben wir unsere letzte Ausgabe der gedruckten Tageszeitung bekommen. Ein Abschied auf Raten, aber kein Abschied von gutem Journalismus.
Rat, rat, rat, rat (crescendo), rat, rat, quietsch, plopp, quietsch, rat, rat, rat (decrescendo), rat, rat. Ganz leise beginnt der Tag, ich brauche nicht auf die Uhr zu schauen: Viertel vor Fünf. Ein paar Minuten Plus/Minus. Bei jedem Wetter, an jedem Wochentag brachte uns der nette Zeitungsausträger die hübsch zusammengefaltete Zeitung, die man vor ein paar Jahren um diese Uhrzeit als “druckfrisch” bezeichnet hätte. Das Rattern seines Handwagens auf dem Pflaster, das Quietschen der Briefkastenklappe waren über Jahre Selbstverständlichkeiten zum Tagesbeginn und mit ihnen das wohlige Gefühl, sich noch einmal gemütlich umdrehen zu können. Heute kam die selbstverständliche Tageszeitung zum letzten Mal. Nur am Samstag wird auch künftig in der Frühe schon etwas im Briefkasten liegen. Aus der gedruckten Tageszeitung wird für uns eine Wochenendzeitung plus App.
Tausende haben längst ähnlich entschieden, Tageszeitungen abbestellt oder — vermutlich noch häufiger — noch nie eine abonniert gehabt. Das Ende der gedruckten Zeitung scheint absehbar. An sich ist mir das schon lange klar: Was habe ich von einem Produkt, das mit großem Aufwand und Ressourceneinsatz hergestellt, in der Nacht zum Hunger- und nicht mal zum Mindestlohn distribuiert, fünfzehn bis zwanzig Minuten genutzt und dann für immer entsorgt wird — wenn es zugleich die Möglichkeit gibt, den Inhalt auch digital zu beziehen?
Trotzdem ist es seltsam, auf das Papier, das Rascheln und Zerpflücken der Zeitung am Frühstückstisch zu verzichten. Vielleicht empfinde ich das besonders stark, weil meine Beziehung zur Tageszeitung schon immer sehr eng war: Im Januar 1980 war es, als ich mit der damals ganz neuen Minolta XG9 — zur Hälfte erspart, zur Hälfte ein Weihnachtsgeschenk — ein paar Fotos von unserem Sportplatz machte. Den hatte die Feuerwehr am Vorabend netterweise unter Wasser gesetzt, und auf der entstandenen Eisfläche vergnügte sich jetzt die halbe Nachbarschaft. Mein Vater, freier Mitarbeiter der Lokalzeitung, nahm die Negative in die Redaktion. So kurz nach Weihnachten war die übliche Saure-Gurken-Zeit, weshalb das Bild als so genanntes Schmuckbild tatsächlich veröffentlicht wurde. Zwei Zeilen Bildunterschrift dazu, und das das Ding prangte neben den üblichen Berichten und Meldungen eines üblichen Lokalteils.
Und ich? Ich war begeistert und begleitete fortan meinen Vater immer wieder zu Terminen, bewaffnet mit der Spiegelreflex, 13 Jahre alt. Sein Deal war mehr als fair: Er fotografierte und schrieb, und ich fotografierte auch, Filme stellte die Redaktion. Genommen wurde dann das bessere Bild. Immer wieder mal wurden Bilder von mir gedruckt - sicher eher erzieherisch motivierend ausgewählt als wirklich besser. Nach einigen Monaten dann ein echter Coup: Der Feuilletonchef suchte für eine lange Lesegeschichte in der Wochenendausgabe Landschaftsfotos. Der Vater stellte sich mit dem Sohn ins Fotolabor unter der Kellertreppe und spendierte hierfür 18x24-Papier — für die Lokalredaktion reichte für die Abzüge immer 13x18. Und wir zogen einen ganzen Stapel Landschaftsbilder ab, die ich beim Familienurlab in der Toskana und in Umbrien geschossen hatte. Tatsächlich wurden zwei oder drei der Fotos großformatig gedruckt. Im Mantel. Im Kulturteil. Ich war gemacht, denn damals galten Tarifverträge noch was, 50 Mark pro Bild gab es, im Lokalteil wegen der geringeren Verbreitung die Hälfte. Ich hatte den Luxus, mit Zeitungen Geld zu verdienen. Und jedes Mal war es schön, die Zeitung zur Hand zu nehmen, am Abend dann ein zweites Mal, um die eigenen Stücke auszuschneiden und sie in Leitz-Ordnern zu verwahren.
Und dann? Es kam, wie es kommen musste. Zum Fotografieren kam irgendwann das Schreiben, nach einiger Zeit übernahm ich Termine eigenständig. Dann das Abitur, anschließend ein halbes Jahr Praktikum, kurz nur im Lokalen, dann in Kultur, Politik und Wirtschaft. Das angebotene Volontariat der Wirtschaftsredaktion wollte ich nicht annehmen, statt dessen Journalistik studieren in Eichstätt.
Ein Volontariat ablehnen? Das konnten viele nicht verstehen. Mir machte das Angebot jedoch Angst. Später einmal im Lokalen zu arbeiten, konnte ich mir nicht vorstellen. Eine zu kleine Welt für mich 19-Jährigen. Sprachdrechsler und Bildungsbürgervorturner im Feuilletion? Dafür hatte ich nicht das Zeug. Und bei den Mantelressorts hatte ich vor zwei Dingen Angst: Vor Agenturmeldungen und vor einem zu begrenzten Horizont. Schon damals, dann Ende der Achtziger Jahre, kam es mir seltsam vor, dass zumindest die Politik- und Wirtschaftsteile fast ausschließlich aus Konfektionsware bestanden. Ich dachte mir: Was, wenn die Leser Zugang zum Ticker hätten? Natürlich, es ist eine hohe Kunst, aus vielleicht dreißig Meldungen, die im Laufe eines Tages zu einem Thema hereinkommen, dann einen Artikel zu basteln, und zwar auf Zeile genau nach Vorgabe des Ressortleiters. Damals war es noch selbstverständlich, mit dpa, AP, Reuters und epd zu arbeiten. Ich erinnere mich an das Chaos der auf dem Tisch ausgebreiteten Agenturmeldungen und das noch größere Chaos im Kopf. Beim Ordnen dieses Durcheinanders wird einem erst bewusst, wie viele Entscheidungen dabei zu fällen sind — und wie unterschiedlich diese ausfallen können. Macht der Artikel mit der Kritik der Opposition auf oder mit der Handlung der Regierung? Kommt ein kritischer Experte für einen Teilaspekt des Themas noch zu Wort? Ich lernte die Blattlinie kennen.
Letztlich habe ich aber dieses Arbeiten eher als Sprachpuzzle wahrgenommen, und wirklicher Journalismus — also eigene Geschichten — beschränkten sich zumindest bei der Regionalzeitung in der Politik auf den Leitartikel des Ressortleiters — der gegebenenfalls auch mal vom Verleger geschrieben wurde — und auf die Landtagsberichterstattung. In der Wirtschaftsredaktion durfte ich sogar zwei-, dreimal zu Bilanzpressekonferenzen, was meine zweite Angst entstehen ließ, die wiederum doppelbödig war. Sie bezog sich einerseits auf das Veranstaltungsformat “Pressekonferenz” (wie langweilig, alle hören das selbe), andererseits beschlich mich das Gefühl, viel zu wenig zu wissen, um Bilanzen wirklich lesen und echtes oder pseudostrategisches Erklären der Vorstände zur Lage des Unternehmens wirklich zu verstehen. Wie soll man da überhaupt die richtigen Fragen stellen?
Deshalb war klar: Ein Studium muss sein. Das Weitere ist schnell erzählt: Ich blieb zunächst neben dem Studium dem Schreiben und Fotografieren treu. Lustigerweise fand ich mich mit der Zeit einerseits als Mitarbeiter von IT-Zeitschriften, andererseits von Gastronomiezeitungen. Vom Lokalen also zum Fachjournalismus in Lokalen und Serverräumen. Von dort war — Überraschung — der Weg in die PR kurz und Praktika bei einem Privatradio und beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen zeigten mir im Kontrast, dass diese beiden Felder nun gar nicht meine waren. Irgendwann kam dann die Entscheidung für die PR und gegen den Journalismus, doch das ist ein eigenes Thema.
Wie auch immer: Die Tageszeitung begleitete mich dennoch über all die Jahre. Wobei: Als wir vor sieben Jahren zuletzt umgezogen sind, 300 km weg vom vorigen Wohnort, kam es zum ersten innerlichen Bruch. Natürlich war klar: Eine Zeitung zu abonnieren, ist selbstverständlich. Wir hatten uns wirklich Mühe gegeben, zunächst mit einem Probe-Abo der lokalen Tageszeitung. Man will ja die neue Umgebung kennen lernen, ihre Diskussionen und über wichtige Ereignisse etwas erfahren. Jedoch: Wir fanden im Lokalteil in vier Wochen kaum einen Artikel, den wir wirklich interessant gefunden hätten. Es ist so seltsam: Hier die Erwartung, durch die Lokalzeitung die neue Umgebung besser kennen zu lernen, dort der Eindruck, man müsste schon Ewigkeiten hier leben, um sich für die Berichte darin wirklich zu interessieren. Dazu kam: Der Mantel war ziemlich genau so, wie ich das dreißig Jahre vorher kennengelernt habe. Die Füllung bestand aus Agenturmaterial, etwas Verzierung gab es auf der Meinungsseite. Und ja, als Innovation ist ein bisschen Lokales nach vorn gerutscht. Hierfür 30 Euro bezahlen im Monat?
Ok, wir suchten weiter, dann unter den überregionalen Blättern, und wir kamen nach zwei Monaten mit ausführlichen Probekäufen zur taz, die wir am alten Wohnort schon unregelmäßig zur Lokalzeitung dazu gekauft hatten. Und auch wenn ich den taz-Journalismus nicht immer toll finde, er ist für mich eines der besten Angebote. Das habe ich vor dem Abo daran gemerkt, dass ich manchmal noch mit Gewinn das taz-Altpapier zur Hand genommen habe, in das der Bio-Händler gern das Obst eingewickelt hatte. Immer wieder umhüllten ein, zwei noch lesenswerte Artikel der vorletzten Woche die Bananen. Artikel, die es sonst nicht gibt, und die eben keine Agenturware sind.
Dennoch: Unser aller Lesegewohnheiten haben sich inzwischen massiv verändert. Wir haben jetzt den Zugang zum Ticker. Er liegt nur einen Mausklick entfernt. Und wir haben Zugang zu einer Informationsflut, aus der wir — zu wenig Zeit — natürlich auch nur gelegentlich mal einen Zipfel erhaschen. Doch obwohl ich am späten Abend meist das Gefühl habe, ganz gut mit Tickermeldungen versorgt zu sein, stehe ich am nächsten Tag wie schon immer lieber ein bisschen früher auf, frühstücke in Ruhe — und lese. Lustigerweise nach wie vor eine Tageszeitung. Vor einigen Monaten haben wir zur Printausgabe die App gebucht. Während der Woche reicht das völlig aus, und im Wechsel zwischen Tageszeitungs-App, Facebook und Twitter entdeckt man gelegentlich noch ein, zwei Artikel einer Redaktion, an die man nicht gedacht hätte.
Auch wenn das manche komisch finden mögen: Aber ein abgeschlossenes Angebot — also eine Ausgabe einer Zeitung — empfinde ich nach wie vor als angenehm. Das ist mir eine Art Grundversorgung, heute sprechen wir in ähnlichen Zusammenhängen oft vom Kuratieren. Solange in dieser Grundversorgung genügend neue Anregungen stecken, die ich nicht am Vortag online, also im Ticker, gefunden habe, so lange bezahle ich selbstverständlich gern für die App. Ein seltsames Gefühl ist der Verzicht auf das Papier trotzdem. Mal sehen, wie das ab nächste Woche morgens um Viertel vor Fünf ist, wenn die Briefkastenklappe nicht mehr quietscht.
Ergänzung (22.9.14):
Inspiriert von diesem Artikel hat @netzwege die Blogparade #KindheitsZeitung gestartet. Dort soll es um prägende Erlebnisse mit der Zeitung in der Kindheit gehen. Ich bin gespannt auf Eure Artikel!