#14. Vom Sinn des Lebens …

Es ist Mitte Juli. Ich mache die Steuererklärung, wie jedes Jahr. Sobald ich Anfang Januar den Lohnausweis erhalte, beantrage ich eine Fristerstreckung zur Einreichung meiner Steuererklärung, als erste Amtshandlung sozusagen. Warum ich dies tue? Keine Ahnung! Ich hasse es eigentlich nicht. Eigentlich ist es ein sehr einfacher Prozess für mich, da ich kein nennenwertes Vermögen besitze, kein so grosses Einkommen habe, keine Nebeneinkünfte welche ich verschleiern möchte, dazu kein Auto, keine Immobilien, keine Aktien, keine komplizierten Verhältnisse, eigentlich. Ich liebe dieses Wörtchen eigentlich und wie es die Dinge relativiert, in Frage stellt: “Eigentlich mag ich Dich, aber Du musst warten”, “Eigentlich ist sie sehr nett”, eigentlich…

Vielleicht ist es eine implizite Solidarität mit meinen Mitmenschen die alle angeblich diesen Prozess der Ausfüllung der Steuererklärung sosehr hassen und es hinauszögern, vielleicht. Das ist auch so ein Wörtchen, so vieldeutig und dennoch nichtssagend.

Aber ich schweife ab. Ich mache die Steuererklärung, hab sie teils sogar schon gemacht. Früher war zwar nicht alles besser, aber die Steuererklärung war noch einfacher. Ich war verheiratet. Nun muss ich schauen, dass ich die Belege für die Unterhaltszahlungen beilege (Belege beilege — interessantes Wortspiel), der Ex-Partnerin fragen ob sie auch den genau gleichen Betrag auf ihrer Steuererklärung angegeben hat. Das frankierte und ans Steueramt addressierte Couvert liegt bereits auf dem Tisch. Es geht nun um Kleinigkeiten — die übrig notwendigen Dokumente zusammenstellen, nachher alles raufladen und drucken lassen damit ich sie morgen auf dem Weg zur Arbeit beim Kopiergeschäft im Zürcher Hauptbahnof abholen kann. Denn Zuhause hab ich keinen Drucker, und ich will nicht alles im Büro drücken lassen. Ausserdem ist der Drucker dort Scheisse, weil die Patronen seit jeher fast leer sind.

Warum ich keinen Drucker kaufe? Erstens finde ich sie alle zu gross und potthässlich. Ausserdem muss ich für das einmal im Jahr doch nicht sowas besorgen. Überhaupt will ich ja nicht zu viele Dinge besitzen, ich hab ja bereits zu viele. Und wenn etwas, dann wenigstens was Schönes, Anmutiges, und ein Drucker kann diese Kriterien kaum erfüllen.

Früher: da war es anders. Da kaufte ich mir alles mögliche Zeugs — Dinge, welche ich nicht wirklich brauchte, dazu kamen Dinge welche meine damalige Partnerin auch nicht brauchte, aber wir beide kauften alles mögliche Zeugs, weil wir glaubten diese zu brauchen, hielten sie für notwendig, wie alle so tun, gehört zum Bürgertum halt, dieses Anhäufen von Dingen, ohne nach deren Sinn und Zweck zu fragen — Kleider die man selten tragen wird, Utensilien, Küchen- und Haushaltsgeräte, Krimskrams, hässliche Möbel, Spielzeug, man erweitere die Liste beliebig. Warum tut man das? Versucht man mit dem Anhäufen vom Besitztum sein Unglücklichsein zu kaschieren, zu kompensieren? Oder macht gerade dieses Anhäufen einem unglücklich weil sinnentleert und sinnentleerend? Was ist Ursache, was Wirkung, wenn man überhaupt davon reden kann?

Nun, es ist nicht so, dass ich es heuer gar nicht mehr tue, dieses Anhäufen, dieses Sammeln von Dingen, dieses Ritual die Leere im Leben mit Dingen zu füllen. Eigentlich tue ich es immer noch, aber weniger.

Ich mache die Steuererklärung. Das ist auch eine Zeit Bilanz zu ziehen und nicht bloss in Franken und Rappen. Was hab ich verdient? Was schulde ich der Allgemeinheit, was meiner Ex-Partnerin und meinen Kindern? Aber auch eine Zeit Bilanz zu ziehen über das Jahr das vergangen ist, auf eine profane Art zwar, aber immerhin.

Ich nehme jeweils eine Kopie von den ausgefüllten Formularen und lege sie bei mir im Ordner hinein. Was entdecke ich dabei? Da hat es noch unzählige Dokumente — alte Bankauszüge, Versicherungsbelege, Pensionskassenbelege, alte Mietverträge, Lohnausweise. Warum hab ich die alle noch? Was bringen sie mir? Sie erzählen von einer Zeit, von einem Leben welches schon längstens nicht mehr ist — so fremd als wäre es gar niemals mein Eigenes gewesen. Diese Dinge gehören nicht zu meinem Leben, es muss alles weg! Wie langsam der Prozess des Abschiednehmens vom alten Leben eigentlich läuft! Man glaubt, man habe es alles hinter sich, längstens, schliesslich hat man den Berg erklommen, neue Bekanntschaften gemacht, mit vielen anderen Menschen sei man intim geworden, auf physischer aber auch auf geistiger Ebene, neue Geschichten habe man angefangen, man habe das Alte exorziert, aber diese kleinen Zeugnisse verstecken sich wie Ratten in der unteriridischen Kanalisation des Lebens, dort wo man niemals hinschauen geht, ausser bei der jährlichen Prüfung, wie ich beim Ausfüllen meiner Steuererklärung.

Warum hab ich diese Dinge nicht früher weggeworfen? Die hätte ich ja auch früher nicht so lang aufbewahren müssen — ich meine, Lohnausweise von meinem alten Job, wozu? Tun alle Menschen solche Dinge? Was für ein Sinn hat das? Was für ein Sinn haben all diese Dinge mit denen wir uns umgeben?

Morgen könnte ich tot sein. Ich könnte plötzlich tödlich erkranken wie einige meiner ehemaligen Mitstudenten und Weggefährten. Ich könnte überfahren werden wenn ich mit dem Fahrrad schnell in die Stadt fahre während meine Kinder bei mir in der Wohnung rumspielen. Eine schreckliche Vorstellung, finden Sie vielleicht, dass meine Kinder daheim spielen, ungeduldig warten ohne dass jemand davon weiss, während das Blut mir aus der Stirn rinnt und langsam auf dem Asphalt trocknet.

Aber so schrecklich ist das nicht. Es gibt viel schrecklichere Dinge welche Kinder erleben müssen als das Ableben ihrer Eltern — Missbrauch, Gewalt, Krieg. Ich weiss, es gibt zahlreiche Eltern, vorwiegend Mütter, welche sich Sorgen machen, ihr Kind könnte wegen Elektrosmog verhaltensauffällig werden, oder wegen zu vielen E-Substanzen Allergien entwickeln oder nicht genügend Gemüse essen. Nun, ich bin zwar nicht in der Lage darüber statistisch relevante Aussagen zu machen, aber ich denke nicht, dass eine Mehrheit der Kinder dies erlebt. Hingegen ist klar, dass ein beträchtlicher Teil der Kinder die Trennung ihrer Eltern erleben muss, weil das eine oder das andere Elternteil sein Lebensprojekt verwirklichen will (was eigentlich auch voll und ganz in Ordnung ist), dies kompromisslos, auch so ein Wörtchen, gleichzeitig kopf- und herzlos, auf seine eigentümliche kompromisslose Art. Gegen dieses Trauma ist das Fehlen von Gemüse nur noch Beigemüse.

Sie könnten meinen, ich sei ein Pessimist, weil ich mir solche Dinge ausmale. Damit hätten Sie aber Unrecht. Denn ich finde es keineswegs schrecklich mich mit meiner eigenen Endlichkeit zu befassen. Was macht das Leben lebenswert wenn nicht seine Vergänglichkeit, wie Kirschblüten im Frühling.

Sie meinen vielleicht, ich wäre ein Nihilist der an dem Sinn des Lebens nicht glauben will. Ich muss Ihnen wieder widersprechen (wieder widersprechen). Ich finde es befreiend, dass das Leben keinen Sinn hat, keinen Sinn haben muss. Denn einer Sache Sinn geben zu müssen ist per se sinnlos, eigentlich. Und ein Leben kann gelebt werden, auch ohne Sinn. Bloss weil das Leben keinen Sinn hat, kein höheres Ziel, keinen Dirigenten den gewisse Leute Gott nennen, bedeutet nicht, dass man nicht leben kann, dass man nicht lieben kann, lachen kann, bereichernde Erfahrungen und ergreifende Erlebnisse haben kann.

Es ist bloss unsere grenzenlose Eitelkeit, dass wir glauben einen Sinn zu finden wo es keinen geben kann oder muss. Es ist eine ähnliche Eitelkeit welche mich antreibt mitten in der Nacht Zeilen zu schreiben welche keine Bedeutung haben, eigentlich, Zeilen welche gelesen oder nicht gelesen werden, von Menschen die selbst vergänglich sind. Aber das negiert diesen Akt des Schreibens oder des Lesens nicht.

Ob es gar nichts gebe was ich erstrebenswert finde, würden Sie sich vielleicht fragen — Werte, Gott, Weltfrieden, vielleicht. Nun, ich bin ein einfacher Mensch, und wenn es etwas gibt was mir manchmal Angst macht, dann ist es die Vorstellung, dass das Schöne aus der Welt verschwinden könnte, dass vielleicht eines Tages keine schönen Blumen mehr auf den Wiesen blühen würden, dass selbst die Wiesen, die Berge, die Flüsse verschwinden könnten, dass die Musik verstummen könnte, dass es keinen Vogelgesang mehr geben würde, dass die Wellen im Meer verschwinden könnten. Aber dann sag ich mir, dass selbst dann, selbst dann werden die Wolken am Himmel vorbeiziehen, es wird weiterhin schöne Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge geben, der Mond wird weiterhin auf die Erde scheinen, die Sterne werden weiterhin schön glänzen. Es wird vielleicht keinen Mensch mehr geben welcher diese Schönheit betrachten könnte, aber die Schönheit selbst wird bestehen bleiben, und dies finde ich tröstend, Sie nicht?

Nun, ich hab sie wieder zu lange vor mich hergeschoben, diese Steuererklärung. Sie wird wohl warten müssen, bis morgen, oder übermorgen, es hat sowieso keinen Sinn und keine Bedeutung. Die Erde wird sich weiterhin um ihre Achse drehen, das ist ein tröstender Gedanke, sehr sogar…

(ENDE)

Note: Steuererklärung ausfüllen ist eine gefährliche Sache…

Note: Dank an Evelin Cecchetto für die Verbesserungsvorschläge…

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𝓥𝓲𝓿𝓮 𝓵𝓮 𝓒𝓱𝓪𝓻𝓶𝓮 (𝓥𝓲𝓿𝓮𝓴)

𝓢𝓵𝓪𝓶𝓹𝓸𝓮𝓽 𝓾𝓷𝓭 𝓢ä𝓷𝓰𝓮𝓻 𝓪𝓾𝓼 𝓞𝓵𝓽𝓮𝓷, 𝓪𝓾𝓯 𝓭𝓮𝓻 𝓢𝓾𝓬𝓱𝓮 𝓷𝓪𝓬𝓱 𝓭𝓮𝓶 (𝓤𝓷)𝓼𝓲𝓷𝓷 𝓭𝓮𝓼 𝓛𝓮𝓫𝓮𝓷𝓼..