“Carmen” in Kassel: „Femme révoltée“

Berthold Seliger
6 min readApr 2, 2024

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Zu einer Aufführung am Staatstheater Kassel

Wir sitzen inmitten schwer schuftender Arbeiterinnen in einer Zigarettenfabrik. Alle in Blau“männern“ gekleidet, die wir ebenfalls anziehen mussten, so wie die obligatorischen Haarnetze. Beim Eintritt in die Fabrik — an der Wand hängt ein an die RAF-Zeit erinnerndes Fahndungsplakat „Anarchistische Gewalttäter“ — haben wir uns zum „Verfassungsdienst“ verpflichtet. Um unsere Mission zu beginnen, haben wir eine SMS mit dem Inhalt „Start Carmen“ an die Verfassungsdienststelle geschickt, die unsere Anstellung bestätigt: „Sie sind jetzt offiziell als inoffizieller Mitarbeiter des Verfassungsdienstes angemeldet. Verhalten Sie sich unauffällig. Infiltrieren Sie die Zigarettenfabrik.“

Mitglieder des Opern- und des Extrachors, Statisterie, © Sebastian Hannak

Die Arbeiterinnen schuften schwer, ihre Arbeit ist monoton, sie arbeiten unter der strengen Aufsicht von Wachen, einer Art Staatspolizei. Dennoch gelingt es ihnen, die Zigaretten der Marke „Bohemiens Blondes“, die sie produzieren, auch selbst zu rauchen; auf jeder Packung prangt das Bild eines Stiers, daneben steht „Liberté toujours“, so zynisch funktioniert Kapitalismus. Sie träumen, wie der Dramaturg Kornelius Paede im lesenswerten Programmheft betont, von einem freien Leben, einem berauschenden utopischen Ideal abseits bürgerlicher Arbeitsethik, Staatsgewalt und Moral — und natürlich jenseits von Ausbeutung in der industriellen Gesellschaft: „Et surtout la chose enivrante. La liberté!“ („Und vor allem das Berauschende: Freiheit!“).

Auftritt die Anführerin der Arbeiterinnen, eine gewisse Carmen. Sie ist eine sogenannte Gitana (also Teil der iberischen, insbesondere südspanischen Roma) und als solche sowohl stigmatisiert als auch gleichzeitig von allen Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft befreit. Es ist ihr ein Leichtes, die Arbeiterinnen (und uns Zuschauer:innen) für den Aufstand zu begeistern — und, Boys and Girls, welch äußerst vergnügliche Rebellion ist das! Zündende Musik, Wildheit, Party, Anarchie — Widerstand macht eben nicht zuletzt auch verdammt viel Spaß… Wir Verfassungsdienstleister sind längst zu den Arbeiterinnen übergelaufen, die sympathischen Anarchistinnen haben uns betört.

Ilseyar Khayrullova (Carmen), © Katrin Ribbe

Wir befinden uns inmitten der Aufführung von Bizets Oper „Carmen“ im Staatstheater Kassel. Ein Teil des Publikums ist in der von Sebastian Hannak konzipierten genialen Raumbühne „Antipolis“ zusammen mit den Sängerinnen des famosen Opern- und Extrachors, die die Arbeiterinnen spielen, auf der Bühne untergebracht und wird immer wieder in das Spiel einbezogen. Ich bin wahrlich kein Fan des Mitmachtheaters — noch heute denke ich mit leichtem Erschauern daran, wie einer neben mir in der ersten Reihe sitzenden Freundin in den 1970er Jahren bei Taboris Münchner „Shylock“ ein bluttriefendes Rinderherz in die Hand gedrückt wurde. Aber zugegeben: hier macht es ausgesprochen Spaß, die Akteurinnen mit ihrer ungeheuren Spielfreude aus größter Nähe betrachten zu können, und ja, wir haben sogar nach vehementer Aufforderung mit den Arbeiterinnen auf der Bühne getanzt. Es war ein rauschendes Fest, eine wilde Feier der politischen Bohème, bei der Carmen mit ihren Gefährt:innen Frasquita, Mercèdès (eine faszinierende Erscheinung, der man sofort in den Untergrund folgen will: Daniela Vega!), Dancaïro und Remendado Umsturzpläne schmiedet. Und als wir dann wieder an unseren Tischen in der zur Taverne mutierten Fabrik saßen, öffneten die Arbeiterinnen eine Flasche Sekt, die sie mit uns teilten, und es gab Gebäck und Süßigkeiten. Das süße Leben der Bohéme…

Der Intendant des Kasseler Staatstheaters, Florian Lutz, dessen mit dem Theaterpreis „Faust“ als „beste Musiktheater-Inszenierung des Jahres 2021“ ausgezeichnete „Wozzeck“-Inszenierung immer noch nachhallt, hat Bizets Oper nicht künstlich modernisiert, sondern einfach genau gelesen. Für einmal wird diese Carmen nicht als zur Femme fatale degradierte exotische Männerfantasie interpretiert, sondern als selbstbewusste Rebellin, die sich ihr Freiheitsrecht nicht nehmen lässt und gegen bürgerliche Normen agiert und agitiert. Und die dennoch voller Widersprüche ist — wie für viele ihrer Mitstreiterinnen ist auch für sie Liebe nur wenig mehr als „fumée“, also heiße Luft; „L’amour est un oiseau rebelle“, sie ist wie ein wilder Vogel. Dennoch ist Carmen eine radikal Liebende, allerdings ohne ihr Selbstbewusstsein zu verlieren. Sie findet den gefeierten Star Escamillo ganz okay, der von Lutz nicht als Torrero, sondern als Fußballstar inszeniert wird, dessen „Auf in den Kampf“ zu einem herrlichen Höhepunkt des Abends wird: Eine vom wunderbaren Filippo Bettoschi satt ausgespielte Persiflage voller Ironie. Dieser Escamillo ist ein munterer Allesmitmacher, der die Liebe ebenso leichtnimmt wie den kapitalistischen Realismus; er hat goldene Fußballschuhe an, sein Trikot trägt das Sponsorenlogo der Zigarettenfabrik, und bereits während der Ouvertüre konnte man ihn in einem Video-Werbespot für die Zigarettenmarke „Bohemiens Blondes“ sehen, „für den Stier in dir“…

Ilseyar Khayrullova (Carmen) und Filippo Bettoschi (Escamillo), © Katrin Ribbe

Im Gegensatz dazu der Polizist Don José, der Carmen beim Aufstand in der Fabrik festnimmt, ihr aber sofort verfällt und sie kurzerhand entkommen lässt. Dieser von Aldo di Toro in seiner Zwiespältigkeit als letztlich unglücklich Liebender und als in seiner bürgerlichen Rolle Gescheiterter großartig dargestellte Don José ist, neben Carmen, vielleicht die eigentliche tragische Figur dieser Aufführung. Er ist fasziniert von der freiheitsliebenden Bohème und natürlich von Carmen, will aber eigentlich als angepasster Spießer leben. Doch nachdem er seinen Vorgesetzten angegriffen hat, der sich Carmen näherte, ist ihm das bürgerliche Leben verwehrt, und er schließt sich der Gruppe um Carmen an.

Aldo di Toro (Don José) und Ilseyar Khayrullova (Carmen), © Anna Kolata

Nach der Pause erleben wir die Zähigkeit des Rebellenlebens in deren Unterschlupf. Aus den ob ihrer Freiheitsliebe faszinierenden Rebellinnen der ersten beiden Akte ist eine maue Bande geworden, die im Warten auf ihren nächsten Coup dem Lagerkoller verfällt. Die energiegeladenen Aufrührerinnen sind zu gequälten Baader-Meinhof-Verschnitten mutiert, die anarchistischen Aktionen sind zum Selbstzweck verkommen. An der geplanten nächsten Aktion will Carmen nicht einmal teilnehmen, sie zieht der Rebellion ein Date vor und versucht, die dämmernde Beziehung mit dem zunehmend unberechenbar gewordenen Don José, den sie andrerseits immer wieder gedemütigt hat, zu beenden. Stillstand, der zur Gefahr für Carmen zu werden droht; ihre Freundinnen Mercédès und Frasquita versuchen, sie im Kartenlegerinnen-Terzett im dritten Akt zu warnen, doch sie singen laut Adorno nicht etwa „wie Nornen, sondern nach Vaudeville-Weise“, sie „tirilieren seelenlos“, das Lesen der Zukunft in den Karten macht so aus der Anrufung des Schicksals „die ins Absolute verzauberte Verdinglichung“. Carmen reagiert mit Fatalismus, sie nimmt ihren Tod und den Don Josés scheinbar widerstandslos hin. Man könne die Karten noch zwanzigmal neu legen, die Todeskarte werde immer wiederkehren: „Du wirst sterben!“

Doch Carmens Fatalismus ist letztlich Mittel ihrer Selbstwerdung, sie bleibt eine durch und durch emanzipierte Frau und verweigert die vorgeschriebene, klassische Opferrolle. Carmen ist in Bizets Oper und erst recht in der Kasseler Inszenierung eine „Femme révoltée“. Sie maßt sich offen das bis dato nur den Männern zustehende Privileg der Partnerwahl an und bleibt eine Figur des Widerstands, beharrt auf dem weiblichen Autonomieanspruch.

von links: Marie-Dominique Ryckmanns (Frasquita), Cozmin Sime (Dancairo), Johannes Strauß ((Remendado), Ilseyar Khayrullova (Carmen), Daniela Vega (Mercédes) © Katrin Ribbe

Das macht Bizets Carmen bis heute zu einem Politikum. „Carmens Fatalismus nimmt der Oper jene tröstliche und sublimierte Sinnvorgabe, die sich in keinem anderen Kunstgenre der bürgerlichen Hochkultur so ungeniert ausbreitet wie im Musikdrama“, hat Ulrich Schreiber angemerkt. Und dazu gehört die grandiose Musik: „Diese Musik ist böse, raffiniert, fatalistisch; sie bleibt dabei populär“, wusste schon Nietzsche. Trällern und Tiefgang, sozusagen, die Basis für Carmens berührenden und gleichzeitig immer wieder elektrisierenden Gesang, der laut Adorno antikische Größe zeigt. Die wunderbare Ilseyar Khayrullova gibt der Carmen just diese Tiefe. Natürlich geraten ihr Opernhits wie die „Habanera“ fulminant, aber wirklich brillant wird ihre Rollengestaltung durch die Darstellung des widersprüchlichen Charakters der Heldin. Ihre Carmen ist keine folkloristisch getönte, verführerische „Frau im roten Kleid“ aus dem Katalog dumpfer Männerfantasien, sondern eine so verzweifelt wie mitunter leichthin Liebende und Kämpfende, in dunkler Cargohose, weißem Top und mit schwarzen Boots faszinierender als jedes altbackene „Zigeunerinnen“-Klischee in anderen Versionen.

Die Kasseler Inszenierung endet jedoch nicht mit dem Mord der Titelfigur. Der kraftlos gewordene Don José lässt sie überleben und geht wie nebenbei mit der Heldin seitlich von der Bühne ab. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass es doch irgendwie weitergehen könnte für Carmen, aber auch für uns Zusehende mit der Möglichkeit, ein anderes Leben zu leben, eine gesellschaftliche Utopie voranzutreiben.

Alle, die moderne, intellektuell herausfordernde, spannende Operninszenierungen erleben möchten, sollten nach Kassel ans dortige Staatstheater pilgern. Sie werden mit einigen äußerst anregenden und vergnüglichen Stunden belohnt.

Weitere Aufführungen am 6., 13. und 21. April sowie am 19. und 31. Mai 2024.

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Berthold Seliger

Publicist, writer, concert agent. Books: “Das Geschäft mit der Musik” (2013), “Klassikkampf” (2017), “Vom Imperiengeschäft” (2019). www.bseliger.de