Faszinierende Sonatenkunst — ganz ohne Beethoven & Co.

Berthold Seliger
8 min readApr 29, 2024

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Zum Klavierabend von Tamara Stefanovich im Pierre Boulez Saal

© JakobTillmann

„Klaviersonate“ — dieser Begriff ist heute mit den großen Werken von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert oder Chopin verbunden und wird automatisch mit der Verwendung der in der Wiener Klassik entwickelten Sonatenform gleichgesetzt. Doch ursprünglich bezeichnete „Sonate“ einfach ein Instrumentalstück, ein „Klangstück“ (ital. sonare: klingen), im Gegensatz zur älteren „Kantate“ (ital. cantare: singen). Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts führte die Instrumentalmusik ein untergeordnetes Dasein und galt eher als hausmusikalisches Vergnügen. In J. G. Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste aus dem 18. Jahrhundert heißt es: „In die letzte Stelle setzen wir die Anwendung der Musik auf Concerte, die blos zum Zeitvertreib und etwa zur Übung im Spielen angestellt werden.“ Und: „…die Sonaten, die Solo, die insgemein ein lebhaftes und nicht unangenehmes Geräusch, oder ein artiges und unterhaltendes, aber das Herz nicht beschäftigendes Geschwätz vorstellen.“

Ein lebhaftes und nicht unangenehmes Geräusch, eine Art frühe Muzak also? Ein artiges und unterhaltsames, aber das Herz nicht weiter beschäftigendes Geschwätz gar?

Tamara Stefanovich bewies mit ihrem Klavierabend im Pierre Boulez Saal das Gegenteil. In ihrem so klug wie wagemutig zusammengestellten Programm spielte sie sechs Klaviersonaten, für einmal ganz ohne die Hauptwerke der Klassik und Romantik. Aber welch eine Tour de Force durch einen vernachlässigten Sonaten-Kosmos konnte das gebannte Publikum hier erleben! Und wie sehr wurden unsere Herzen nicht nur „beschäftigt“, sondern aufs Intensivste bewegt!

Die Sonate g-moll Wq 65.17 von Carl Philipp Emanuel Bach führte gleich mitten ins Zentrum des Geschehens. Mit aberwitzigen Läufen, die an sein berühmtes „Solfegietto“ erinnern, das viele aus ihrem Klavierunterricht kennen dürften, beginnt das Stück — hier aber mit beiden Händen fingerbrecherisch parallel. Meike Pfister bezeichnet das Stück in ihrem lesenswerten Aufsatz zum Programm (schade, dass das beim Boulez Saal aktuell nur noch online stattfindet) als „eine mit allerhand rhetorischen Stilmitteln gespickte Rede“ und trifft damit den Kern. „Seufzer und Ausrufe, offene, dem Fragegestus nachempfundene Schlusswendungen oder planvolle Verwirrungen etwa durch unerwartete harmonische Wendungen“, der Bach-Sohn und Cembalist Friedrichs des Großen breitet ein Füllhorn unterschiedlichster Empfindungen vor uns aus. Symptomatisch für die Zeit der Empfindsamkeit (und kein Wunder, dass es Klopstock war, der die Grabinschrift C. P. E. Bachs formulierte: „War groß in der vom Wort geleiteten, noch größer in der kühnen sprachlosen Musik“), von der wir heute gerne behaupten, sie liege irgendwie zwischen Barock und Klassik — aber die Komponisten und Dichter ihrer Zeit empfanden sich natürlich als alles andere denn als „dazwischen“. Nicht zwischen (Johann Sebastian) Bach und Haydn waren sie, sondern: Erneuerer, die mit Leidenschaft die Musik in eine andere Richtung voranbrachten, die die überkommenen barocken Geschmacksregeln über Bord warfen und allen noch so widersprüchlichen Leidenschaften Raum gaben.

Tamara Stefanovich spielt Bachs Sonate mit Leidenschaft und mit moderner Ausdruckskraft, sie lässt der Musik Luft zum Atmen, genießt die Pausen, die immer wieder nach Bachs Fragen auftauchen, ebenso wie die angedeutete Dur-Seligkeit im Adagio. Auch in den folgenden kleinen einsätzigen, aber zweiteiligen Sonaten von Domenico Scarlatti und Antonio Soler erleben wir viel Rhetorik bei präziser Klarheit, aber erneut viele Fragen. Bei der Scarlatti-Sonate in g-moll hat man das Gefühl, einem Abschiedsritual beizuwohnen, bei dem zwei Freunde nicht voneinander lassen können und sich immer noch einmal die Hände schütteln wollen. Tolle Musik.

Stefanovich macht keine Pausen zwischen den Sonaten, sondern lässt sie fast ineinander übergehen. So stellt sie Zusammenhänge her, die sich sonst eher nicht aufdrängen würden. Es kommt zum ersten von drei wirklichen Brocken der Klavierliteratur an diesem Abend: Hanns Eislers Sonate Nr. 1 op. 1 aus dem Jahr 1923, „Arnold Schönberg in grösster Verehrung gewidmet“. Mit dieser Sonate gab Eisler einen erfolgreichen und vielbeachteten Einstand als Komponist. Bei Christoph Keller lesen wir: „Der Einfluss Schönbergs in handwerklicher und ästhetischer Hinsicht ist unverkennbar und geht so weit, dass die Charakterisierung Schönbergs, die Eisler 1924 im Aufsatz ‚Arnold Schönberg, der musikalische Reaktionär‘ gibt, auch ganz gut auf sein eigenes opus 1 passt.“

Aus Hanns Eisler, Sonate für Klavier op. 1, © 1924 by Universal Edition

Eislers Sonate ist in der neuen Zwölftontechnik komponiert, gleichwohl verwendet er sowohl beim 1. als auch beim 3. Satz klassische Sonatensatzformen, bei denen die Exposition wiederholt wird, während der 2. Satz eine Passacaglia in A-B-A-Form ist. Dieser Satz allerdings hat auch Züge eines Zwölfton-Ragtimes mit seinen stampfenden Bass-Oktaven, unterbrochen von einem geradezu zärtlichen, „sehr zurückhaltend“ überschriebenen Einwurf, in dem eine Bassharmonie hervortritt und von komplizierten Triolenbewegungen der rechten Hand begleitet wird. Die Pianistin lässt diese Stelle aufblühen, ehe scherzhafte Sechzehntel-Staccato-Folgen den Eindruck verwischen. Am Ende der Sonate drei tiefe Staccati: fes, es, es, in vierfachem Pianissimo.

Eislers Sonate enthält „ein expressives Klima, das durch ungefilterte Direktheit des Ausdrucks bestimmt ist“, und sie „zielt mit ihren heftigen Ausbrüchen auf ein einfühlendes Hören, wobei unbestimmt bleiben muss, was die Heftigkeit meint“, erklärt Keller. Eisler distanzierte sich in einem Brief an Schönberg von 1926 von seinem ganzen bisherigen Schaffen, also auch von dieser Sonate, mit den Worten: „Mich langweilt moderne Musik, sie interessiert mich nicht, manches hasse und verachte ich sogar. Ich will tatsächlich mit der ‘Moderne’ nichts zu tun haben. Auch meine eigenen Arbeiten der letzten Jahre muss ich leider dazu rechnen.” Eisler ging davon aus, „dass die moderne Musik ebenso in den letzten Zügen liege wie die bürgerliche Gesellschaft und dass die Isolation der zeitgenössischen Musik nur durchbrochen werden könne, indem diese sich am Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschaft beteilige“ (Keller). Für wen seine Musik gedacht sei, beschäftigte den Komponisten ein Leben lang: „Ich frug mich als junger Komponist 1922: Für wen mache ich Musik? Nun, das machte mir große Schwierigkeiten, die bis heute nicht aufgehört haben.“

Wie auch immer — wir können froh sein, dass diese Sonate existiert, sie ist ein hervorragendes Werk, es ist gut, dass sie gespielt wird, und man kann ihr (und uns) nur viele weitere Aufführungen wünschen, im Idealfall so kompetent und engagiert interpretiert wie von Tamara Stefanovich.

© Jakob Tillmann

Nach einem kleinen Scarlatti-Ausflug schließt der erste Teil ihres Klavierabends mit Béla Bartóks Klaviersonate Sz 80 aus dem Jahr 1926. Auch hier erleben wir wieder eine dreisätzige Sonatenform, mit zwei schnellen Sätzen als Rahmen und einem langsamen Mittelsatz. Der 1. Satz beginnt „Allegro barbaro“-artig mit gegen den Rhythmus gesetzten Akzenten, die sich zu Sforzati auswachsen und eine Wildheit voller Dynamik und Dramatik inszenieren. Von Tamara Stefanovich wird dieses Rattern, diese Wildheit extrem prononciert dargeboten, von einer Radikalität, wie man es im Konzertsaal nur selten erlebt, alles drängt nach vorne, man möchte sich am liebsten mitbewegen in dem Tosen des rhythmischen Durcheinanders. Die Akkorde werden immer schriller — bis plötzlich ein Glissando aufwärts und ein Bassakkord den Satz fast wie aus dem Nichts beenden.

Der 2. Satz mit Bartók-typischer, dissonant geprägter Melancholie: eine Art Choral, rituelle Nachtgesänge und merkwürdige Sounds. Den nervösen 3. Satz geht Stefanovich in einem geradezu irrwitzigen Tempo an, das sie, große Virtuosin, die sie ist, natürlich bis zum Ende durchhält. Durch die Geschwindigkeit werden all die dissonanten Akkorde, die mal im Diskant, mal im Bass eingeworfen werden, die ständigen Taktwechsel — zwischen 2/4, 3/8, mal eben 5/8, dann 6/8 und wieder vor und zurück — und die rumänisch grundierten Klänge zu einer faszinierenden Hetzjagd, die sich voller Dramatik in mit lauter Sekund-Abständen gefüllten Akkorden entlädt. Atemberaubend, diese Sonate wie auch ihre Interpretin.

Was den meisten Pianist:innen für einen ganzen Klavierabend reichen würde, ist für Tamara Stefanovich, die Wahnsinnige, gerade einmal der erste Teil, dem sie nach der Pause ein wahres Monster der Klavierliteratur hinzufügt: Die etwa vierzig Minuten dauernde Klaviersonate Nr. 1 von Charles Ives, dessen Geburtstag sich dieses Jahr zum 150. Mal jährt. Ein scheinbar ungezielt vor sich hin mäanderndes Werk fernab aller historisch Vorbilder, in dem Ives das Leben in Dörfern Connecticuts während des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufleben lässt. Ives ließ sich von der Vision leiten, dass jeder Mensch müßig herumsitzt und seine eigenen Epen und Sinfonien, also seine eigene akustische Umwelt hat. Ives träumte davon, „dass jeder Mensch bei der Kartoffelernte von eigenen Epen, eigenen Sinfonien (oder Opern, wenn ihm der Sinn danach steht) inspiriert wird; und wie er eines Abends hemdsärmelig und pfeiferauchend im Hinterhof sitzt und seinen tapferen Kindern zuschaut, wie sie sich daran ergötzen, ihre eigenen Themen für ihre eigenen Sonaten ihres eigenen Lebens zu erfinden, so wird er seinen Blick über die Berge schweifen lassen und in ihrer Realität seine Visionen wiederfinden“ (so Ives 1922 im „Nachwort zu den 114 Liedern“).

© Jakob Tillmann

Ives war ein erfolgreicher New Yorker Versicherungskaufmann (ein anderer bedeutender Jubilar dieses Jahres arbeitete bekanntlich auch in einem Versicherungsunternehmen — Zufall?), der die wirtschaftliche Unabhängigkeit, die sich aus seiner beruflichen Tätigkeit ergab, für seine Kompositionsarbeit an freien Abenden und Wochenenden nutzte, die er ohne Rücksicht auf die musikalischen oder die aufführungspraktischen Konventionen seiner Zeit umsetzte. So wurde er ein radikaler Neuerer, der sich kreativ und undogmatisch mit Tonalität und Atonalität auseinandersetzte — und eben „eigene Themen“ für die „eigenen Sonaten seines eigenen Lebens“ erfand.

Ives kann als musikalischer Repräsentant des amerikanischen Transzendentalismus bezeichnet werden, also der Strömung, in der Henry Thoreau („Ungehorsam als Bürgerpflicht“), Ralph Waldo Emerson oder die Alcotts die Hingabe an die Natur mit der natürlichen Unabhängigkeit der Menschen zu einer in gewissem Sinn romantischen und auf jeden Fall idealistischen Bewegung verknüpften, die wesentliche Grundlagen für die Sklavenbefreiung und das Entstehen der Frauen- und der Naturschutzbewegung in den USA schuf.

Ives zeichnet in seinem fünfsätzigen Werk das Bild „vom Leben im Freien“, in dem „eine gewisse Traurigkeit in der Luft lag“. Aber dann gab es auch wilde „Scheunen-Tanzabende“ und viele Gesänge, die gerne im „Gefühl spiritueller Inbrunst“ vorgetragen wurden — man denke an die Sacred Hymns oder auch an die Songs, die Jonny Cash aus „My Mother’s Hymn Book“ vorgetragen hat. Ives führt uns in das Landleben seiner Kindheit zurück, wir hören die örtlichen Marching Bands, das Gefidel und Gepfeife auf dem dörflichen Tanzboden, aber auch die Geräusche des ländlichen Daseins und der Natur — darin dem Sampling, das Gustav Mahler bei vielen seiner Sinfonien anwandte, durchaus verwandt. Die verschiedensten Klänge stehen neben-, über- und untereinander. Ives 1. Klaviersonate, entstanden um 1915 bis 1921, ist wie ein großes Haus, in dem allerlei passiert, und vieles davon gleichzeitig. Doch daneben gibt es, so sieht es Tamara Stefanovich in einer kurzen Einführung zu dieser Sonate, auch einige Gästehäuser auf dem Gelände, die Zuhörer:innen können sich in all den Gebäuden und im Garten tummeln, an den musikalischen Inspirationen erfreuen, an den Ragtimes, die immer wieder am Horizont aufscheinen, an der wilden Chromatik und den atonalen Ausbrüchen oder an den hymnischen Gesängen. Und selbst die Melancholie dieser Musik scheint voller Hoffnung. Ives Ideale schöpfen aus einer naturverliebten Gelassenheit, seine Musik ist voller Optimismus und genialem Elan, mal wild, mal verworren, in Summe aber glücklich machend.

Was alles in einem Jahrzehnt, von 1915 (Ives) über 1923 (Eisler) bis 1926 (Bartók) musikalisch geschehen konnte; welch ein intellektueller und sinnlicher Reichtum! Tamara Stefanovich hat mit ihrem spektakulären Klavierabend ein brillantes Plädoyer für die musikalische Vielfalt gehalten und nicht zuletzt für außergewöhnliche Werke, die viel zu selten auf den Programmen der Konzerthäuser stehen.

(Werke von Charles Ives stehen auch auf dem Programm des Musikfest Berlin im August und September 2024; neben etlichen symphonischen Werken werden Georg Nigl und Anna Prohaska in zwei Konzerten Lieder aus der Sammlung „114 Songs“ vorstellen und Pierre-Laurent Aimard die 2. Klaviersonate „Concord“ interpretieren.)

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Berthold Seliger

Publicist, writer, concert agent. Books: “Das Geschäft mit der Musik” (2013), “Klassikkampf” (2017), “Vom Imperiengeschäft” (2019). www.bseliger.de