“Woher weißt du, dass die Leute wirklich arbeiten, wenn sie zu Hause sitzen?”
Das Coronavirus zwingt viele Firmen zu großen Umstellungen. Zahlreiche Unternehmen haben ihre Mitarbeitenden aufgrund der Pandemie ins Home Office geschickt. Mittlerweile sitzen Tausende zu Hause im Arbeits- oder Wohnzimmer. Für den Minimalschuh-Hersteller Wildling Shoes nichts Neues. Hier arbeiten 100 der 135 Mitarbeitenden tagtäglich remote und über ganz Deutschland verteilt. Das nachhaltige Unternehmen ist komplett dezentral und digital organisiert, die Arbeitskultur ist seit der Gründung darauf ausgerichtet. Gründerin Anna Yona möchte ihre Erfahrung aus fünf Jahren Remote-Teamführung mit anderen Unternehmern und deren Teams teilen. Wie hält man ein dezentrales Team zusammen? Welche Tools sind hilfreich? Wie organisiert man den Arbeitsalltag zu Hause?
“Woher weißt du, dass die Leute wirklich arbeiten, wenn sie zu Hause sitzen?” Das ist eine der häufigsten Fragen, die mir gestellt werden, wenn ich unser Arbeitsmodell erkläre. Und an dieser einen Frage lässt sich alles ablesen, was an vielen Stellen in unserer Arbeitswelt falsch läuft — Präsenzkultur, Kontrolle, Misstrauen. Dabei braucht es genau das Gegenteil für intrinsische Motivation. Menschen arbeiten dann gerne, wenn sie selbstbestimmt handeln, sich entsprechend ihrer Stärken weiterentwickeln können und einen Sinn in ihrer Arbeit sehen. Diese Grundeinstellung ist wichtig für jede Form der Zusammenarbeit und absolute Voraussetzung für ein funktionierendes Remote-Team.
Folgende Tipps aus der Praxis haben bei Wildling sehr gut funktioniert. Nicht alles lässt sich von heute auf morgen umsetzen, aber hoffentlich können unsere Erfahrungen gute Impulse geben.
Vision, Werte und gemeinsame Ziele
Im Kern steht für uns immer die Frage nach dem “Warum”. Warum gibt es Wildling, was wollen wir — auch als Team — erreichen? Antwort darauf gibt unsere Unternehmensvision, die wir gemeinsam mit dem Team definiert haben — wir wollen Menschen bewegen, durch bessere Schuhe, aber auch durch unser Engagement für Nachhaltigkeit, Fairness und Innovation.
Diese Vision ist unser Nordstern, nach welchem sich das komplette Unternehmen ausrichtet, sie sorgt dafür, dass wir als Team in die gleiche Richtung laufen.
Die Werte des Unternehmens haben wir ebenfalls mit dem Team gemeinsam definiert, sie sind die Leitplanken für unsere tägliche Arbeit und helfen uns in komplexen Situationen die richtigen Entscheidungen zu treffen. Klarheit, Struktur und Alignment schaffen wir durch eine Managementmethode nach OKRs (Objectives and Key Results). Diese Methode aus den USA findet auch in Deutschland immer mehr Anhänger und funktioniert in kleinen wie großen Teams. Das Unternehmen formuliert seine Vision, einen langfristigen Plan (Mission) sowie eine mittelfristige Strategie (1–2 Jahre). Entlang dieser Strategie werden pro Quartal fünf qualitative Unternehmensziele definiert (Objectives), die einen klaren Mehrwert formulieren. Vier Erfolgstreiber (Key Results) definieren den messbaren Erfolg jedes Ziels. Die Unternehmensziele lassen sich dann auf einzelne Bereiche und Mitarbeitende herunterbrechen, so dass das komplette Team für die Dauer des nächsten Quartals an einem Strang zieht. Jede*r formuliert die eigenen Ziele, so dass man hier individuelle Schwerpunkte legen kann.
Durch die OKR-Struktur wird für alle Mitarbeitenden Transparenz geschaffen — wo will das Unternehmen hin und warum? Es wird ein Mitspracherecht eingeräumt und ein Commitment zu den gemeinsamen Zielen eingeholt. Dadurch entsteht eine ergebnisorientierte Führung und ein sehr klarer Rahmen, innerhalb dessen größtmögliche Freiheit und Flexibilität gegeben sind. Gleichzeitig schaffen Transparenz, Mitsprache und die Formulierung von qualitativen Zielen den Nährboden für Motivation.
Tools und Kommunikation
Auch bei den Tools gilt — Klarheit und Struktur sind immer wichtig, aber in der dezentralen Zusammenarbeit noch wichtiger. Wir nutzen einige wenige Tools und diese sehr konsequent.
Asana, ein mächtiges Projektmanagement-Tool, fungiert als unser virtuelles Büro. Hier werden die OKRs festgehalten, Aufgaben zugeteilt und Inhalte abgestimmt. Es gibt unterschiedliche Ansichten (Boards für einen Kanban-Workflow, Gantt-Diagramme oder Listen) sowie unterschiedliche Bereiche, in denen Arbeitsgruppen, Teams oder auch das ganze Unternehmen kommunizieren und kommentieren können.
Das G Suite Angebot nutzen wir als Ablage und für die Zusammenarbeit an Dokumenten, Tabellen und Präsentationen (Drive), für unsere Email-Kommunikation (in erster Linie extern) und zur Abstimmung von Terminen (Google-Kalender).
Slack ist unser Kanal für die ad hoc Kommunikation. Das Tool funktioniert ähnlich wie Whatsapp, bietet aber mehr Einstellungsmöglichkeiten für den Arbeitsalltag und gilt als datensicher. Der lockere Austausch hilft über die virtuelle Distanz Nähe aufzubauen. Außerdem ist man so — auf dem Desktop oder am Handy — auf dem kurzen Weg erreichbar.
Unsere Meetings finden per Google Meet statt. Das funktioniert mit zwei Teilnehmer*innen genau so gut wie mit dem gesamten Team. Ob die Kamera an bleibt, ist jedem selbst überlassen. Bei einer großen Gruppe stellen alle, die gerade nichts sagen, ihr Mikrofon auf stumm.
HomeOffice — ständig erreichbar und trotzdem einsam?
Im HomeOffice verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem sehr schnell. Das hat Vorteile, weil es eine größere Flexibilität mit sich bringt, hat aber auch Nachteile, wenn die Schwierigkeit sich abzugrenzen zur Überforderung führt. Daher ist es wichtig, Zeiten zu schaffen, in denen man ungestört ist. Bei uns gilt — wenn etwas super dringend ist, greifen wir zum Telefonhörer (aber auch nur dann). Alles andere kann warten, bis man online ist. Mails und die Asana-Inbox sollte man täglich einmal durchgehen, bei Slack eher 2–3 Mal am Tag nachschauen, ob es wichtige Nachrichten gibt. Termine werden über den Google-Kalender vereinbart und pünktlich eingehalten. Wer im Urlaub oder krank ist, stellt seinen Status auf Asana und Slack entsprechend ein, sodass Kolleg*innen Bescheid wissen. Wer sich trotz Urlaub-Icon bei Slack meldet, wird von allen zurück in die Auszeit geschickt. Da in der virtuellen Kommunikation schneller Missverständnisse entstehen können, haben wir die Regel, dass man zwei Mal nachfragen muss, wie etwas gemeint war, bevor man sich darüber ärgern darf.
Auch für den Arbeitsfluss ist es störend, wenn zwischendurch immer wieder Nachrichten hereinkommen, das Telefon summt oder ein virtueller Chat Ablenkung verspricht. Jede Unterbrechung reißt einen aus dem Flow, stört die Effizienz und schafft ein Gefühl der Zerissenheit.
Um “Deep Work” möglich zu machen, ist es deshalb notwendig, sich “Arbeitsinseln” und dazugehörige Pausen zu schaffen.
Wer am Stück konzentriert und fokussiert arbeiten möchte, muss sich die Ruhe dazu verschaffen können, ohne von Terminen, Meetings und Nachrichten unterbrochen zu werden. Hilfreich ist, wenn man sich einen Tag in der Woche fest für Meetings und Gespräche freihält und diese dann alle dorthin legt. Andersherum sollte man sich auch klare Zeiten für Projekte freischaufeln, die viel Konzentration und Ruhe benötigen, und diese im Kalender als “belegt” markieren. In solchen konzentrierten Arbeitsphasen sollten dann alle Kommunikationskanäle konsequent ausgeschaltet werden.
Um im dezentralen Team den Zusammenhalt zu stärken und das Gefühl der Gemeinschaft aufrecht zu erhalten, bieten sich virtuelle Coffee Calls oder Mittagessen an — mit befreundeten oder noch unbekannten Kolleg*innen, zu zweit oder auch in kleiner Gruppe. Townhall-Meetings mit dem gesamten Team haben sich als gute Alternative für unsere regelmäßigen persönlichen Treffen erwiesen — hier sind dann alle stumm gestellt und stellen Fragen per Chat, damit es nicht zu wild wird. Unsere wöchentlichen Teammeetings starten wir mit einer Runde Good News und Fuck-ups — so bekommt man schnell die Grundstimmung mit. Und der Teamchat bei Slack ersetzt den Kaffeeautomaten. Wenn man hier gemeinsam über einen lustigen Kommentar oder ein witziges Foto lacht, fühlt sich niemand allein. Jede*r kann mitlesen und niemand bleibt außen vor — da ist ein virtueller Chat viel einbeziehender als der gewöhnliche Flurfunk.
Auch eine große Chance
Wir alle erleben gerade schwierige und ungewisse Zeiten. Trotzdem hoffe ich sehr darauf, dass aus einer Krise auch immer Chancen entstehen. Aus der erzwungenen Distanz können sich jetzt Möglichkeiten ergeben, dezentrale Arbeitsweisen auszuprobieren und festzustellen, dass darin auch viele Vorteile liegen. Vielleicht gelingt uns eine Neudefinition von Arbeit, die zukünftig mehr auf Selbständigkeit, Flexibilität und Vertrauen basiert.
Ressourcen:
Intrinsische Motivation:
https://www.ted.com/talks/dan_pink_the_puzzle_of_motivation
OKR Managementmethode:
John Doerr, OKR: Objectives & Key Results: Wie Sie Ziele, auf die es wirklich ankommt, entwickeln, messen und umsetzen
http://www.vahlen.de/productview.aspx?product=24058586
Deep Work:
Cal Newport, Konzentriert arbeiten: Regeln für eine Welt voller Ablenkungen
https://www.m-vg.de/redline/shop/article/12503-konzentriert-arbeiten/
Produktivität im Arbeitsalltag:
Paul Graham, Maker’s Schedule, Manager’s Schedule
http://www.paulgraham.com/makersschedule.html
Über Wildling Shoes
Wildling Shoes möchte einen Teil dazu beitragen, den Menschen wieder in direkteren Kontakt mit der Umwelt zu bringen und dadurch Anreize für einen aktiven Lebensstil bieten. Durch die dünne, flexible Sohle nachhaltiger und fair produzierter Minimalschuhe wird jeder Schritt zu einer Sinneserfahrung. Im Gegensatz zu konventionellen Schuhen ermöglicht das Minimalschuh-Konzept einen natürlichen Gang und gibt jedem damit die Freude an der Bewegung zurück. Dabei setzt Wildling Shoes auf robuste und langlebige Materialien aus Naturstoffen und beachtet bei der handgefertigten Produktion in Portugal die Einhaltung fairer Arbeitsbedingungen sowie Umweltstandards. Mit zwei Kollektionen pro Jahr und mittlerweile mehr als 135 Mitarbeiter_innen, die fast ausschließlich dezentral organisiert sind, schafft das 2015 gegründete Unternehmen im Kontext von New Work eine Brücke zwischen Familie und Beruf. Weitere Informationen unter: www.wildling.shoes