Schwarze Wissenstraditionen: Die Leerstelle, die keine ist

Yeama M Bangali
4 min readJun 5, 2020

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Beispiele für Schwarze Wissenstraditionen in Deutschland

Der brutale Mord an George Floyd löst einen tiefen Aufschrei auf der ganzen Welt aus. Am Dienstag waren viele Social-Media-Kanäle mit schwarzen Quadraten gefüllt, um sich gegen Rassismus zu positionieren und für einen Moment inne zu halten. Die Tat und was gerade in den USA vor sich geht, was an diesem schrecklichen Tag in Minneapolis passiert ist, kann ich immer noch nicht begreifen. Mir fehlen immer noch die Worte, um meine Gefühle zwischen Wut, Niedergeschlagenheit, Ohnmacht und Verzweiflung zu verbalisieren. Der Hashtag Black Lives Matter lässt uns auf Instagram durch die Augen der vielen Demonstrant:innen und Schwarzen Aktivist:innen sehen und mitverfolgen, wie sich diese Welle an Widerstand gegen ein rassistisches System weiterbewegt. Hier in Deutschland fühlt es sich so an, als hätte dieser massive Aufschrei etwas ins Rollen gebracht. Rassismus in Deutschland wird in den Fokus gerückt, die Social-Media-Kanäle als Instrument für Bildungsarbeit zu antirassistischen Denken und Handeln genutzt. Eine Entwicklung, die ich gut finde und gleichzeitig macht sie mich neugierig. Werden wir auch in 2 Wochen oder in 3 Monaten über die wegignorierte Kolonialgeschichte Deutschlands sprechen? Werden wir Schwarzen Stimmen weiterhin Raum geben, ihre Perspektiven zu teilen und werden sich weiße Menschen weiterhin über Schwarze Geschichte und Rassismus informieren und ihre Allyship laut kundtun? Ich wünsche mir in dieser Bewegung Nachhaltigkeit. Um ein rassistisches System, das über Jahrhunderte aufgebaut worden ist, zu dekonstruieren, braucht es sehr sehr lange. Wir müssen in den Köpfen anfangen und das gelingt uns, wenn wir Schwarze Wissenstraditionen nicht nur sichtbar machen, sondern dieses Wissen in all unseren gesellschaftlichen Institutionen verankern.

Schwarze Wissenstraditionen in Deutschland

Was meine ich mit Wissenstraditionen? Schwarze Geschichte in Deutschland ist so gut wie unsichtbar, in die Geschichtsschreibung nicht eingeschrieben. Da klafft eine ganz große Leerstelle, die eigentlich keine ist, wenn man genauer hinschaut. May Ayim, die politische Aktivistin und afrodeutsche Autorin mit deutsch-ghanaischen Wurzeln, hat sich schon in den 80ern mit der Existenz Schwarzer Menschen in Deutschland befasst und in ihrer Diplomarbeit diese bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgt. Dass um 1700 ein ghanaischer Student an der Universität Halle zum Thema „die Rechte der M***** in Europa“ in Rechtswissenschaft promoviert hat, wissen viele nicht. Und wie viel Einblick die afrodeutsche Literatur, die vorwiegend von Schwarzen Frauen geprägt wurde, in die Schwarze Deutsche Erfahrung bietet, auch nicht. Denn diese Schätze an kulturellem Wissen bleiben für viele verborgen, da sie nur in ganz speziellen Räumen thematisiert werden, oft auch im akademischen oder aktivistischen Kontext. Mir selbst blieb dieser Zugang aber auch lange verwehrt, bis ich mich in meiner Masterarbeit damit intensiv auseinandergesetzt habe. Warum ist es so wichtig dieses Wissen in der breiten Öffentlichkeit und insbesondere in allen Institutionen zu verankern? Weil wir dann zu dem Schritt kommen, rassistische Erfahrungen nicht als singuläre persönliche Erfahrungen wahrzunehmen, sondern als strukturelles Problem in unserer Gesellschaft. Warum ist das Narrativ Schwarzer Geschichte im Schulunterricht entweder durchweg negativ konnotiert oder schlicht weg nicht existent? Die vorkoloniale Geschichte Afrikas spielt im Geschichtsunterricht kaum eine Rolle. Als Schwarze Germanistikstudentin konnte ich über Postkolonialismus, afrodeutsche Literatur oder ähnliche Themen nur im Zusatzcurriculum etwas lernen. Sollten wir diese Themen wirklich in allen Bildungsinstitutionen so ausklammern und uns auf einen vermeintlichen Nationalkanon konzentrieren? Allein den Begriff des Nationalkanons sollte man grundsätzlich hinterfragen, denn das spiegelt nicht unsere gesellschaftliche Realität wider. Wir müssen diese Leerstelle endlich füllen und nicht nur Schwarzen Menschen in Deutschland ihre Geschichte, die existent ist, zurückgeben, sondern auch ein Gespür dafür bekommen, was Rassismus bedeutet. Die Schwarze Erfahrung muss auch in Deutschland endlich ernst genommen werden.

Der erste Schritt: Decolonize the mind

Jetzt ist die Zeit, Schwarze Wissenstraditionen sichtbarer denn je zu machen. Sie im kulturellen Gedächtnis Deutschlands zu verankern, damit wir die Weichen dafür stellen, näher an eine antirassistische Gesellschaft zu kommen. Hier sind ein paar wichtige Werke und Initiativen, die eine Quelle für Schwarze Wissenstraditionen in Deutschland bilden:

Wichtige Werke:

Katharina Oguntoye, May Opitz und Dagmar Schultz (Hrsg.): Farbe Bekennen. Afro-Deutsche Frauen auf den Spuren Ihrer Geschichte, 1986

May Ayim: Grenzenlos und unverschämt, 1997

Patricia Mazón und Reinhild Rochester (Hrsg.): Not so Plain as Black and White. Afro-German Culture and History, 1890–2000, 2005

Noah Show: Deutschland Schwarz Weiss: der alltägliche Rassismus, 2008

Peggy Piesche (Hrsg.): Euer Schweigen schützt euch nicht. Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland, 2013

Theodor Michael: Deutsch Sein und Schwarz Sein. Erinnerungen eines Afro-Deutschen, 2013

Natasha A. Kelly: Afrokultur: “der Raum zwischen gestern und morgen”, 2016

Tupoka Ogette: exit RACISM: rassismuskritisch denken lernen, 2018

Natasha A. Kelly: Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, 2019

Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten, 2019

Wichtige Initiativen:

Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland Bund e.V.

ADEFRA e.V.

Each one Teach One (EOTO) e.V.

Afro Deutsches Akademiker Netzwerk: ADAN e.V.

Diversifying Matters

Glossar:

Schwarz: Das Wort “Schwarz” wird in diesem Text großgeschrieben, weil es sich um eine Selbstbezeichnung und eine politische Kategorie handelt.

weiß: Das Wort “weiß” wird in diesem Text kursiv geschrieben, da hier eine soziale Kategorie und nicht die Hauptpigmentierung gemeint ist.

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Yeama M Bangali

Als studierte Literaturwissenschaftlerin schreibe ich über afrodeutsche Literatur, Kultur und intersektionalen Feminismus.