Sprawl City und Pensionopolis

Die Stadt Graz hat eine Doppelnatur

Heinz Wittenbrink
Am Glacis

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Seit Januar habe ich eine Wohnung in der Grazer Villefortgasse gemietet. Seit März wohne ich dort mit meinem jüngsten Sohn David. Vor einer Woche habe ich die letzten Umzugskisten ausgepackt. Ich lebe schon 10 Jahre in Graz. Trotzdem lerne ich eine neue Stadt kennen.

Neun Jahre habe ich in einem Haus am äußersten Stadtrand fast in Seiersberg gewohnt. In dem Jahr davor hatte ich eine Kleinstwohnung in der Grünen Gasse im Lendviertel und bin an vielen Wochenenden nach München gependelt. Ich habe Graz als sprawl city erfahren. Die Stadt ist eine große Ansammlung häßlicher Einfamilienhäuser und Wohnblocks, die ohne erkennbares Konzept in die Natur wuchert. Die Landschaft wird erst schön, wenn man Graz nicht mehr sieht. Der äußerste Stadtrand bei Seiersberg, wo ich neun Jahre in einem Einfamilienhaus gewohnt habe, ist ebenso ein Tiefpunkt dieser städtebaulichen Gesamtdepression wie das siloartige “blaue Gebäude” der FH Joanneum, in dem ich arbeite.

Jetzt bin ich drei Minuten vom Stadtpark entfernt, der das alte Glacis ersetzt hat. Wenn ich ins Galliano oder in das Café Harrach gehe, laufe ich wie in einem Historienfilm durch ein Ensemble aus dem 19. Jahrhundert. Und ich kann lange weiter an historistischen Fassaden entlanggehen, die zu einer großzügigen alten Wohnbebauung gehören. Die Häuser schließen fast parkartige Baum- und Gartenzonen ein, die man von den Straßen aus nicht erkennt.

Ich lerne gerade ein zweites Graz kennen, die Pensionopolis der Monarchie, eine lässige, etwas südliche Universitätsstadt. Diese Stadt umschließt den Schlossberg. Vom mittelalterlichen Kern aus ist sie systematisch, aber behutsam nach außen getrieben worden. Sie ist ein großes Monument des Städtebaus des 19. Jahrhunderts, so wie die sprawl city Graz ein besonders hässliches Dokument der urbanististischen Epoche ist, die in der Nachkriegszeit begann. Sie will nicht enden.

“Angekommen im Univiertel”, hat ein Kollege kommentiert, als ich ihm von meiner neuen Wohnung erzählt habe. Und als ein anderer meine Wohnung gesehen hat, hat er mir mitgeteilt: “Jetzt gehörst du endgültig zu den Gestopften!” Ich erwische mich dabei, wie ich Graz mit New York vergleiche, das ich im November zum ersten Mal gesehen habe. Mit schlechtem Gewissen stelle ich fest, dass mir die Ruhe des Ritter oder Fotter mehr zusagt als die Hektik der New Yorker Delis.

Ich habe auch ein—allerdings: erträgliches—schlechtes Gewissen, wenn ich mit meinem neuen Fahrrad über den Bahnhof nach Eggenberg fahre, aus dem saturierten, bürgerlichen Geidorf durch das Annenviertel, das trotz beginnender Gentrifizierung von Migranten geprägt ist. Würde ich mich nicht weiter als einen Kilometer von meiner neuen Wohnung entfernen, müsste ich außer ein paar Obdachlosen und Dealern im Stadtpark niemand sehen, der sich anstrengen muss, um im Alltag zu überleben.

Kulturhauptstadt oder City of Design ist das Graz, in dem ich jetzt lebe. Das Graz der kleinen Leute, das Graz der FPÖ-Wähler, die froh sind, keine Ausländer zu sein, hat andere Grenzen und eine andere Form als dieses Graz. Die Bewohner der beiden Städte reden nur selten miteinander. Vermutlich bemerken sie sich meist nicht einmal.

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