ANASHA - Prolog

Elena Theis
#ANASHA
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7 min readDec 4, 2015

«Der Test ist übrigens positiv.» Mit diesen Worten verlässt die Arzthelferin das Zimmer. Ich stehe da wie versteinert. Bitte was? Wie kann das sein? Rein biologisch ist das doch eigentlich gar nicht möglich? Offensichtlich schon. Wie konnte ich das nicht bemerken? Außerdem will ich mich gerade von diesem Mann trennen. Von der Ärztin, die mittlerweile das Zimmer betreten hat, ist keine große Hilfe zu erwarten. Sie sieht meine Verzweiflung, sagt aber lediglich: «Es ist ja noch früh, das können Sie sich auch noch anders überlegen.» Herzlichen Dank auch.

Ich verlasse die Praxis, laufe wie in Trance die Straße entlang, im Gleichklang mit den Tränen, die über meine Wangen laufen. Das Timing könnte nicht ungünstiger sein. Aber ist das wirklich so? Gibt es ihn überhaupt, den perfekten Zeitpunkt für ein Kind? Habe ich nicht sogar selbst immer gesagt, dass mir ein Kind passieren müsse, da ich wohl nie aktiv die Entscheidung dafür treffen könne? Diese Entscheidung wurde mir nun abgenommen. Herzlichen Glückwunsch Elena! Was mache ich nur? Keine Ahnung, wie das alles funktionieren soll und kann. Aber eines steht fest: Egal wie, ich bekomme ein Baby!

Purzel ist weg. Ich stehe im grellen Neonlicht des Wartezimmers. Außen wie innen — gähnende Leere. Mein Baby ist weg. Nun hat sich bestätigt, was ich eigentlich schon seit letzter Nacht weiß, aber nicht wahr haben will. Ich wache mit heftigen Krämpfen auf, gehe ins Bad und rede mir ein, dass das Bluten normal sei. Viel Blut. Ich sehe darüber hinweg und lege mich wieder leise ins Bett. Ich will niemanden wecken. Außerdem wollen wir morgen zu meiner Familie fahren, dort Silvester und den Geburtstag meiner Mutter feiern. Nein, es ist sicherlich alles in Ordnung. Die Autofahrt ist die Hölle. Ich lasse mir nichts anmerken, mache gute Miene zum bösen Spiel. Es soll niemand auf die Idee kommen, dass etwas nicht in Ordnung sei. Bis zum nächsten Morgen gelingt es mir, diese Farce aufrecht zu erhalten. Aber als weder die Schmerzen noch die Blutung aufhören, lasse ich doch mal vorsichtig verlauten: Ich blute.

Die Aufregung ist sofort groß, ab ins Krankenhaus. Richtig, genau deshalb hatte ich versucht mein «Ich tue einfach als wäre alles ok Spiel» so lange es ging aufrecht zu erhalten. Manche Wahrheiten tun einfach zu weh, um sie gegen die schöneren Illusionen einzutauschen. Gerade habe ich mir den Traum vom trauten Familienleben zurecht geträumt — ob nun mit oder ohne Papa — aber auf jeden Fall mit Purzel und mir. Nein, ich bin nicht bereit aufzuwachen. Aber auch diese Entscheidung wird mir abgenommen. Purzel hat bereits entschieden, sich ebenso unverhofft zu verabschieden, wie er vor ein paar Wochen in mein Leben getreten ist. Er ist weg.

Ich falle in ein tiefes Loch. Selbsthass, Trauer und Verzweiflung wechseln sich ab. Immer wieder stelle ich mir die gleiche Frage, auf die ich wohl nie eine Antwort bekommen werde: Warum? Andere Frauen bekommen Kinder wie am Fließband, kümmern sich dabei wenig um ihre eigene Gesundheit, geschweige denn um die ihres Kindes, und es geht alles gut. Und ich? Seit ich von meiner Schwangerschaft erfuhr, habe ich alles Erdenkliche getan, um für mein Baby und für mich gut zu sorgen. Aber mein Baby darf nicht auf die Welt kommen. Nie werde ich dieses kleine Wesen in meinen Armen halten, das im Sturm mein Herz eroberte, obwohl es nur ein paar Millimeter groß war. Nie werde ich ihm diese wundervolle Welt zeigen können. Aber ist diese Welt denn wirklich so wundervoll, wenn sie so etwas zulässt?

Ich bin gefangen zwischen Selbstmitleid und Schmerz, Wut und Hass. Die meiste Zeit verbringe ich weinend im Bett. Oder weinend auf der Couch. Oder weinend irgendwo anders. Von außen lasse ich niemanden an mich heran. Und der eine Mensch, von dem ich erwarte, dass er es zumindest versucht, ist völlig überfordert. Er könnte dem gar nicht gerecht werden, selbst wenn er es wollte, und versucht es daher auch erst gar nicht. Familie und Freunde bemühen sich, aber ich mache dicht. Ich will nur eines: mein Baby zurück. Aber Purzel kommt nicht zurück. Er ist weg.

So gehen die Wochen ins Land. Ich sehe aus wie ein Häufchen Elend, an Arbeit ist nicht zu denken und auch sonst zieht das Leben an mir vorbei. Ich bin mit dem Tod beschäftigt. Meine Trauer und noch viel mehr mein Selbsthass fressen mich langsam, aber sicher auf. Was bist du nur für eine Frau, die es nicht mal schafft, ein Kind auf die Welt zu bringen? Dieser Gedanke geht mir tatsächlich in Dauerschleife durch den Kopf. Wenig produktiv, wie ich heute weiß, aber damals ist genau das meine Gedankenwelt. Ich friste mein Dasein zwischen den Welten. Was soll ich hier denn überhaupt noch? Vor meiner Schwangerschaft war mein Leben ausgefüllt, so dachte ich zumindest. Nun macht auf einmal alles keinen Sinn mehr. Ich will mein Baby zurück. Aber Purzel kommt nicht zurück. Er ist weg.

In meiner Verzweiflung klammere ich mich an Dinge im Außen, vor allem an ein Kuscheltier, das meine Oma schon für den Kleinen gekauft hatte. Es begleitet mich auf Schritt und Tritt. Ich bewege mich in einer gefährlichen Zone, das ist mir bewusst. Eine Zone, von der ich nie für möglich gehalten hatte, dass ich sie jemals betreten würde. Ich, die lebenslustige Optimistin, die nichts, aber auch gar nichts aus der Bahn wirft. Die lebenslustige Optimistin liegt am Boden. Ich gehe durch die Hölle.

Meine ohnehin schon desolate Beziehung wird täglich für alle Beteiligten noch schmerzhafter. Meine Familie versucht alles, weiß aber nicht mehr ein noch aus. Einige Freunde ziehen sich aus Hilflosigkeit zurück, andere sind unermüdlich an meiner Seite, manche wissen bis heute nichts von all dem. Dank einer lieben Freundin habe ich die erste Zeit nach der Fehlgeburt überhaupt überstanden. Innerhalb kürzester Zeit kam sie zu mir nach Köln und verbrachte einige Tage mit mir weinendem Häufchen Elend auf der #Couch und versuchte, mich irgendwie zum Essen zu bringen. Rückblickend glaube ich, dass sie mir damals das Leben gerettet hast. Dafür danke ich ihr von Herzen!

Mittlerweile machen sich auch die Ärzte ernsthafte Sorgen um mich. Körperlich habe ich alles gut verkraftet, aber meine Seele blutet noch immer. «Frau Theis, Sie brauchen Hilfe. Bitte lassen Sie sich helfen.» Hilfe? Ich? Wer soll mir denn bitte helfen? Ich gehe erst einmal in Abwehrhaltung. Schließlich habe ich gerade ein Kind verloren. Schreien, Wutausbrüche, grundloses Weinen, nicht arbeiten gehen, all das ist in meiner Opferzone erlaubt, no excuses necessary. Ob mir genau das auf einmal im Sprechzimmer klar wird, kann ich heute nicht mehr beurteilen. Aber nach kurzem Protest und einem letzten Aufbäumen höre ich mich auf einmal sagen: «Ich weiß.»

«Mama, es tut mir leid, dass du so traurig bist. Mir geht es gut. Wirklich. Mache dir keine Sorgen um mich. Ich hatte eine Aufgabe, deshalb musste ich gehen, auch wenn dich das jetzt traurig macht. Meine Aufgabe bestand darin, dir zu zeigen, was es bedeutet, bedingungslos zu lieben. Ich habe sie erfüllt.»

Diese Botschaft erreicht mich aus einer anderen Ebene an einem sonnigen Wintertag am Rhein. Das ist der Wendepunkt. Ja, meine Seele blutet noch immer und ja, der Schmerz ist noch immer unerträglich. Aber ich beschließe nicht länger darin zu ertrinken. Stattdessen treffe ich hier und jetzt eine klare Entscheidung für das Leben! Das bin ich mir und meinem Baby schuldig.

Acht Monate lang arbeite ich mit einer Psychologin, trenne mich schnell vom Erzeuger meines Babys, arbeite Themen aus der Vergangenheit auf und fange endlich wieder an, mich und das Leben zu spüren. Ich arbeite bei einem angesagten Start-Up, habe eine #SchöneWohnung, gute Freunde, eine tolle Familie und verliebe mich bald über beide Ohren. Auf dem Papier ist alles perfekt. Das Leben geht seinen Gang und hat endlich wieder einen Sinn. Glaube ich. Aber welchen eigentlich? Immer wieder kehrt genau diese Frage zu mir zurück. Eine Antwort darauf ist nicht in Sicht. Dafür bin ich mittlerweile gut darin, die Frage einfach beiseite zu schieben; tue als höre ich sie nicht und mache stattdessen weiter wie bisher. Irgendwann geht sie bestimmt von alleine, wenn ich sie nur lange genug ignoriere. Glaube ich. Purzel ist weg, die Frage bleibt.

Der Verlust meines Babys 2008 war der Urknall, der mich aus einer tiefen Lebensstarre riss, mir ein Stoppschild vor Augen hielt, auf dem in großen Lettern steht: Was machst du hier eigentlich? Im Außen wurde mir das Kostbarste genommen, aber nur so konnte ich überhaupt den Zugang zu meinem Innersten finden und mich auf den Weg machen.

Ein intensiver, sechsjähriger Prozess nimmt ganz ohne mein Wissen und Zutun still und heimlich seinen Anfang. Er führt mich durch zahlreiche Höhen und noch zahlreichere Tiefen, aber immer weiter zu mir selbst. Eines ist klar: Ich bin nicht länger bereit, die Leblosigkeit meines Lebens zu akzeptieren, einfach weiter zu funktionieren und im Hamsterrad der Gesellschaft mitzulaufen. Strebend nach Erfolg, Anerkennung und Status. Nein, das kann nicht alles sein. Mein Baby hat eine Botschaft für mich: Es gibt einen besseren Weg! Ich bin bereit, ihn zu gehen, mit allem, was dazu gehört. Mich selbst und den Puls des Lebens endlich wieder spüren.

Nach und nach öffne ich mich für eine Welt, die mit dem Verstand nicht zu erklären, für die Augen sogar oft unsichtbar ist. Dennoch ist sie präsent und macht jeden Tag zu einem Abenteuer, wenn ich mich auf sie einlasse. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht einmal erahnen, welche Themen mich auf dieser Reise zu mir, meinem Seelenplan und meinem Platz in dieser Welt erwarten. Aber ich laufe los und nicht länger vor den unschönen Gefühlen und meinen eigenen Schatten davon; lasse ich mich auf mich selbst und das Leben ein as the miraculous journey unfolds.

Die ganze Geschichte erfahrt ihr in der “kompletten” Ausgabe von
ANASHA — Die Reise beginnt.

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Elena Theis
#ANASHA
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The girl with the 🌺 in her hair. Berlin-based vegan writer & artist. Food, travel & coffee lover. Plant-based around the 🌏 www.anasha.de