„Warum brauchen wir eine Kategorie ‚Systemsprenger‘?“

Martin Baumann ist Sozialarbeiter und Teamleiter bei 4Raum, wo er gemeinsam mit seinem Team für 18 Kinder und Jugendliche verantwortlich ist. Er spricht über sogenannte „Systemsprenger“, die in der Gesellschaft schwer integrierbar sind und mit Hilfe von 4Raum und dem Amt für Jugend und Familie ihren Bedürfnissen entsprechend passgenau unterstützt werden.

Martin Baumann ist Sozialarbeiter bei 4Raum in Graz.

Der Film „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt zeigt ein sehr hartes Leben für Systemsprenger, BetreuerInnen und JugendamtmitarbeiterInnen. Inwiefern entspricht dieser Film der Realität?

Martin Baumann: Der Film ist durchaus gut recherchiert und entspricht in gewissen Dynamiken und Verhaltensweisen der Realität. Dass, wie im Film beschrieben, eine leichte Berührung des Gesichts zu heftigen Reaktionen führt, habe ich so aber noch nicht erlebt.

Welche Rolle spielen die Eltern?

Baumann: Oft sind die Eltern ein Schlüssel, um einen Konflikt zu lösen. Für mich hängt das mit zwei Sachen zusammen. Einerseits gibt es oft einen Loyalitätskonflikt zwischen den Eltern und der Betreuungseinrichtung. Aber wenn man den Eltern Verantwortung zuspricht, kann man es schaffen, diesen Konflikt aufzulösen. Andererseits muss die Zusammenarbeit der Betreuungseinrichtung mit den Eltern eine andere sein, wenn diese offiziell Aufgaben übernehmen.

Was geht in Systemsprengern vor, wenn es zu Gefühlsausbrüchen kommt?

Baumann: Es kommt vor, dass die Kinder und Jugendlichen in diesen Situationen auf keine anderen Handlungsweisen zurückgreifen können, entweder weil sie diese noch nicht erlernt haben oder weil sie durch bisher Erlebtes so geprägt sind. Es besteht dann etwa eine Art Ausnahmezustand, wo wenig Steuerungsmöglichkeit empfunden wird und die Handlungsfähigkeit oft nur schwer wieder zu erlangen ist. Psychotherapie oder Interventionen aus dem Bereich Traumapädagogik unterstützen die Jugendlichen in ihrer Entwicklung, um die traumatischen Ereignisse zu bearbeiten.

Welche beruflichen Perspektiven haben Systemsprenger?

Baumann: Wir sehen, dass diverse Angebote am Arbeitsmarkt für unsere Jugendlichen zu hochschwellig sind. Da muss man auf niederschwellige und unverbindliche Aufgaben zurückgreifen, die jetzt auch mehr und mehr kommen. Zum Beispiel gibt es ein Projekt, wo Sport im Mittelpunkt steht. Dort können die Jugendlichen mit Sport im Alltag ihre Ausbildungspflicht erfüllen und Geld verdienen. Sie bauen eine stabile Beziehung zur Gruppe auf und schaffen eine Integration in höherschwellige Formen. Das sind schon gute Ansätze.

Was müsste sich deiner Meinung nach bei den Angeboten verändern?

Baumann: Es müsste niederschwelliger sein. Ich habe das Gefühl, dass die Jugendlichen relativ schnell wieder draußen sind, wenn sie mal nicht hingehen oder es zu eskalierenden Situationen kommt. Oft ist es für uns hilfreich, Angebote zu finden, die auf die Bedürfnisse und Eigenheiten der Jugendlichen eingehen.

Bleiben Kinder und Jugendliche, die als Systemsprenger gelten, immer Systemsprenger?

Baumann: Menschen, die irgendwann mal den Stempel „Systemsprenger“ aufgedrückt bekommen haben, können sich auch gut entwickeln. Sie lernen die gesellschaftlichen Regeln und wie sie damit umgehen sollen. Wir haben Jugendliche, die eine Lehre machen oder weiter eine höhere Schule besuchen, obwohl sie in einer früheren Lebensphase Probleme hatten, sich einer Gruppe anzupassen.

Gibt es eine Alternativbezeichnung für „Systemsprenger“?

Baumann: Alle Wörter, die man bis jetzt gefunden hat, passen einfach nicht. Intern würden wir eher sagen, dass ein Fall „ressourcenintensiv“ ist. Aber warum brauchen wir eine Kategorie „Systemsprenger“? Was wollen wir damit sagen? In den Begriff werden sehr viele Eigenschaften hineininterpretiert, die ein als schwierig erlebter Jugendlicher haben soll. So werden junge Menschen stigmatisiert. Jeder Jugendliche kommt mit einer Vielzahl an Stärken, Verhaltensweisen und einer Vorgeschichte, die von positiven und negativen Erfahrungen geprägt ist. Deshalb ist es wichtig, sie nicht unter einem Begriff zusammen zu fassen. Wichtig ist also: Systemsprenger ist nicht gleich Systemsprenger.

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