Die Praxis digitaler Communities

Dr. Alexander Klier
Beck et al.
Published in
9 min readSep 12, 2019
Die Agora war der zentrale Fest- und Versammlungsplatz der sich selbst verwaltenden griechischen Polisgemeinschaften. Ihr kam eine zentrale Rolle bei der Organisation und Verwaltung genauso zu, wie sie beispielsweise mit Gerichtsverhandlungen und Volksversammlungen darauf als struktureller Vorläufer der modernen Demokratie gilt. Aber nicht nur deshalb gibt es viele Analogien bezüglich digitaler Communities. Bild: kirkandmimi — athens-2486069 auf Pixabay. Verwendung unter den Bedingungen der Creative Commons 0.

„Solidarität entsteht aus kollegial gestalteten Interaktionen in der täglichen Zusammenarbeit. Durch sie gewinnen die Arbeitenden an Handlungsfähigkeit und Durchsetzungsmacht für gemeinsame Interessen. Auch digitale Plattformen im Unternehmen profitieren von solidarischen Praktiken, denn die freiwillige, selbstbestimmte Vernetzung der Beschäftigten auf der Plattform steigert deren Produktivität (HBS 2019).“

Mit obigen Sätzen fängt der Teaser für die Session “Solidarität und Selbstbestimmung am Arbeitsplatz — analog und digital” der zweiten Labor.A der Hans-Böckler-Stiftung am 2. Oktober 2019 in Berlin an. Diesmal sind wir als Beck et al. als Programmpartner dabei, haben uns also kollaborativ in die Vorbereitung bzw. das Programm eingebracht. Gestaltet wird diese Session gemeinsam mit Klaus Kock von der Sozialforschungsstelle der TU Dortmund (Forschungsbereich „Kooperation Wissenschaft Arbeitswelt“) und mir. Zur Vorbereitung haben wir uns im Rahmen eines Workshops getroffen und auch die Gelegenheit gehabt, uns inhaltlich auszutauschen. Dabei gab es eine aktuelle empirische Veröffentlichung von Klaus Kock und Edelgard Kutzner (2018), die ich gerne als Grundlage dafür nehme, unsere gemeinsam gestaltete Session — aus Sicht einer digitalen Kollaboration in Communities — inhaltlich auszuführen. Dabei freut mich besonders, ein wenig über mir altbekannte Begriffe nachzudenken bzw. deren Bedeutung neu zu entdecken.

Arbeit und Kollegialität

„Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist die Entwicklung von Kollegialität ein durchaus voraussetzungsvoller Prozess, der nicht spontan aus dem Zusammenwirken erwächst, sondern bewusst gestaltet wird und immer wieder gegen vermeintliche Sachzwänge, zuwiderlaufende Regelungen und Anweisungen durch Vorgesetzte, aber auch gegen Tendenzen zu konkurrentem Handeln unter den Beschäftigten selbst durchgesetzt werden muss“ (Kock & Kutzner 2018, S. 448).

Was wird nicht alles zum Thema New Work geschrieben, wo doch die Zusammenarbeit von Menschen in Organisationen ziemlich alt ist. Dahinter steckt aus meiner Sicht auch eine gehörige Portion Kritik an bestimmten Strukturen, wie die Zusammenarbeit in den Unternehmen derzeit gestaltet ist. Oft wird in der aktuellen Debatte jedoch die diesen zugrunde liegende Vorstellung der Organisation einer neuen (Zusammen-) Arbeit nicht weiter kritisch hinterfragt. Die meisten mir bekannten Beiträge beziehen sich jedenfalls sehr individualistisch auf eine persönliche Sichtweise, also unter welchen Bedingungen Arbeit (den oder die Betroffenen) glücklich macht, zufrieden stellt, erfüllend ist etc. Umso interessanter ist es für mich, in der Studie von Klaus Kock & Edelgard Kutzner denjenigen zu begegnen, mit denen man zusammen arbeitet, also den Kolleginnen und Kollegen, die beispielsweise im gleichen Projekt tätig sind oder über andere Verbindungen für die eigene Arbeit wichtiges leisten. Und etwas mehr darüber zu erfahren, unter welchen Bedingungen und Strukturen kollegiale Zusammenarbeit gelingt. Wie bei einer digitalen Kollaboration geht es auch bei der kollegialen Zusammenarbeit primär nicht um eine bestimmte Technik oder Sozialtechnologie, sondern um das aktive Handeln der betroffenen Personen auf ein gemeinsames Ziel hin, also eine bestimmte Praxis.

Historisch taucht insofern die soziale Kollaboration (hier geht es zu meinem Blogbeitrag dazu) unter dem Begriff der Kollegialität immer wieder auf. Deshalb ist die Wortgeschichte von „Kollege“ (lateinisch = collega = Standes- oder Amtsgenosse) durchaus erhellend. Es stammt ursprünglich aus der Epoche der römischen Republik und bezeichnete damals die Doppelbesetzung von Ämtern, um als Kollegialorgan, also als Peers, Machkonzentration und Machtmissbrauch zu vermeiden. Übernommen wurde der Begriff später — zunächst relativ ausschließlich im Hochschulwesen — als „Collegium“. Hierunter wurde ein gemeinschaftlicher Aufbau einer Körperschaft verstand (vgl. dazu Wikipedia: Kollege). Erst spät und im Zuge der Industrialisierung hielt der Begriff Einzug als Bezeichnung für all diejenigen Menschen, die in den Fabriken oder tayloristischen Großorganisationen miteinander zusammenarbeiten mussten. Wenn man so will, dann ist das historische „Anliegen“ dieses Begriffs eine Verbindung zwischen den Individuen und den sie umgebenden bzw. sie beeinflussenden Prozesse und Strukturen. Deshalb kann er aus meiner Sicht auch für das Thema New Work genauso fruchtbar gemacht werden, wie er sehr gut für unsere Session auf der Labor.A 2019 taugt.

Kollegialität und Solidarität

„Solidarität beruht nicht auf einer irgendwie gearteten gemeinschaftlichen Identität oder einer ursprünglichen Verbundenheit, sondern realisiert sich erst in kooperativer Praxis […] Solidarität ist nicht schicksalhaft, sie ist eine freie Art der sozialen Bindung“ (a.a.O., S. 449).

Genauso spannend ist es mit dem dazugehörigen Begriff der Solidarität. Er zeichnet gleichsam von vornherein die Gemeinsamkeit von Aktivitäten aus. Auch dieser Begriff geht zunächst auf das Römische Reich zurück. Entstanden ist er hier im Arbeitszusammenhang als besondere rechtliche Konstruktion: „Mehrere schulden eine Leistung so, dass jeder von ihnen die ganze Leistung zu erbringen verpflichtet ist, der Gläubiger sie aber insgesamt nur einmal fordern darf“ (Wikipedia: Solidarität). Speziell über das Christentum, hier zählt Solidarität als eines der klassischen sozialphilosophischen Prinzipien, hielt dieser Begriff dann Einzug in die europäische Geschichte und bezeichnet heute relativ grundsätzlich den Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten und/oder gleichgestellten Individuen innerhalb von Gruppen bzw. auch zwischen Gruppen. Den Kern des Begriffs macht dabei aus, dass es um eine Art Verbundenheit untereinander bezüglich der jeweiligen Aktivitäten und Ziele geht, die man eigentlich nur gemeinsam erreichen kann. In einem ziemlich zentralen Sinne also beruht auch die Solidarität auf einer kollaborativen Zusammenarbeit, jedoch, wie es im Eingangszitat schön formuliert ist, nicht automatisch und schicksalhaft als Zwangsgemeinschaft, sondern als freie Entscheidung einer gemeinsamen sozialen Bindung zum gemeinschaftlichen Erreichen bestimmter Ziele. Genau deshalb war und ist es auch ein sehr starker Begriff, vor allem für die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Dadurch ist das Phänomen der Solidarität auch die Grundlage funktionierender digitaler Communities.

Soziale Praxis digitaler Communities

„Damit ist zugleich gesagt, dass das solidarische ‚Wir‘, die Gruppe, deren Mitglieder sich miteinander verbinden, nicht fixiert ist, sondern ebenfalls in der Praxis konstituiert wird […] Kollegialität beruht auf Gegenseitigkeit. Wer Unterstützung von anderen erwartet, muss sich hilfsbereit zeigen, wenn diese ihrerseits Unterstützung benötigen“ (a.a.O., S. 450 & 452).

Der zentrale Begriff für unseren Programmbeitrag — und auch das Verbindungsstück zu Kollegialität und Solidarität — ist der einer digitalen Community. Oder vielmehr der Plural im Sinne von Communities, weil es auch nur Praktiken im Plural gibt. Digitale Community geht als Begriff zurück auf online bzw. virtuelle Communities. Dahinter wiederum steckt — wie beispielsweise auch beim Begriff von Kommunen — das lateinische Wort „communis“, das „gemeinschaftlich“ bedeutet. Bezeichnungen wie Netzgemeinde oder Internetgemeinschaft beziehen sich auf diesen gemeinschaftlichen Aspekt. Zentral dabei ist, dass diese Art von Communities dem Grunde nach demokratisch organisiert sind (wenn sie funktionieren sollen) und vor allem, dass sie von den Aktivitäten der einzelnen Mitlieder leben, diese sich also aktiv einbringen müssen — was sie normalerweise auch wollen. „Online-Communitys entwickeln sich vor allem dann erfolgreich, wenn […] sie […] aus den Wünschen der Gemeinschaft wachsen“ (Wikipedia: Online-Community).

Die Großzügigkeit und gegenseitige Wertschätzung, die im Ansatz des Working-out-loud (WoL) so deutlich betont wird, hat hier ihre Wurzel und zugleich Bedingung. Denn es geht auch darum, dass sich die Kolleg:innen als Personen (bspw. über ihre Profile) kennenlernen und sich aufeinander einstellen. Was wiederum nur geht, wenn ich etwas von den Anderen mitbekomme, die Kolleginnen und Kollegen also als Menschen sichtbar werden. Die Bedingungen von Kollegialität und Solidarität spiegeln sich aber auch als Praxis einer freiwilligen sozialen Bindung im Rahmen von Communities wider. Die konstitutive soziale Praxis von digitalen Communities ergibt sich ja gerade daraus, dass sich deren Mitglieder freiwillig vernetzen und auf Augenhöhe begegnen, sich also wechselseitig in ihren unterschiedlichen Kompetenzen anerkennen, um kollaborativ am gemeinsamen Ziel zu arbeiten.

Aber sie tun noch mehr: Als Communities organisieren sie auch eigenständig die notwendigen (Community-) Strukturen, um die Zusammenarbeit zu gewährleisten sowie das notwendige gemeinsame Lernen als Social Learning (Lave 2015). Aus der Funktionsweise — zusammen mit der eigenständigen Struktur — ergibt sich auch: Weder die Vernetzung zur Bildung einer digitalen Community, noch deren genaue Arbeitsteilung oder Struktur, kann hierarchisch angeordnet oder genau geplant werden (Wenger & Snyder 1999). Sie ergibt sich erst aus der Praxis des gemeinsamen Organisieren einer solchen Community. Mit anderen Worten: Funktionierende digitale Communities sind eigenständige und autonome Akteure im Rahmen von Unternehmen und mehr als die Summe der einzelnen Mitglieder oder der Knoten eines Netzwerks.

Digitale Communities in Organisationen

„Solidarisierungsprozesse sind […] Prozesse der ‚Ermächtigung‘, die es erlauben, Situationen des gemeinsamen Lebens aktiv zu gestalten, denen man sonst passiv unterworfen wäre. Das bedeutet eine Erweiterung kollektiver Handlungsfähigkeit, die gleichzeitig die Möglichkeit der Individuen befördert, ihr eigenes Leben zu gestalten“ (Jaeggi & Celikates 2017).

Von obigen Begriffsklärungen her wieder zurück zum Thema. Hier möchte ich mit einer Analogie weiterarbeiten, die an das verwendete Bild dieses Blogbeitrags und die bisherigen Analysen anknüpft und sie gewissermaßen abrundet. Die kommunale Selbstverwaltung ist historisch gesehen eine wichtige Errungenschaft moderner und demokratischer Staaten. Aufgrund ihrer tatsächlichen Bedeutung hat sie im Regelfall einen Verfassungsrang. Zuständig sind sie für alle Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft, also für die „Situationen des gemeinsamen Lebens“. Die aktive Arbeit darin wird — zumindest bei kleineren Gemeinden — ehrenamtlich erledigt. Wichtig dabei ist, dass sie gerade keinen privaten Zusammenschluss von Bürgern darstellt, sondern ein struktureller Teil der Exekutive eines Staates ist. Mithin: Eine Aufgabe hat. Kommunen funktionieren deshalb nicht nur ähnlich wie Digitale Communities, sie haben auch ähnliche Voraussetzungen und Funktionsprinzipien.

Hier kommt nun ins Spiel, was wir bei Beck et al. schon seit langem mit Ermächtigung (Empowerment) bezeichnen. Um ihre Funktion adäquat erfüllen zu können, müssen Kommunen — wie auch Communities — über entsprechende „selbstverwaltete“ und autorisierte Strukturen in der Gesamtorganisation verfügen. D.h., die konkreten Arbeitsprozesse müssen das autonome Agieren von Communities nicht nur erlauben, sie müssen von den Mitgliedern der Communities auch konkret gestaltet und verändert werden können. Das wiederum ist etwas, was sich nicht individuell oder vernetzt vollziehen lässt, sondern eben nur als gemeinsames, eben kommunales Agieren erfolgreich ist. Im Prinzip folgt dies bereits aus der Feststellung, dass Communities eigenständige Akteure innerhalb von Organisationen darstellen, die sozusagen die Praxis in der Organisation her- und darstellen.

Um das zu ermöglichen, gibt es einige durchaus voraussetzungsvolle Bedingungen. Was die eingangs erwähnte Untersuchung von Klaus Kock und Edelgard Kutzner so wertvoll macht ist, zumindest in meinen Augen , dass Sie diese Bedingungen empirisch, beispielsweise in Form von Interviewaussagen, greifen und nachweisen können. So stellen Sie beispielsweise klar, dass eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg einer sozialen Kollaboration ist, ein Einvernehmen über den Sinn des Ganzen, also sowohl der Kollaboration, als natürlich auch der Organisation, in der diese vollzogen wird, herzustellen. “Die Erzieherinnen [eine der untersuchten Gruppen] stellen Einvernehmen über ihre pädagogischen Aufgaben vorwiegend diskursiv her, indem sie Argumente und Meinungen austauschen” (a.a.O., S. 455). Andere scheitern bereits daran, dass es nicht genügend Offenheit und Transparenz über die Abteilung gibt, sie also gar nicht wissen können, was die Kolleginnen und Kollegen brauchen oder auch machen. Insgesamt geht es also darum, “nicht strikt an den Grenzen der eigenen Tätigkeit haltzumachen, sondern den Bezug auf andere Teilarbeiten mitzudenken und den Kolleginnen und Kollegen entgegenzuarbeiten”; mit anderen Worten: zu kollaborieren. Daraus wiederum “entstehen kollegiale Beziehungen, die über den Funktionsbedarf hinaus ins Persönliche hineinreichen” (a.a.O., S. 459).

Was auf der Labor.A 2019 gemacht wird

“Kollegialität beruht auf Erfahrung und Einsicht, dass die Realisierung eigener Ziele von der Realisierung der Ziele anderer abhängig ist, dass die eigene Handlungsfähigkeit in der Zusammenarbeit und im reziproken Austausch mit anderen erweitert werden kann. Kollegialität als eine Form von Solidarität entsteht weder aus einerg egebenen Gemeinschaft noch aus funktionalen Erfordernissen des Arbeitsprozesses” (Kock & Kutzner S. 464).

Nicht nur Kollegialität entsteht in gelebter Praxis, auch lebendige und produktive Communities sind gelebte Praxis. Das zumindest wollte ich in diesem Beitrag begründen. Was folgt daraus für die Session auf der Labor.A 2019)? Konsequenterweise werde ich zunächst die Forschunsergebnisse von Klaus Kock und Edelgard Kutzner, die sie in der Session vorstellen werden, aufgreifen und auf digitale Communities übertragen. Weiter werde ich zeigen, wie unspektakulär so etwas rein optisch bzw. digital aussieht. Hier ergibt sich die letzte Analogie zum Titelbild: Die Agorei waren anfangs weitgehend ungestaltete, ebene Freiflächen. Vorteilhaft waren allerdings viele Straßen, die sie kreuzten. Es ging ja nicht um die Optik, sondern um das, was darauf und darin passiert. Insofern kann man auch digitale Communities nicht danach beurteilen, was man sieht.

Dennoch möchte ich zeigen, wie sich die notwendigen Bedingungen darstellen, die digital genauso wichtig sind wie analog. Da auch Communities Ausdruck einer (digitalen) Praxis sind, kann es allerdings erst zu einem echten Erleben einer Community kommen, wenn Interessent:innen sich zumindest temporär auf der Plattform aufhalten und miteinander interagieren. Darauf, und das ist das Angebot, können sich alle Interessierten während, vor allem aber nach der Labor.A, einlassen. Entsprechende Anmeldungen sind herzlich Willkommen und können Sie auch per Mail an mich senden.

Verwendete Literatur

Jaeggi, R. & Celikates, R. (2017): Sozialphilosophie. Eine Einführung (ePub). München: Beck

Kock, K. & Kutzner, E. (2018): Arbeit als kollegiales Handeln — Praktiken von Solidarität und Konkurrenz am Arbeitsplatz. Erschienen in: Industrielle Beziehungen 4/2018, S. 446‒468. Artikel verfügbar unter https://doi.org/10.3224/indbez.v25i4.04

Wenger, E. & Snyder, W. (1999): Communities of Practice: The Organizational Frontier. In: Harvard Business Review, Jan./Feb. 2000, S. 139–145. Text verfügbar unter: http://www.rareplanet.org/sites/rareplanet.org/files/Communities_of_Practice__The_Organizational_Frontier%5B1%5D.pdf

Lave, J. (2015): Situating Learning in Communities of Practice. Text verfügbar unter http://lagim.blogs.brynmawr.edu/files/2015/03/Situating-learning-in-CoPs.pdf

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Dr. Alexander Klier
Beck et al.

Ich arbeite bei der Firma changeable GmbH. Während meiner Beschäftigung bei Beck et al. habe ich diese Beiträge für cen Corporate Blog verfasst.