Eine digitale Kultur der Führung

Sigi Lautenbacher
Beck et al.
Published in
5 min readAug 20, 2017

“Das Besondere an Kulturen ist, dass sie nicht durch Verkündigung gebildet werden, sondern wie von selbst entstehen. Wie Mitarbeiter in Organisationen zusammenarbeiten, wie mit Kunden und wie mit Konflikten umgegangen wird, das mendelt sich im alltäglichen Leben in der Organisation aus und nicht dadurch, dass Organisationsspitzen Leitbilder verkünden” (Stefan Kühl).

Kulturen können weder gemacht, noch implementiert werden. Diese Aussage gilt auch bezüglich der kulturellen Eigenarten von Führung in Unternehmen und, nicht zu vergessen, den dahinter liegenden Leitbildern von Führungskräften bzw. auch von digitalen Leadern.

Weltkulturerbe Völklinger Hütte. Eigenes Bild

Die Verwirrung ist unübersehbar, die Zahl der gut gemeinten Vorschläge unüberschaubar und der Ausgang unüberblickbar. Es ist schon erstaunlich, wie viele sich sehr unterschiedliche Gedanken zum Thema Führung in digitalen Organisationen machen. Noch erstaunlicher ist dabei, dass es zum einen sehr selbstreferenzielle Wiederholungen von angeblich notwendigen Eigenschaften digitaler Führungskräfte gibt, es dagegen fast überhaupt keinen Rekurs auf die vorliegenden Erkenntnisse zu den Kontextbedingungen von Führung in Organisationen gibt. Deutlich wird deshalb zunächst nur, dass mit einem überholten Verständnis von Führungskräften kein Blumentopf zu gewinnen ist. Der Ruf nach den sogenannten digitalen Leadern ist aber ebenfalls nicht wirklich hilfreich, so habe ich (gemeinsam mit meinem Kollegen Alexander Klier) hier bereits argumentiert. Weil, so meine Grundüberzeugung, es nicht um Fixierung auf personale Eigenschaften, oder, noch weitergehend, die Fixierung auf dafür bezahlte Menschen (via Stellenbesetzung), gehen darf, will man im digitalen Zeitalter Führung organisieren. Bereits analog gilt: das tatsächliche Führungsverhalten ist niemals alleine aufgrund von personalen Eigenschaften zu erklären, denn die Situation hat einen genauso großen Einfluss wie die Strukturen und Prozesse, innerhalb derer Führung stattfindet. Das in den verschiedenen Vorschlägen aufschlagende erwünschte Führungsverhalten ist, als normative Vorgabe, ohnehin ein Teil dessen, was gemeinhin mit Unternehmenskultur beschrieben wird.

Führung ist ein kulturelles Gruppenphänomen …

“Wir brauchen nicht bessere Manager, sondern andere Rahmenbedingungen”(Bernd Oesterreich & Claudia Schröder, S. 13).

Das Phänomen der Führung lässt sich in einem weit gefassten Sinn überall dort festmachen, wo es um die Organisation sozialen Zusammenlebens von Menschen geht. Insofern es immer auch damit zu tun hat, Macht auszuüben bzw. Menschen dazu zu bringen, bestimmte Dinge zu tun, ist die theoretische Auseinandersetzung mit Führung bis in die antike Philosophie (beispielsweise Platons Staat) zurück zu verfolgen. Bereits in den Organisationstheorien differenziert sich dieses Phänomen aus, gilt es doch, nicht nur das gesamte Unternehmen zu führen, sondern auch darüber nachzudenken, inwiefern sich Führung über Strukturen und Prozesse (sogenannte Führungssubstitute) nachweisen und organisieren lässt. Am deutlichsten wird in der Anthropologie, dass es sich bei Führung mindestens um einen wechselseitigen Prozess zwischen irgendwie bestimmten “Anführern” und ihnen folgenden Menschen handelt. Michael Tomasello beschreibt dabei sehr schön, wie sich gerade aus der kollaborativen Zusammenarbeit in Gruppen normalerweise und sehr spontan soziale Regeln und vor allem Verhaltensvorschriften (Normen) für die Beteiligten entwickeln. Die Normen und Regeln tradieren sich schließlich institutionell und verfestigen sich kulturell, um ein entsprechendes Handeln von Menschen, beispielsweise in Organisationen, zu fordern und zugleich abzusichern.

Eine der wichtigsten Sicherungsfunktionen ist dabei die, dass die jeweilige Kultur als Summe der Regeln und Überzeugungen, die zu ungeschriebenen Gesetzen werden, eine interne Integration ebenso ermöglichen, wie eine Anpassung des Unternehmens an die Umweltbedingungen. Über die Kultur bekommt jede Organisation eine eigene und unverwechselbare Identität, auch was die konkrete Ausgestaltung von Führung betrifft. Im Sinne einer (langen) Tradition wird deutlich, dass es historisch und kulturspezifisch sehr unterschiedliche Konzepte und Ansätze von Führung gab und gibt, die bei Leibe nicht immer auf Führungskräfte (Leader) fixiert sind.

Das beharrliche Verweisen auf digitale Leader, wie es im Moment im Rahmen der digitalen Transformation zum Ausdruck kommt, verdeutlicht in meinen Augen deshalb vor allem eines: dass das kulturelle Leitbild einer tayloristischen Organisation noch tief in den Köpfen verankert ist.

Sozialtechnisch gesehen waren und sind speziell Führungskräfte nämlich eine notwendige Bedingung tayloristischer Organisationen, denn über sie wird die “wissenschaftliche Betriebsführung” realisiert und umgesetzt. An dieser soziotechnischen Grundfunktion werden auch digitale Leader — mit noch so tugendhaften Eigenschaften — nichts ändern.

… und ein Stück sozialer Technologie.

“Es ist ebenfalls offenkundig, daß diese und ähnliche Konzepte ihre Grundlage verlieren, wenn ein Unternehmen andere Organisationsprinzipien einführt, wie z. B. die Projekt- , die Netzwerk-, die Clanorganisation oder andere Ansätze, die in starkem Maße auf die Selbststeuerung des Systems abheben” (Lutz von Rosenstiel, S. 8).

Führung stellt, strukturell gesehen, ein Gruppenphänomen dar, welches die Interaktion zwischen den Gruppenmitgliedern beinhaltet und darauf abzielt, durch Kommunikationsprozesse Einfluss zu nehmen um Ziele zu erreichen. Die richtige Gestaltung der Kommunikationsprozesse stellt sowohl ein Kernstück digitaler Führungsaufgaben, als auch ein Stück sozialer Technologie, dar. Aber im Sinne einer stützenden Unternehmenskultur sind auch die sonstigen organisationalen Strukturen und Hilfsprozesse so zu gestalten, dass sie ein erfolgreiches Führen von Gruppen und Teams ermöglichen. Auch auf dieser Ebene wäre es ziemlich kontraproduktiv, nur auf die konkret agierenden Menschen im Führungszusammenhang zu achten, weil das situative Umfeld und der normative Anspruch genauso entscheidend für einen Führungserfolg sind. Die wichtigste Überlegung, die für mich daraus folgt, ist die, dass Führung in digital transformierten Unternehmen nicht mehr als Stelle mit einem Stelleninhaber begriffen werden kann, die bestimmten Personen — qua Befähigung, Ausbildung oder einfach aufgrund von (Macht-) Beziehungen — zugesprochen wird. Vielmehr muss es sich dort um “Rollen” handeln, die flexibel über ein Mandat besetzt werden, wobei flexibel heißt, die Personen nach denjenigen Eigenschaften auszuwählen, die notwendig sind, die gerade anstehende Aufgabe bestmöglich umzusetzen.

Wie bei jeder Technologie ist auch diese nur dadurch zum Leben zu erwecken, dass die Betroffenen dazu ermutigt werden, sie zu nutzen. Digitale Technologien im Sinne einer agilen Führung zu nutzen verstehe ich dabei so, dass zum einen die Rollen gemeinschaftlich zu besetzen sind. Zum anderen müssen sich aus dem Kreise der jeweiligen Gruppen und Teams Menschen zur Verfügung stellen, welche die Führungsrolle für die speziellen Aufgaben annehmen und temporär ausüben. Dass dies im Unternehmen ausdrücklich erwünscht ist, stellt eine normative Anforderung der entsprechenden Unternehmenskultur dar. Als (ungeschriebener) Handlungsanspruch der Ermutigung dazu kann er jedoch nicht (hierarchisch) angeordnet werden, sondern muss sich als kulturelle Führungspraxis ergeben. Eine entsprechende Umgestaltung der organisationalen Strukturen und Prozesse stellt dabei einen unternehmenskulturellen Akt der Ermächtigung dar, damit der Ermutigung ein entsprechendes Handeln folgen kann. Für eine digitale Organisation im kulturellen Übergang kann man dann mit Fug und Recht feststellen:

Ermutigen ist die letzte Aufgabe der Führungskräfte, Ermächtigung der letzte Akt der hierarchischen Ordnung.

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