Nicht zum Aushalten

Sigi Lautenbacher
Beck et al.
6 min readDec 25, 2017

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Nichts konnte schlimmer sein, als diesen Menschen jetzt ihr gewohntes Arbeitsumfeld, das gegenwärtig offenkundig einzig Stabile in ihrem Leben, zu nehmen. Doch es half nichts, das Controlling hatte herausgefunden, dass diese Produktionsfaktoren überzählig waren und der Kostenfaktor musste so schnell wie möglich aus den Büchern verschwinden“ (Sabine Kluge).

Es muss einen doch innerlich fast zerreißen in diesen Zeiten. Da schreibt meine Freundin Sabine enthusiastisch über die Intrapreneure bei Siemens in Berlin, um dann ein paar Monate später über die Automatismen im Geschäft zu klagen, vielleicht sogar anzuklagen.

Diesen zweiten Artikel von Sabine finde ich insofern besonders bemerkenswert, als er direkt nach dem WOL Treffen in Stuttgart geschrieben wurde, wo der Enthusiasmus ja anscheindend zum Greifen war. Nun schreibt sie in ihrem Beitrag, wie sie seit ihrer Zeit als Werksstudentin bei Siemens immer wieder mit den Widrigkeiten zu kämpfen hatte, die mit einer Aufgabe im Bereich des Human Resources Management einhergehen: dem Outsourcing oder auch Replacement ganzer Gruppen von Beschäftigten, meist Un- oder Angelernte mit mangelhaften Sprachkompetenzen und wenig Möglichkeiten, andere Arbeit zu finden. Die vielen Likes, die vielen Kommentare und die Tatsache, dass der Artikel auch vielfach geteilt wurde zeigen, dass Sabine mit ihrem kritischen Impuls anscheinend Vielen aus dem Herzen spricht. Wunderbar bemerkenswert ist schließlich auch, wie es ihr gelingt, dies auf die derzeitige Situation der digitalen Disruption zu übertragen, wenn sie schreibt, dass „Change […] in den Plänen großer Industrieunternehmen eine schöne Powerpointfolie“ darstellt und ein „Enabling“ in der Regel bedeutet, die „Willigen und Fähigen, die sowieso mitkönnen“ zu unterstützen. „Für mich war jedoch plötzlich klar, wie spät wir eigentlich damit beginnen, Ende 2017 scheinbar und offenkundig erstmalig mit den Menschen auch über ihre Ängste zu sprechen“ (a.a.O.). Hier möchte ich an meinen Artikel erinnern, der in diesem Zusammenhang über den Wirklichkeitsschock, der sich bei mir einstellte, sprach.

Es ist schon wahr, dass es in den Unternehmen wenig ernsthafte Diskussionen darüber gibt, wie der digitale Wandel positiv für alle Betroffenen gestaltet werden könnte. Denn dazu müsste es zumindest die Einsicht geben, dass es sich lohnt auch mit denjenigen zu sprechen, die möglicherweise (noch) nicht qualifiziert oder überzeugt sind. Dass es gewinnbringend sein kann, die Sorgen und Ängste der Beschäftigten, die mit dem digitalen Wandel zusammenhängen, nicht nur ernst zu nehmen, sondern als wichtigen Hinweis darauf zu sehen, wo Partizipation innerhalb der betrieblichen Prozesse und Strukturen bisher nicht angekommen ist. Sabine hat recht, wenn sie schreibt, dass das alles ja schon oft diskutiert wird – an der Stelle möchte ich allerdings hinzufügen, dass es nicht ausreicht, Verantwortung nur auf der persönlichen Ebene einzufordern. Sie selbst stellt schließlich die Frage, wie die Antwort wäre, würde man die Shareholder nach „ihrer persönlichen sozialen Verantwortung“ fragen. Als rhetorische Frage gemeint gibt sie doch gleichzeitig einen Einblick in die Schwierigkeit, die dahinter liegenden Strukturen als Ziel persönlicher Verantwortlichkeit fassen zu wollen. Mit anderen Worten: aus unserer Sicht genügt es einfach nicht, auf der persönlichen Ebene zu verbleiben. Hieran setzt dieser Beitrag als Replik an.

Zerreißprobe bei Siemens

Schauen wir uns einmal beispielhaft die Schlagzeilen der letzten Wochen zum Thema Siemens an: „Tiefschlag für die Mitarbeiter“ (heise online); “Siemens steigert Gewinn und entlässt Mitarbeiter” (schwäbische.de); “Siemens streicht 7000 Jobs und schließt Werke in Ostdeutschland” (Manager Magazin). Lesen Sie doch die Artikel nochmal in Ruhe durch: Was sofort auffällt ist, dass in dieser Sprache keine konkreten Menschen vorkommen. Betont wird in unterschiedlichen Facetten, wie notwendig, hilfreich oder auch fatal bestimmte strategische Entscheidungen in diesem Unternehmen für die Betroffenen sind oder ausfallen. Doch es sind nicht nur zwei unterschiedliche Sprachspiele, die hier zum Tragen kommen. Es ist darüber hinaus so, dass es zwei komplementäre Seiten der gleichen Medaille sind, die hier deutlich werden. Komplementär gemeint tatsächlich als zwei gegensätzliche, aber sich ergänzende Sachverhalte. So stellt auch Sabine Kluge fest: Die andere Seite, die eines Shareholder getriebenen Change, bedeutet, „mangels Fantasie und Innovation“ wieder nur, in Form von Restrukturierungen, den radikalen „Abbau des Produktionsfaktors Mensch“ zu betreiben und, so ihre Schlussfolgerung, sie damit auch aus der Gesellschaft auszuschließen. So wird für sie immerhin verständlich, dass sich eine „schmerzhafte und erschreckende Kluft von Sprachlosigkeit, Verständnislosigkeit und Angst“ auftut, von denen andere im weiten Feld des HRM, in ihren „schicken Glasbüros“ und „zwischen coolen Themen wie Design Thinking, AI und Additiv Manufacturing“ (a.a.O.) überhaupt nicht zu reden wagen.

Change und Partizipation

Wendet man nun die persönliche Kategorie der Verantwortung auf einen “Change” an, wie er bei Siemens gerade vollzogen wird, dann ist das ein Kategorienfehler, der passiert, wenn ein Begriff auf eine Weise verwendet wird, die nicht dem logischen Typ des Ausdrucks entspricht. Bei Siemens ist es jedenfalls offensichtlich, dass die strategische Neuorientierung von Siemens eine Veränderung darstellt, die nicht dem entspricht, was die Personalchefin sonst so über Digitale Transformation und Change von sich gibt. Denn allzu deutlich ist, dass die Betroffenen weder bei der Entscheidung, noch bei der Ausführung beteiligt sind, der Unternehmenswandel also nicht gemeinsam oder zumindest transparent gestaltet wird. Es handelt sich um das pure Gegenteil von Partizipation. Damit aber fällt mindestens die persönliche Verantwortlichkeit bei den Betroffenen weg. Denn eine solche setzt eine Handlungsfreiheit und einen wirksamen Einflusses des Handelnden auf das Handlungsergebnis voraus.

Und das sage ich als Unternehmer und Eigentümer mit bald 100 Mitarbeiter*innnen: es genügt eben nicht, alleine die persönliche Ebene stark zu machen oder persönlich zu versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Ohne ein Adressieren der Umstände, beispielsweise im Sinne der Einforderung gesellschaftlicher und politischer Verantwortung, bleibt dies im wahrsten Sinne des Wortes ein machtloser Appell.

Communities als Bedingung erfolgreichen digitalen Wandels

Sabine Kluge zeigt eindrücklich, dass der Wandel im Bereich der digitalen Transformation Menschen in den Unternehmen systematisch ausschließt und dabei “ein Heer von seelisch kranken Menschen” erzeugt, “die unsere Zeit nicht mehr verstehen”. Das ist wiederum ein Effekt jeder größeren gesellschaftlichen Transformation und/oder des Einsatzes neuer Technologien und Medien.

Was kaum auszuhalten ist und unsere Zeit so prägt ist, dass wir mittlerweile wissen, wie über digitale Plattformen und soziale Medien eine echte Partizipation und Kollaboration in den Unternehmen möglich ist, dem aber Entscheidungsstrukturen und hierarchisch überorganisierte Prozesse gegenüberstehen, die genau diesem Umstand nicht gerecht werden. Dass die Organisationen in der Regel einen Bauplan aufweisen, der einem digitalen Change fundamental zuwiderläuft und Ergebnisse produziert, wie sie bei Siemens und im Rahmen von #Dieselgate allzu offensichtlich geworden sind. Der einen absichtlichen Bruch induziert und zugleich betont, wer hier das Sagen hat. Das entscheidende Problem ist also, dass nicht gemeinsam und kollaborativ mit allen Beschäftigten (und ihren Sorgen genauso wie ihren Ideen) nach neuen Wegen, Produkten oder auch Strukturen in den Unternehmen gesucht wird, sondern diese Macht nur einigen wenigen vorbehalten bleibt, die aus meiner Sicht zumindest nicht besser als die meisten Betroffenen wissen, wohin uns diese gesellschaftliche Entwicklung als Gesellschaft führt.

Eine typische Entwicklung dessen, was die Sozialwissenschaften als Postdemokratie bezeichnen und was dazu angetan ist, viele digital aktive Beschäftigte zu ent-täuschen.

Woraus also Mut schöpfen?

Was mir Mut macht ist, dass es Beispiele gibt, wie Wandel erfolgreich gestaltet werden kann. Das wesentliche Element dabei ist, dass die Beschäftigten (wieder) ermächtigt werden, auch an den strategischen Entscheidungen teilzuhaben. Und hier geht es mir um die soziale Ermächtigung der kleinsten Wertschöpfungseinheiten in Unternehmen: der Ermächtigung von Gruppen und Teams.

Eine erfolgreiche digitale Zusammenarbeit hat Voraussetzungen, aber auch Konsequenzen: mindestens eine davon ist, dass sie über die Plattformen echte Communities hervorbringt. Die Entscheidungen innerhalb dieser Communities erfolgen auf Augenhöhe, d.h. also gleichberechtigt und bei allen Mitgliedern der Community. Diese hocheffiziente und äußerst produktive Form der Zusammenarbeit auf die Gesamtorganisation zu übertragen ist aus unserer Sicht eine der wichtigsten und spannendsten Überlegungen im Rahmen der digitalen Transformation. Die konsequente Stärkung der Rolle von Communities wären auch der Ansatz von uns, alle noch fehlenden Beschäftigten sinnvoll in einen Unternehmenswandel einzubeziehen.

Dass damit auch ein gesellschaftlicher Wandel möglich wird, belegen tatsächlich historisch immer wieder hervorgetretene Gemeinschaften, beispielsweise die vielen politischen Communities der Revolution von 1848/49. So gesehen ist auch die christliche Gemeinde (Kirchengemeinde) das Kernstück zumindest des katholischen Kirchenrechts. Auch sie sind übrigens in Zeiten eines gewaltigen gesellschaftlichen Wandels und dramatischen Umbruchs entstanden. Sozusagen als Antwort auf die vielen Brüche, die sich politisch abgezeichnet haben.

Eine Rückbesinnung auf die Kraft und Eigenart von Communities gibt die Hoffnung, dass es noch nicht zu spät ist, den digitalen organisationalen und gesellschaftlichen Wandel erfolgreich zu gestalten. Es bedeutet aber, sich zu Verabschieden vom Gedanken “digitaler Führer”, bei denen auch für Sabine Kluge fraglich ist, ob sie dazu bereit wären, “ihren Status und ihre Privilegien (Dienstwagen, Eckbüro, Parkplatz, hohes Gehalt) sofort einer modernen, temporären, sachbezogenen Führungsform zu opfern“ (a.a.O.). Es bedeutet auch, sich von den “digitalen Evangelisten” und Organisationsflüsterern loszusagen und demgegenüber zu ermöglichen, dass eine tatsächliche Partizipation aller Betroffenen stattfindet.

Eine Hoffnung also. Belassen wir es für heute dabei. Ich wünsche Ihnen, die sie solange durchgehalten haben, Frohe Weihnachten und dass Sie die Chance haben, bei und für sich und Ihren Lieben zu sein. Alles Gute!

PS: Der Beitrag basiert auf einem Artikel, den Alexander Klier und ich gemeinsam auf unserem Corporate Blog von Beck et al. veröffentlicht haben.

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