Wirksames Organisationslernen

Beck et al.
Beck et al.
Published in
7 min readDec 6, 2020
Die evolutive Erfolgsgeschichte von Menschen steckt darin, dass sie “ihre Köpfe zusammenstecken” (Michael Tomasello). Das gilt nach unserem Dafürhalten auch für ein wirksames Organisationslernen. Bild: klimkin — kids auf Pixabay. Lizenzfreie Verwendung unter den Bedingungen von Pixabay.

Ein Diskussionsbeitrag
von Alexander Klier und Siegfried Lautenbacher, Beck et al.

An dieser Stelle wollen wir uns zu einem Megathema äußern, das sich in Form von Hilferufen deutlich artikuliert: das bisherige bzw. das klassische Corporate Learning funktioniert nicht mehr. Als Beleg werden unterschiedliche Phänomene genannt, wie beispielsweise die fehlende Bereitschaft von Beschäftigten, die angebotenen Seminare zu besuchen und vor allem das immer größer werdende Transferproblem, also die nicht stattfindende Übertragung in die jeweilige Praxis im Unternehmen.

All die Versuche — insbesondere im Bereich des E-Learning — den Einzelnen das Lernen so angenehm wie möglich zu machen (Learner Journey), für Lernfortschritte zu belohnen (Gamification) und schließlich auch das Lernen selbst in kleinste Schritte zu zerlegen (bite-sized-learning), damit es auch noch 5 Minuten vor Feierabend zu erledigen ist, sehen wir als äußerst problematische Hilfestellung dazu an. Am Ende geht es den Verlautbarungen der Anbieter zufolge sogar darum, das Lernen selbst neu zu erfinden. Damit werden eine Menge an Lernmythen erzeugt, weil das Problem gar nicht die Betroffenen sind (siehe hierzu Klier 2020).

Mit der relativ ausschließlichen Zentrierung auf die Einzelnen hin werden aus unserer Sicht diese für ein Dilemma verantwortlich gemacht, das sich auf der Ebene der Strukturen der Organisation ergibt — und nur dort gelöst werden kann. Es ist nun kein Geheimnis, dass wir bei Beck et al. immer schon eine andere Perspektive bezüglich des Themas einer Sozialen Kollaboration eingenommen haben. Mittlerweile zeigt sich jedoch auch in der Empirie, dass das dazugehörige Soziale Lernen für das wirksame Lernen im Organisationskontext eine zentrale Voraussetzung darstellt.

Mit diesen Denkanstößen, wie es wieder zu einem wirksamen Organisationslernen kommen kann, wollen wir die Debatte neu entfachen und hoffentlich auch bereichern. Dazu werden wir am Ende ein paar Thesen formulieren.

Ja is denn scho wieder Behaviourismus?

„‘Programmed instruction‘ and teaching machines — these are concepts that are almost one hundred years old“ (Watters 2017).

Was sind Learner-Journey, Gamification, Lernverstärkung, Vergessmaschinen oder einfach auch nur Quiz und Belohnung doch für schöne Begriffe im Bereich des Corporate Learning. Leider erinnern sie — mitsamt den dazugehörigen Multiple-Choice-Tests — nicht zufällig an die Lerntheorie des Behaviourismus. Im Bereich des E-Learning und des Corporate Learning feiert der Behaviourismus ein fröhliches Comeback. Das kann man am Beispiel des “Mikrolernens” ebenso zeigen, wie an “lernverstärkenden” Quizes. Deshalb schreien jetzt auch alle nach einer Gamification, also die extrinsische Belohnung, die der Behaviourismus für den Lernerfolg voraussetzt.

Die behaviouristische Lerntheorie ist weder grundsätzlich falsch noch neu. Die theoretische Vorstellung dahinter ist die, dass Menschen als “Lernmaschinen”, in kleinsten Zeiteinheiten und in kleinsten Schritten programmiert, lernen. Der dem Behaviourismus folgende Bauplan für organisationale Lernprozesse stellt — ganz im Sinne der tayloristischen Betriebsorganisation — den Organisationen eine industrialisierte Vorstellung von Lernen zur Verfügung.

Wird es allerdings konsequent auf die Organisationsstrukturen übertragen, dann führt das zu äußerst problematischen strukturellen Weichenstellungen in der Gestaltung der betrieblichen Aus-, Fort- und Weiterbildung darin. Die dahinter stehenden Prozesse wollen wir als Tiefenstruktur des Organisationslernens bezeichnen. Aus unserer Sicht ist das Organisationslernen deshalb strukturell, d.h. bauplan- und damit komplexitätsbedingt, in einer äußerst misslichen Lage, weil die Tiefenstruktur nicht mehr zu den aktuellen Herausforderungen passt.

Nach dem Behaviourismus kam es sehr schnell zu einer Weiterentwicklung der Lerntheorien in Form der kognitivistischen, konstruktivistischen und schließlich auch sozialen Möglichkeit des Lernens von Menschen. Auch, weil der Behaviourismus im Organisationskontext nie wirklich funktioniert hat, weil er nur einen ganz spezifischen Teil menschlichen Lernvermögens abdeckt (überwiegend das Memorieren & Abspeichern), passt vieles im Organisationslernen nicht mehr zusammen.

Wissensenteignung und systematische Vereinzelung

„Wenn dem selbstbestimmten Arbeiten und Lernen etwas grundsätzlich entgegensteht, ist das am Ende nicht die fehlende geistige Offenheit und Neugierde der Einzelmenschen, sondern die untergründige DNA der Organisation selbst” (Lindner 2017).

Dass sich Mitarbeiter:innen und Lerner:innen systematisch nicht (mehr) am organisationalen Lernen beteiligen liegt jedenfalls nicht daran, dass sie nicht weiterhin lernwillig wären. Sie verhalten sich nur ziemlich rational in Bezug auf ihre bisherigen Organisationserfahrungen. Diese Erfahrungen besteht beispielsweise in einer strukturellen “Wissensenteignung”, weil das Management entscheidet, was in der Organisation gelernt werden soll. Dazu kommt die Erfahrung einer systematischen Vereinzelung der Lernenden in den Organisationsstrukturen, die so überhaupt nicht zum neuen Paradigma agilen Zusammenarbeitens in Teams passt.

Die bauplanbedingte und vom Management (oftmals total unreflektiert) gewollte Wissensenteignung stellt wiederum auf der Ebene der Tiefenstruktur des Organisationslernens eine systematische Entmündigung beim Lernen dar. Aufgrund der konkreten Prozessgestaltung wird hier durch andere bzw. fremde Personen (in eigenen Abteilungen, wie beispielsweise der Personalabteilung) festgelegt, was die Lernenden jeweils lernen müssen oder sollen.

Noch viel folgenreicher aber ist aus unserer Sicht, dass durch die Vereinzelung die Lernziele oder das zu Lernende beständig dekontextualisiert und aus dem Zusammenhang der Kollaboration gerissen worden sind. Schließlich handelt es sich bei der tayloristischen Kooperation um eine hierarchiebestimmte Form der Zusammenarbeit Einzelner, nicht um eine selbstbestimmte Zusammenarbeit in einer Gruppe. Vermeintlich sind deshalb auch die Lerninhalte austauschbar. Sie haben jedenfalls derzeit nichts mit der konkreten Zusammenarbeit im Team oder am Arbeitsplatz zu tun.

Beides geht mit einem deutlichen Bruch der Selbstbestimmung beim Lernen und des fehlenden Sinnbezugs der Lernanstrengungen einher. In diesem Fall hilft es auch nicht, die Betroffenen “mitnehmen” zu wollen oder Mitarbeiter:innen für den Unternehmenserfolg zu fördern bzw. ihnen geeignete Lernunterlagen an die Hand zu geben — oder sie gleich gar “an die Hand zu nehmen”. Alle diese Dinge führen nur dazu, die systematische Entmündigung weiter voranzutreiben, weil, um bei der Strukturfrage zu bleiben, es beispielsweise nicht darum geht, eine Selbstbestimmung über den Lernprozess, und das noch dazu am Arbeitsplatz, zu ermöglichen.

Die Konzentration auf das Individuum ist aus unserer Sicht schlichtweg der völlig falsche Weg. Eine intrinsische Motivation für entsprechende Lehrveranstaltungen lässt sich aus so ebenfalls nicht erreichen. Es geht vielmehr darum, das Lernen (wieder) in den kollaborativen Kontext zurück zu verlagern, also über die Zusammenarbeit in den Gruppen und Teams auch das Lernen sinnhaft zu organisieren. Der Sinn- und Zweckbezug, nicht die Belohnung, stellen für uns die produktiven Gelegenheiten des individuellen Lernens dar, weil sie intrinsisch motivieren.

Neues Lernen?

“Wenn wir etwas gelernt haben, dann können wir es auch verlernen. Doch einmal verstanden, können wir es nicht entverstehen” (Beck 2017).

Anthropologisch gesehen haben Menschen, sozusagen als biologische Standardausstattung und damit konträr zu behaviouristische Lerntheorien, eine intrinsische Lernmotivation. Und das haben sie sogar ein Leben lang. Diese intrinsische Motivation lässt sich aber nicht automatisch im Organisationskontext aktivieren, weil es dazu entsprechender Strukturen und Regeln, wie beispielsweise die schon erwähnte Selbstbestimmtheit beim Lernen, bedarf.

Folgt man nun den anthropologischen Grundannahmen weiter, dann hat sich das Lernen von Menschen seit etwa 40.000 Jahren nicht wirklich verändert. Das bedeutet, dass nicht das Lernen, verstanden als immer schon vorhandene Kompetenz der Individuen an sich, neu zu denken ist, sondern eigentlich die Lernprozesse, die bestimmte Arten des Lernens unterstützen sollen, oder die Lernstrukturen, die das Setting ergeben.

Produktive Lerngelegenheiten lassen sich sicher durch unterschiedliche Methoden realisieren, die wir, in Abgrenzung zur Tiefenstruktur, Sichtstrukturen nennen wollen. Eine Wirksamkeit des Lernens ergibt sich allerdings erst dann, wenn die Strukturen und Prozesse der Organisation zu den Methoden passen. Mit anderen Worten: Erst wenn sich die Tiefenstruktur des Organisationslernens, verstanden als kollaborative Gelegenheit selbstbestimmten Lernens und gemeinsames Denkens, methodisch mit der Sinnhaftigkeit individuellen Lernens paart, wird für uns wirksames Organisationslernen möglich.

Wirksames Organisationslernen

„It strikes me as a little odd that we seem happy to devote so much energy into defining what we do, yet seem to spend less time thinking about why we do it or, more to the point, who we are doing it for“ (Harris 2018).

Was könnte nun ein wirksames Organisationslernen genauer sein? Eine gängige Definition für wirksam sein ist etwa die, eine beabsichtigte Wirkung zu erzielen oder mit Erfolg etwas zu bewirken. Beides zielt auf einen Sinn oder einen Zweck, der mit einer Handlung verbunden ist — oder verbunden sein sollte — ab.

Weiter ist dieser Handlungszweck, so unsere Sicht, grundsätzlich auf die Organisation und die Zusammenarbeit in ihr bezogen, weil es darum geht, die Arbeit vernünftig erledigen zu können. Insofern handelt es sich grundsätzlich auch um kollaborative Ziele, die mit einem wirksamen Organisationslernen verfolgt werden können.

Daraus lassen sich für uns nun einige sehr konkrete Gestaltungsaufgaben angeben, die wir in Form von Thesen zur Diskussion stellen wollen.

1. Wirksames Organisationslernen muss bei den Tiefenstrukturen ansetzen, also den nicht so einfach beobachtbaren Lehr-Lern-Prozessen in einer Organisation. Diese haben “eine größere Erklärungsmacht für den Lernerfolg als die Sichtstrukturen” (Trautwein, Sliwka & Dehmel 2018, S. 2).

2. Wirksames Organisationslernen muss vor allem kollaborative Strukturen zur Verfügung stellen (also etwas organisieren), damit der individuelle Lernzweck erreicht wird bzw. der Sinn des Lernens erfasst und von den Einzelnen umgesetzt werden kann.

3. Sinnerfassendes Lernen ist zutiefst ein Gruppenphänomen und unterscheidet sich deutlich vom einer behaviouristisch gedachten “Behaltensleistung” im Gedächtnis. Es kann nur dort entstehen, wo der Zweck auch umgesetzt wird, also im Rahmen des jeweiligen Anwendungsfalls.

4. Kollaboratives Lernen, verstanden als ganz reale Möglichkeit, die Köpfe zusammenzustecken, sorgt dafür, dass die Beschäftigten intrinsisch motiviert an die Lernaufgaben gehen. Communities of Practice sind hierfür das immer wieder wichtige empirische Beispiel.

5. Die Organisation muss Strukturen und Freiräume gewähren, dass gemeinsam gedacht werden kann, um beispielsweise ein Problem zu lösen. Erst daraus kann schließlich etwas Neues, zuvor noch nicht Gedachtes, also neues Wissen, entstehen.

6. Die Gestaltung des organisationalen oder individuellen Settings genau dahingehend, dass eigenständiges Denken wieder möglich wird — und nicht immer nur bereits Gedachtes präsentiert wird –, ist eine digitale Herausforderung für Pädagogen und Didaktiker, nicht aber von E-Learning, Lernhappen oder Webinaren.

7. Es darf auch Spaß machen, die eigenen Ideen kollaborativ weiterzuentwickeln und gemeinsam auszutesten. Das gibt es aber nicht zum Nulltarif und nach dem Ende der Arbeit. Es ist ein Leistung der Organisation, dafür während der Arbeit Freiräume und Denkzeiten zu gewährleisten.

Wir sind schon mal gespannt auf die Reaktionen!

Verwendete Literatur

● Beck, H. (2017): Lernen ist gut, verstehen besser. Text verfügbar unter https://www.wiwo.de/erfolg/trends/entzauberte-mythen-lernen-ist-gut-verstehen-besser/19241822.html

● Harris, T. (2018): Let’s ditch 70/20/10 and all L&D mantras. Beitrag verfügbar unter https://learn.filtered.com/thoughts/lets-ditch-70/20/10-and-all-ld-mantras

● Klier, A. (2020): Lerndogmen und Bildungsmythen. Erscheint in: Schmidt/Killait — Schulleitung / Ein Lernsystem Bd. 4. 34. Ergänzungslieferung, LE 41.04

● Lindner, M. (2017): Anmerkung als Moderator im Disqus Thread des Corporate Learning Moocs 2017 / Viessmann Woche. Abrufbar unter

● Trautwein, U.; Sliwka, A. & Dehmel, A. (2018): Grundlagen für einen wirksamen Unterricht. Wirksamer Unterricht — Band 1. Verfügbar unter:

● Watters, A. (2017): Driverless Ed-Tech: The History of the Future of Automation in Education. Blogbeitrag verfügbar unter http://hackeducation.com/2017/03/30/driverless

--

--