Wozu Leadership — Ein Beitrag gegen den Strich

Dr. Alexander Klier
Beck et al.
Published in
7 min readJun 29, 2020
“Selbstorganisation und Selbstverantwortung leben eben davon, dass keiner mehr von außen ‚reinmanagt‘“ (Kühl 2001, S.390). Bild: thinkpublic — Leaders auf Flickr. Verwendung unter den Bedingungen der Creative Commons (BY-NC).

Hier handelt es sich um einen Blogbeitrag, der ursprünglich 2016 auf der Webseite der Beck et al. Services Gmbh von Sigi Lautenbacher und Alexander Klier veröffentlicht worden war. Er wurde mit kleinen Änderungen übernommen.

Im Moment wird im Kontext der digitalen Revolution der “Digitale Leader als Heilsbringer” heiß debattiert. Wir dagegen stellen die Frage: Brauchen wir nach der digitalen Transformation überhaupt noch Führungskräfte?

“Ein Manager, dem es erfolgreich gelingen würde, Selbstorganisation in seinem Aufgabenbereich einzuführen, würde sich in letzter Konsequenz selbst überflüssig machen. Wenn ein Manager mit dem Anspruch, komplette Selbstorganisation und komplette Selbstverantwortung der Mitarbeiter zu ermöglichen, wirklich ‚total quality‘ liefern würde, wäre er als Manager nicht mehr zu gebrauchen” (Kühl 2001, S.390).

Was Stefan Kühl hier (und schon sehr früh) im lesenswerten Aufsatz “Die Heimtücke der eigenen Organisationsgeschichte” schreibt, lässt sich direkt auf die derzeitige Diskussion um “Digital Leadership” übertragen. Dieser Blogbeitrag setzt sich konkret mit der aktuellen Diskussion auseinander. Allerdings wollen wir uns einmal paradox verhalten und einige der Thesen gegen den Strich lesen. So kommt vielleicht Leben in die Bude — unseres Erachtens eine notwendige Voraussetzung für ein Weiterkommen in der Debatte.

Um entsprechend agieren zu können, müssen wir jedoch zunächst charakterisieren, was es mit den Führungskräften oder Leadern so auf sich hat, denn immerhin wird zumindest den Leadern einiges an Eigenschaften “attribuiert”, also zugesprochen. Ein solcher Mensch ist agil, macht kein Mikromanagement und ist erpicht darauf, von mir (uns) zu lernen. Weiter trägt er oder sie keine Krawatte!, gibt permanentes Feedback und schafft es, dass ich mich als wichtig empfinde. Schließlich ist es eine Person, die meine Gefühle wahrnimmt und mir das große Bild (der Zusammenhänge) zeigt. Dabei agiert er (trotzdem) auf Augenhöhe und kann Diversität handhaben. Wenn das mal nicht Superman ist.

Wie von uns zu erwarten, gehen wir für unsere Analyse mit Hegel vor, indem wir die Führungskraft an sich, also als Baustein im organisationalen Gefüge und der Führungskraft für sich, also mit ihren (erwarteten) Eigenschaften unterscheiden. Um schließlich in der Führungskraft an und für sich eine “zu sich selbst gekommene” Führungskraft zu erblicken und charakterisieren zu können. Oder war es nicht doch eher eine Führungsaufgabe bzw. gar eine Führungsarbeit? Wir werden sehen.

Die Führungskraft an sich

Die Frage nach digitalen Führungskräften ist im Moment en vogue und erscheint für manche als der Königsweg der digitalen Transformation. Viele Autor:inen sprechen in diesem Kontext von einem Paradigmenwechsel von Führung im Sinne eines Wandels von Management (meist gleichgesetzt mit Führungskräften) hin zu “Leadership”. Die starke Betonung der Notwendigkeit, dass Führungskräfte gerade für die digitale Revolution so bedeutend seien, auch wenn sie dieser Bedeutung im Moment noch überhaupt nicht gerecht würden, lässt uns noch einmal in die Historie zurück blicken. Genauer in die Entstehungsgeschichte moderner Fabriken und Unternehmen. Die Arbeitsorganisation hier ist nach wie vor vom Geiste einer “wissenschaftlichen Betriebsführung” als Steuerungsform geprägt. Diese Form der Steuerung bedeutet vor allem eine Trennung von Hand- und Kopfarbeit(er) und, damit einhergehend, eine angenommene bzw. auch gewollte “Wissensenteignung” der Mitarbeitenden. Steuerungstechnisch (also vom leiten und lenken her gesehen) führt diese Wissensenteignung zu der Annahme, dass die Planung sowohl der strategischen Ziele, als auch der dazu notwendigen Arbeitsprozesse, nur von eigens dafür zuständigen “Managern” (Führungskräften) organisiert werden können, bspw. weil vorgeblich nur diese das entsprechende Wissen dazu haben — oder zumindest erwerben können. Die Folge dieser Überlegungen und des daraus folgenden Bauplans ist klar: die “einfachen” Beschäftigten haben sich steuerungstechnisch den Anweisungen der sich daraus ergebenden Linienhierarchie unterzuordnen. Diese wiederum wird über die Führungskräfte “realisiert” und umgesetzt. So gesehen sind Führungskräfte eine sozialtechnisch notwendige Bedingung tayloristischer Organisationen. Etwas platter ausgedrückt: “An sich” gesehen ist die Führungskraft ein Werkzeug.

Aufgrund dessen, dass gerade dieses Organisationsprinzip generell zur Disposition steht, lautet für uns die Frage bezüglich des Leadership in digitalen und vernetzten Organisationen, paradox genug, ob nicht auch “Hinz und Kunz” (als Synonym für die “normalen” Arbeitnehmer:innen), wenn sie vernetzt agieren, dazu in der Lage sind zu führen. Oder würden sie eventuell dazu in der Lage sein, wenn sie in den entsprechenden Strukturen arbeiten könnten und mit den notwendigen sozialen Kompetenzen ausgestattet würden? In diesem Fall, also dann, wenn die Strukturen (der Bauplan) so gestaltet sind, dass alle am Produktionsprozess oder der Erbringung der Dienstleistung beteiligten Personen — zumindest im Prinzip — steuern können, würden Führungskräfte tatsächlich überflüssig. Was in unseren Augen übrigens überhaupt nicht gleichzusetzen ist damit, dass Führung als Aufgabe damit überflüssig werden würde. Führung muss weiterhin stattfinden, jedoch in einer anderen Art und Weise. Also in etwa durch “das Führen” gegenüber einer starken personalen Betonung des Faktors Führungskräfte. So gesehen würde die Steuerung einer digitalen Organisation “entpersonalisiert”, nicht jedoch überflüssig oder aufgehoben. “Damit Führung zum selbstverständlichen Bestandteil der Arbeit eines jedes Beschäftigten werden kann, benötigen solche Organisationen eine belastbare und leistungsfähige soziale Architektur und Infrastruktur” (Oesterreich & Schröder 2016, S. VIII). Doch zurück zu den Führungskräften, diesmal aus der Sicht einer Beschreibung dessen, was sie an Kompetenzen mitbringen (müssen) und wie sie “für sich”, beispielsweise als Rollenvorbilder, sein sollen.

Die Führungskraft für sich

“Digitale Führungskräfte” (in wörtlicher Übersetzung von Digital Leaders) müssten als erstes ein “digital Mindset” entwickeln, was auch immer das im konkreten sein soll. Zu den grundsätzlichen Eigenschaften, die ihnen dabei zugeschrieben werden, haben wir oben schon etwas gesagt. Als Führungskräfte “für sich” kommen jedoch weitere Eigenschaften hinzu, wie etwa die, dass digitale Leader virtuelle Communities wachsen lassen, motivieren und schließlich auch führen, dass sie dabei authentisch und anerkannt für ihre Fähigkeiten sind, dass sie eine Mission und das Warum für sich geklärt haben, dass sie dieses auch kommunizieren, Risiken eingehen und schließlich Menschen in Verbindung bringen. Betrachtet man die Eigenschaften dieser Eigenschaften, so ergibt sich daraus sehr schnell das Bild, dass es sich um Bedingungen gelingender Kollaborationen handelt.

Damit diese Bedingungen in Erscheinung treten können, müssen sie vollzogen werden. Es genügt also nicht, dass man sie etwa nur erklärt oder irgendwie zeigt, dass man um sie weiß. Der Vollzug selbst kann nicht abstrakt erfolgen, sondern ist (und muss sein) Bestandteil des täglichen Arbeitshandelns im kollaborativen Kontext. Mit anderen Worten: Erst wenn Führungskräfte als kollaborative Mitarbeiter:innen agieren, dann weisen sie all die Eigenschaften auf, die ihnen im Rahmen der derzeitigen Diskussion als digital notwendige Eigenschaften zugeschrieben werden (oder auch nicht, wenn sie eben nicht darüber verfügen). Das Paradoxe an dieser Betrachtung ist, dass die Führungskräfte beim Vollzug ein Teil der zusammenarbeitenden Menschen werden. Und damit auch “einfache” Mitarbeiter auf Augenhöhe und am gemeinsamen Projekt werden müssen, um eben als digitale Leader die Eigenschaften zeigen zu können. Möglicherweise weisen sie bezüglich eines spezifischen Aspekts eine besondere Kompetenz auf, die sie für die Bewältigung der Aufgabe einbringen (können). Dann werden sie darin anerkannt und bekommen — auf diese Eigenschaft bezogen — die Anerkennung und das Mandat der anderen Beschäftigten.

Die wichtigste Überlegung, die für uns daraus folgt, ist nun die, dass diese Führungsaufgabe nicht mehr als Stelle mit einem Stelleninhaber begriffen werden kann, die bestimmten Personen — qua Befähigung, Ausbildung oder einfach aufgrund von (Macht-) Beziehungen — zugesprochen wird, sondern dass es sich um “Rollen” handeln muss, die man flexibel über ein Mandat erhält, das durch eine gemeinschaftliche Entscheidung (der beteiligten Personen) besetzt wird. Flexibel heißt dabei, je nach Eigenschaft, die notwendig ist, die gerade anstehende Aufgabe bestmöglich umzusetzen. Sowohl die Kompetenzen, als auch das Mandat werden aus dem Kreis derjenigen zugesprochen, die mit der Abwicklung der Aufgabe befasst sind, also den unmittelbar Betroffenen und nicht durch eine externe Person oder gar vom Chef.

Die Führungskraft an und für sich

Zumindest der Idee nach kann man Leadership als Führung qua Struktur bzw. Prozess betrachten und sich dann natürlich die Frage stellen, wer oder was “Prozesseigner” eines solchen Vorgangs sein könnte. Im Rahmen agiler Konzepte gibt es hierzu durchaus sehr konkrete Vorschläge und auch unterschiedliche Werkzeuge. Wir meinen weiter, dass, fasst man beide Aspekte zusammen, sich aus der evolutiven Stärke der Menschen im Sinne einer kollaborativen Zusammenarbeit und gemeinsamer Intentionalität (Michael Tomasello) durchaus ableiten lässt, dass wechselnde Führungsaufgaben anhand der je spezifischen Rolle und qua Mandat die ursprüngliche und effizientere Form von Zusammenarbeit darstellt. Fasst man dies noch einmal weiter zusammen, dann ergibt sich für uns daraus, dass die Führungskraft an und für sich gerade keine Person ist, sondern ein besonderer sozialtechnischer Ansatz und Prozess, der Führung und Steuerung in digitalen Organisationen erlaubt. “Wir glauben, dass wir als Zivilisation mit diesem Führungs- und Organisationsparadigma noch am Anfang stehen und dass das Zeitalter der Netzwerkökonomie gerade erst beginnt” (Oesterreich & Schröder 2016, S. VIII).

Die Sehnsucht nach der idealen digitalen Führungskraft, die in der derzeitigen Diskussion mit der Zuschreibung sehr vielfältiger Eigenschaften zum Ausdruck kommt, offenbart eine tiefe Sehnsucht, beispielsweise nach einer “Richtlinienkompetenz” in einer als unerhört komplex wahrgenommenen Welt. Da muss es doch Spezialisten geben, die sich auskennen und die entsprechenden Instruktionen geben können. Das ist verständlich, aber unzureichend und nicht selten sogar hinderlich, weil es strukturkonservativ wirkt. D.h.: statt auf die Veränderung von Verhalten, Fähigkeiten und Bedürfnissen von Personen als Führungskräfte zu zielen, sollten wir unser Augenmerk auf das System legen, die Prozesse analysieren und den kollaborativen Arbeitszusammenhang stark machen. Eine dabei stattfindende Rückverlagerung der Prozesssteuerung in die entsprechenden Teams und Gruppen bedeutet gleichzeitig eine zunehmende innere Komplexität jeder Organisation.

Durch die Steigerung der Selbstorganisationsfähigkeit und der damit erfolgenden Veränderung der Rahmenbedingungen, also gewissermaßen der “gesellschaftlichen Verhältnisse” für Arbeit, kann die VUCA Welt zwar nicht gemanagt werden (eine Illusion, die gerade viele Berater zu einem Versprechen gemacht haben), aber die jeweiligen Organisationen können zumindest agil auf die Herausforderungen reagieren und der Komplexität mit ihrer Eigenkomplexität begegnen. Die von uns thematisierten Paradoxien, die genau daraus resultieren, aufs Tablett zu bringen, ist im Moment das spannendste, was die Diskussion um digitale Transformation und Zukunft der Arbeit zu bieten haben. Wir freuen uns auf weitere Diskussionen darüber.

Verwendete Literatur:

Stefan Kühl (2001): Die Heimtücke der eigenen Organisationsgeschichte. Downloadmöglichkeit unter http://www.uni-bielefeld.de/soz/forschung/orgsoz/Stefan_Kuehl/Eigene%20Publikationen/Kuehl-Stefan-2001-Die-Heimtuecke-der-eigenen-Organisationsgeschichte-.pdf

Bernd Oesterreich & Claudia Schröder (2016): Das kollegial geführte Unternehmen: Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. Verlag Vahlen

Harald Schirmer (2016): What makes a leader a „digital“ leader? Blogbeitrag unter http://www.harald-schirmer.de/2016/12/06/what-makes-a-leader-a-digital-leader/ sowie Slides unter http://www.slideshare.net/haraldschirmer/digital-leadership-vs-leadership-in-the-digital-age

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Dr. Alexander Klier
Beck et al.

Ich arbeite bei der Firma changeable GmbH. Während meiner Beschäftigung bei Beck et al. habe ich diese Beiträge für cen Corporate Blog verfasst.