aus: Bauhausbücher: Kandinsky. Punkt zu Linie zu Fläche. https://monoskop.org/Bauhaus

Zu-Mutungen auf Augenhöhe

Sigi Lautenbacher
Beck et al.
Published in
6 min readFeb 12, 2019

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„Gemeinschaftsgefühl ist, “mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen” (Alfred Adler).

Ich bin sehr dankbar für die Erfahrungen dieses Jahres. Gerade diejenigen, die mich über meine Grenzen brachten, sind aus heutiger Sicht die wichtigsten.

Wenn ich auf Beck et al. schaue, spüre ich nicht nur eine große Dankbarkeit, sondern auch ein Staunen: die scheinbare Binse, dass wir uns verändern müssen, um zu bleiben, haben wir bei Beck et al. zum USP gemacht. In den vergangenen Jahren gelang uns die Transformation vom Managed Service Provider alter Schule zum Digital Transformation Service Provider mit den Schwerpunkten Cloud, Analytics und Digital Work. — 2018 haben wir unser implizites Verständnis vom Consulting, das wir seit unserem Start am 14. Juli 1989 praktizieren, explizit gemacht, und damit wurde es zum Wettbewerbsvorteil.

Unsere Sichtweise zum Beraten in der digitalen Transformation möchte ich in diesem Beitrag vorstellen. Dabei greife ich (auf vielfachen Wunsch) auf ein zentrales Kapitel meiner Abschlussarbeit zum individualpsychologischen Berater und Supervisor zurück und stelle es hier zur Debatte.

Managementberatung ist Teil des Problems

Das Modell vieler Beratungsangebote besteht darin, das Management im Sinne von Führungskräften zu beraten. Diese erhalten zumeist Empfehlungen für eine agile oder wahlweise digitale Struktur der Organisation, die sie entsprechend umzusetzen haben. Widerstand ist zwecklos. Im klassischen Management und folglich eben auch im entsprechenden Consulting kommen die meisten Beschäftigten nur mittelbar vor, zumeist als Objekte, die sich einem notwendigen Wandel ständig verweigern. Daher wird ein nicht unerheblicher Aufwand an Ressourcen der Beratungsleistung genau darauf verwendet, diese Objekte zu wandeln. Das kann aber eigentlich nur gegen deren Willen geschehen, solange man auf der Objektebene verbleibt.

In unseren Augen vollzieht hier digitales Consulting, wenn es ernst gemeint ist, eine 180°-Wende. Es geht von den Beschäftigten aus, verliert aber nicht aus den Augen, dass eine solche Wende wesentlich bei den Führungskräften und ihren Aufgaben ansetzen muss. Wenn sie diese Änderung verstehen, dann bietet das zugleich die Chance, Beratung selbst ganz anders zu begreifen und zu organisieren. So entkommen wir aus der Falle, die jeweils „Betroffenen“ abholen zu müssen.

In der Falle der Expertenberatung

Natürlich sind Berater zuallererst Experten, die ihr Handwerk hoffentlich gut verstehen. Doch Experten in was? Oftmals entwickelt sich aus der rein fachlichen Expertise, beispielsweise der Markt- oder Technologiekundigkeit, ein Überlegenheitsgefühl des „Ich weiss es besser als Du”. Eine Entwertung, die die zu Beratenden beim Kunden — in der Regel auch deutlich — wahrnehmen und die oft Abwehrmechanismen auslösen. Dazu passt eine weitere große Verlockung, der Berater*innen ausgesetzt sind: Man will eigene Beispiele gerne übertragen und glaubt deshalb voreilig, komplexe Situationen zu verstehen. Auch eine dritte Hybris, die uns immer wieder begegnet, führt zum angesprochenen Überlegenheitsgefühl: Berater*innen halten sich oft für unverzichtbar. „Ohne meine Hilfe schaffst du es nicht” — das ist meist implizit, oft genug aber auch explizit (man betrachte nur die einschlägigen Webseiten) die Botschaft, die Berater*innen und Kund*innen in eine fatale gegenseitige Abhängigkeit bringt.

Die Konsequenzen eines aus unserer Sicht falschen Berater-Bewusstseins sind offensichtlich. Durch die ständige Entwertung werden die Mitarbeitenden des Kunden bzw. des Unternehmens infolge der Beratung immer passiver und auch widerspenstiger. Gleichzeitig nimmt ihr „Minderwertigkeitsgefühl” zu, denn „ohne Berater kann ich nichts und bin ich nichts”. Sie ziehen sich zurück und übernehmen keine Verantwortung (mehr) bzw. übertragen diese Verantwortung nun auf das Consulting: „Wenn es schief geht dann war ja nicht ich bzw. waren nicht meine eigenen Leute schuld.“ Eine Sonderform der Abhängigkeit sind die begeisterten und scheinbar ermutigten Anhänger*innen, die an den Worten der Meister hängen und sich vom Rest der Organisation immer weiter abkapseln. Das Tal der Desillusionierung kommt hier vielleicht später, wird aber umso tiefer.

Bevor wir uns nun mit dem beschäftigen, was für mich Beraten auszeichnet, ein kurzer Blick auf die ursprüngliche Bedeutung von Beratung: Gerade die direkte Übersetzung von ‘Konsultation’ hat die Synonyme „sich (mit anderen) bereden”, „sich (gemeinsam) besprechen”, „(miteinander) konferieren oder verhandeln”. Bereits im Althochdeutschen wurde ‚Rat’ im Sinne von ‚Beratung’ oder ‘beratende Versammlung’ gebraucht, woraus sich die Komposita ‚Familienrat’, ‚Stadtrat’ oder ‚Rathaus’ entwickelten.

Darauf lässt sich aufbauen.

Beratend Ermächtigen …

Emphatisches Verstehen ist eine wichtige Fähigkeit, aber nicht, wenn sie zu einem “Ich verstehe Dich besser als Du!” mutiert. Meine Erfahrung ist vielmehr: Gerade weil wir unsere Kunden nicht verstehen, beschäftigen wir uns sowohl mit ihrer Organisation als auch den darin Arbeitenden sehr ausführlich und kommen uns ergebnisoffen näher. Denn in der Regel handeln alle Beschäftigten innerhalb der Organisation und deren Regeln & Kultur rational und wohlüberlegt.

Es ist also eine gute Zeit, sich von der überlegenen Expertenberatung zu verabschieden. Damit uns das besser gelingt, lohnt sich ein Blick auf die psychologische Beratung, insbesondere in der von Alfred Adler (siehe auch das einführende Zitat) begründeten individualpsychologischen Variante. Einer ihrer wichtigen Grundsätze besteht darin, dass die Ratsuchenden nicht nur die Probleme, sondern auch ihre Lösung mitbringen. Lediglich die Verbindung ist ihnen vielleicht noch nicht so ganz klar.

Die Aufgabe der Beratenden besteht folglich nicht darin, Ratschläge zu erteilen, sondern diese Verbindungen (gemeinsam) aufzuspüren. Das lenkt den Blick vom Fachlichen auf die (Selbst)- Wahrnehmung. Indem die Kund*innen ihre Probleme, die Rahmenbedingungen und schließlich auch die Situationen verknüpfen, finden sie selbst Ideen, die wiederum in konkrete Lösungen münden können. Allerdings müssen sie dies gemeinsam mit den Kolleg*innen tun. Nur so erhalten sie einen Spiegel, in dem sie ihr eigenes Handeln unter diesen Rahmenbedingungen betrachten können. Die Consultants als Externe vermögen dies zwar nicht zu bieten, aber sie können Situationen schaffen, die zwischen den Kollegen derartige Begegnungen auf Augenhöhe ermöglichen.

… und Zu-Muten

“Sich begegnen” hat alltagssprachlich viele Facetten. Zunächst einmal bezeichnet es ganz banal die Art und Weise, wie man seinem Gegenüber gegenüber tritt. In der Interaktion der Beratung begegnen wir nicht nur den Anderen, sondern auch unseren eigenen Gefühlen sowie den Gefühlen der Ratsuchenden. Nach meiner Erfahrung ist die Beziehungsqualität zwischen Berater*in und Beschäftigten für die Wirksamkeit einer Konsultation entscheidend auch und gerade in der fachlichen Beratung. Dabei müssen wir als Berater*innen in Vorleistung gehen, also unsere eigenen Gefühle zeigen, um überhaupt eine Basis für Vertrauen aufbauen zu können. Der Kontakt im beratenden Organisationskontext ist insofern also kein „Touchpoint”, kein Berührungspunkt, wie es im Onlinemarketing heisst. Es ist eine Bewegung von Berater*innen und ihren Gegenüber, die nur auf “Augenhöhe”, also unter der Prämisse der Gleichwertigkeit aller Organisationsmitglieder, glückt.

Und das braucht Mut.

Mut ist eine natürliche Eigenschaft. Leider treffen wir im Arbeitsleben meist auf strukturelle Entmutigung: Kontrollsysteme, individuelle Leistungsbeurteilungssysteme, Jahresgespräche oder hierarchische Überregulierung sind nur einige Facetten einer Misstrauenskultur. Diese findet sich in vielen Unternehmen, selbst wenn sie sich in Werbeprospekten noch so offen, cool und modern geben. Auch als Berater wissen wir nie sicher, ob wir richtig handeln. Nur ex post können wir bewerten, ob eine Entscheidung richtig oder falsch war. Deshalb ist gerade im Beratungskontext Mut nötig. Mut verstanden als die Bereitschaft, das als richtig Erkannte zu tun — auch oder gerade wenn der Ausgang unsicher ist. Als Berater sollten wir diese Verhaltensweise unseren Kunden im besten Sinne des Wortes ebenfalls “zu-muten”. Denn erst aus dieser Haltung heraus entwickeln sich kreative Lösungen und nicht nur das Verteidigen des Status-Quo.

Nur über Begegnungen auf Augenhöhe, die solche Zu-Mutungen ermöglichen, schaffen wir schlussendlich die Bedingung für ein erfolgreiches Consulting. Und dies gerade in einer von hoher Komplexität geprägten digitalen Welt. Aus der Kybernetik wissen wir: Ein System kann mit einer komplexen und dynamischen Umgebung umso besser umgehen, je besser es die eigene innere Komplexität nutzen kann. Für die erfolgreiche Beratung heißt das nach unserem Verständnis: Wir haben gemeinsam dann vieles richtig gemacht, wenn sowohl der Kunde als auch alle Beteiligten in der Organisation nach dem Beratungsprozess mehr Handlungsmöglichkeiten als zuvor haben.

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