„Bedrohte Territorialität: Juristische Diskurse über Durchlässigkeit und Schließung von Grenzen in der ‚Flüchtlingskrise‘ 2015/2016“ — Bericht vom SFB Kolloquium mit Jürgen Bast
Luise Nöllemeyer, 5. Juli 2017
Einer der hilfreichen Zugänge, um Bedrohte Ordnungen fassbar zu machen, nennt sich „Bedrohungskommunikation“. Bedrohungskommunikation, so glauben wir, ist in den Quellen sichtbar: Viele zentrale Akteure kommunizieren das Gefühl, dass in naher Zukunft ein Schreckensszenario droht, wenn nicht bestimmte Handlungen ergriffen werden — auch wenn sie sich nicht einig sind, was diese Handlungen genau sein sollen. Eine solche Bedrohungskommunikation überlagert andere Themen und scheint den Akteuren immer dringlicher zu werden. Ähnliches konnten wir im Herbst 2015 in den deutschen Medien beobachten, als die „Flüchtlingskrise“ die Schagzeilen beherrschte. Eine zentrale Frage in dieser wahrgenommenen Bedrohung war, ob Deutschland immer mehr Flüchtlinge aufnehmen könne — oder ob es zur Sicherung der eigenen Existenz nötig sei, die Grenzen zu schließen.
Dies ist jedoch nicht nur eine politische Frage, sondern hängt auch wesentlich von rechtlichen Grundlagen ab: Ist es überhaupt erlaubt, Flüchtlinge abzuweisen? Um dies zu beantworten, waren seinerzeit auch zahlreiche Juristen aufgefordert, sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen — und zwar nicht nur in den gewohnten juristischen Fachzeitschriften, sondern tagesaktuell, wie es die knappe Zeit zu erfordern schien. Wie dieser juristische Fachdiskurs in fremdem Feld verlief, stellte uns im SFB-Kolloquium Prof. Dr. Jürgen Bast vor. Der Gießener Professor für Öffentliches und Europarecht beschäftigt sich schon seit Jahren schwerpunktmäßig mit den Fragen des Migrationsrechts und der Territorialität des Rechts . Der SFB hatte Herrn Bast für ein halbes Jahr als Gastwissenschaftler geladen, um im Rahmen des Fokus „Flüchtlingskrise“ das Thema der bedrohten Territorialität zu untersuchen.
Bast analysierte Gastbeiträge, Interviews und Gutachten juristischer Autoren in Tageszeitungen und Blogs, die zwischen September 2015 und März 2016 erschienen sind. Zu wichtigen Organen des Austauschs wurden etwa der „Verfassungsblog“ oder die Rubrik „Staat und Recht“ in der FAZ. Er warf anhand des re-ordering-Modells des SFB die Frage auf, ob die Bedrohungsdiagnose(n) hegemonial wurden, welche Rolle die Mobilisierung der Rechtsexperten und die Reflexion von Grenzkonzepten spielten und welche Bewältigungshandlungen gefordert wurden.
Eine der wichtigsten Diagnosen im juristischen Diskurs glich jener, die in breiten Teilen der Öffentlichkeit debattiert wurden: Die unkontrollierte Aufnahme von Flüchtlingen sei eine existenzielle Bedrohung für die politische und soziale Ordnung. Unter Juristen kamen spezifische Topoi hinzu, die eine „Krise des Rechts“ diagnostizierten, die sich auch in der Staatsschuldenkrise abzeichne, oder eine generelles Versagen des europäischen Asylrechts, ein „Schönwetterrecht“, beklagten. Viele forderten die Schließung der deutschen Grenzen, Obergrenzen und Abweisungsverfahren.
Die juristische Expertise sei vor allem deshalb in den Tagesmedien publiziert worden, weil sie eine wichtige Ressource für konkretes politisches Handeln gewesen sei, so Basts erste These. Die Rechtsmäßigkeit bzw –widrigkeit sei ein zentrales (wenn auch kein finales) Argument im politischen Prozess, sodass es diese Deutungsressource zu mobilisieren galt. Deshalb beteiligten sich sehr viele Juristen, neben den etablierten Experten für Migrationsrecht auch staatsrechtliche Generalisten, Experten für andere Gebiete und selbst ehemalige Verfassungsrichter. Bast unterschied dabei zwei Phasen, in denen verschiedene Problemfragen diskutiert wurden:
In der ersten Phase, Ende 2015, stand im Mittelpunkt, ob die sogenannte Öffnung der ungarischen Grenze und die Aufnahme von Flüchtlingen durch die Merkel-Regierung rechtmäßig war. Hier meldeten sich viele Generalisten zu Wort, die noch auf dem Stand des Asylrechts der 90er-Jahre waren. Seinerzeit war das Konzept der „sicheren Drittstaaten“ eingeführt worden, das zu einer einseitig deutschen Abweisung führen konnte.
In den vergangenen zwei Dekaden hatten jedoch zwei Trends die Rechtslage deutlich verändert: Die Europäisierung des Flüchtlings- und Grenzrechts bedeutete nicht nur gemeinsame Außengrenzen, sondern auch ein gemeinsames System der Zuweisung von Flüchtlingen an alle Mitgliedsstaaten (Dublin-System), das eine einseitige Verweisung wie in Deutschland explizit verhindert sollte. Zudem wurde das Flüchtlingsrecht durch Ideen des Menschenrechts durchdrungen, was insbesondere den juristischen Flüchtlingsbegriffs ausweitete. Das Ergebnis im Herbst 2015: Viele Akteure bemühten längst veraltete Konzepte und Rechtssätze aus dem nationalen Recht, die — aufgrund des Vorrangs des EU-Rechts — gar nicht zur Anwendung kommen. Gegen die Meinungsäußerungen der Generalisten und Neulinge stellten sich deshalb die Migrationsrechtler mit aufklärenden Beiträgen. Es schien sich eine Deutung durchzusetzen, die zu einer De-Alarmisierung führte: Alles längst nicht so rechtswidrig wie befürchtet.
Dies änderte sich in der zweiten Phase, in den ersten Monaten des Jahres 2016, als zunehmend diskutiert wurde, ob es rechtens sei, die deutsche Grenze (zumindest für Flüchtlinge) wieder zu schließen. Hier wurden hauptsächlich versucht, Ausnahmen vom europäischen Flüchtlingsrecht zu finden, sogenannte Derogationsklauseln. Diese Versuche wurden meist schnell widerlegt: Beispielsweise eine völkerrechtliche Reziprozität oder der deutsche Grundsatz Impossibilium nulla est obligatio kommen für das Europarecht nicht zum Tragen. Aufsehen erregte dagegen ein Gutachten des ehemaligen Verfassungsrichters Di Fabio, der die effektive Grenzsicherung als zentrales Element der Staatlichkeit und damit als unveränderlichen Teil der grundgesetzlichen „Verfassungsidentität“ deutete. Diese Verfassungsidentität (die das Bundesverfassungsgericht erst 2009, unter Di Fabios Mithilfe, kreiert hatte) verpflichte die Bundeskanzlerin mehr als Europarecht. Wegen der Reputation des Verfassungsrichters wurde dieses Gutachten nicht nur unter Juristen, sondern auch in der allgemeinen Presse viel diskutiert. Hier wäre also ein Punkt gewesen, sagte Bast, an dem die juristische Meinung sich politisch nutzbar machen ließe, weil die vorher als fest angesehene Verpflichtung zum Dublin-System grundsätzlich hinterfragt wurde.
Doch zu einer politischen Umsetzung dieser von manchen Juristen geforderten Praktiken kam es nie. Die Regierung bemühte sich auf anderen Wegen, etwa den Frontex-Verordnungen und der weiteren Versicherheitlichung der EU-Außengrenzen, die wahrgenommene Bedrohung zu bewältigen. Im juristischen Diskurs dagegen hatte ein re-ordering eingesetzt. Bast sieht vor allem eine Bestätigung des schon länger begonnenen Prozesses der Territorialisierung der EU — aber auch eine Gegenbewegung von national-etatistischen Beharrungskräften. Deutlich sei, dass die Territorialität unserer politischen und rechtlichen Ordnung neu reflektiert werde.
In der Diskussion wurde vor allem der Diskursraum thematisiert: Wie hat sich der juristische Diskurs verändert? Bast berichtete hier nicht von einer Erweiterung des Expertenkreises; inhaltlich habe sich aber vor allem gezeigt, dass die bisherige Hegemonie konservativer Staatsrechtler gebrochen sei — die Menschenrechtsbindung der Migrationspolitik sei mittlerweile auch unter Juristen Konsens. Eine Öffnung des Fachdiskurses gegenüber Laien konnte er jedoch nicht beobachteten. Zum anderen wurde über den Zusammenhang der politischen und rechtlichen Ordnung gesprochen: So stimmte Bast zu, dass die Rede von der „Verfassungsidentität“ die veraltete Ewigkeitsklausel als Begriff ersetzen soll, um so in patriotisch-nationalen Kreisen anschlussfähig und politisch nutzbar zu werden. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass als Bewältigungspraxis — auch im rechtlichen Sinne — andere Aspekte als der Expertendiskurs betrachtet werden können, etwa die zahlreichen praktischen Neuregelungen im Verwaltungsrecht.
Offen blieb die Frage, ob die Bedrohung in diesem Fallbeispiel tatsächlich in der juristischen Ordnung zu suchen sei oder in diesem Diskurs mehr als externer Reiz fungierte, und — damit zusammenhängend — wie sich überhaupt Diskursfelder und Ordnungen zueinander verhalten. Einen möglichen Ansatz könnte hier die Idee von so genannten „Brokern“ bieten, die zwischen den verschiedenen Diskursen vermitteln, juristische Argumente als Ressource in den politischen Raum bringen und eventuell in solchen Phasen der Bedrohung besonders mächtig werden.
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