Wenn zwei sich streiten, freut sich TikTok

Ein Schlagabtausch über die Chancen, Risiken und Nebenwirkungen

Anastasia Rjanov
bejondtheordinary
5 min readNov 11, 2019

--

EsEs ist jung, laut und heiß diskutiert: TikTok. Der Hype um die Video-App ist groß. Mit über 500 Millionen aktiven Nutzern weltweit, etwa 4 Millionen davon in Deutschland, wird TikTok bereits für das eine oder andere Krisenmeeting bei den etablierten Social Media-Größen gesorgt haben.

Doch trotz beeindruckender Userzahlen verhalten sich Marken zum großen Teil zurückhaltend. Und ich ebenfalls! Sogar als Storyteller mit starken Social Media Wurzeln.

Warum? Vielleicht aufgrund der fehlenden Distanz zu Social News und Hypes. Beruflich bedingt denke ich in Mehrwerten: Warum ist eine neue App besonders? Wofür wird sie eingesetzt? Welche Vor- und Nachteile bringt sie mit sich? Meine Herangehensweise ist mehr kritisch als pragmatisch.

Und selten habe ich ein Netzwerk so hinterfragt wie TikTok: Sind die Zielgruppen zu jung und der Hype zu groß? Geht die Selbstdarstellung einen Schritt zu weit? Und wohin mit dem Brand Content? Ich empfinde TikTok als ein unaufgeräumtes Netzwerk mit wenig Spielraum für Konzepte oder nachhaltig wirkende Ideen. Meine Kritik ist aber vor allem eines: einseitig! Daher suche ich den Dialog. In diesem Fall zu meinem Kollegen Tim, BEJOND Story Director und TikTok Addict.

Mein erster Seitenhieb: TikTok ist facettenreich. Freundlich gesagt. Eigentlich meine ich: überladen mit Informationen und Eindrücken. Wir scrollen durch unzählige Videos, Geschichten, Botschaften. Was mir zu laut ist, ist aber für viele User attraktiv, und ich verstehe nicht, warum. Bin ich zu alt? Und warum du nicht?

Tim, mag die Frage nicht, TikTok dafür umso mehr: Niemand ist für TikTok zu alt. Und ich muss direkt ganz zu Beginn mit dem Vorurteil aufräumen, dass TikTok nur für junge Leute bzw. die — Achtung! Buzzword — GenZ ist. Natürlich ist die User-Basis, prozentual gesehen, recht jung. Aber schaut man sich den Content an, dann tummeln sich mittlerweile auch ganz andere Altersgruppen auf meiner ForYou Page.

Ich würde eher sagen, dass TikTok aufgrund seines Video-Only Ansatzes zunächst viele Menschen abschreckt. Sicher muss man mit TikTok warm werden. Aber wenn man das einmal getan an, eröffnet sich eine ganz neue Welt. Die außerordentlich kreativ ist und neue Erzählformen ermöglicht.

Da muss ich nachhaken: Die User toben sich kreativ aus, Marken hingegen kaum. Wenn sie sich überhaupt mit TikTok beschäftigen. Kommerzielle Inhalte gibt es daher im Vergleich sehr selten. Woran liegt das deiner Meinung nach?

Tims Meinung: Es kommen immer mehr Unternehmen auf TikTok an. Was ich grundsätzlich begrüße, denn ich würde fast behaupten, dass sich jedes Unternehmen mit TikTok beschäftigten sollte. Dabei muss aber jede Marke für sich herausfinden, wie sie sich auf der Plattform aufstellt. Meiner Meinung nach ist Kreativität hier ausschlaggebend für den Erfolg, denn verbinden die User gute, kreative Ideen mit der Marke, kann das die Brand durchaus positiv aufladen.

Unternehmen müssen sich aber bewusst sein, dass zu kommerzieller Corporate Content nicht funktionieren wird. Stattdessen muss der Content nativ sein und seinen ganz eigenen Charakter haben.

Mein Tipp: Ich würde mit TikTok Creators zusammenarbeiten, da diese die Plattform am besten verstanden haben und wichtigen kreativen Input liefern können. Marken sollten erstmal ausprobieren, bevor sie etwas kategorisch ablehnen. Außerdem werden sich in fast jedem Unternehmen aktuell Leute finden, die die App nutzen, von denen man sich wertvolle Tipps einholen kann

Ich bleibe skeptisch: Authentisch oder kommerziell — bekommen wir Brand Content in TikToks Kabinett der reinen Selbstdarstellung überhaupt noch unter?

Tim weiß weiter: Das ist ein sehr guter Punkt, den ich vorhin angedeutet habe. TikTok lebt von den Usern und ihrer enormen Kreativität. Deswegen hat sich hier in kürzester Zeit eine neue Generation an Influencern oder auch Creators gebildet, die für den meisten Buzz auf der Plattform sorgen. Marken sollten sich in der Zusammenarbeit mit ihnen eher unterordnen und eine mehr begleitende Rolle einnehmen. Eine zu offensive Markenkommunikation wird nicht funktionieren.

Me, myself & meine Vorurteile: Viele User registrieren sich zunächst aus Neugier. Ist es optimistisch, langfristig mit dem Trend zu planen? Oder tickt die Uhr für TikTok nur bis zum nächsten Hype oder bis Facebook einen Klon anbietet?

Punkt an Tim: Die Gefahr, dass die Kernfunktion von einem größeren Dienst kopiert wird, ist natürlich gegeben. Allerdings hat es TikTok geschafft, innerhalb kürzester Zeit eine extrem große User Base aufzubauen, die viel Zeit auf der Plattform verbringt. Ich denke nicht, dass die so schnell wieder wechseln. Über 500 Millionen Nutzer weltweit sprechen hier eine extrem deutliche Sprache.

Ich sehe vielmehr einen Relevanzverlust bei Instagram und Facebook gegenüber TikTok. Deswegen ist es für mich auch keine Hype-App mehr, sondern ernstzunehmende Konkurrenz. Bedenken habe ich grundsätzlich leider bei den Themen Datenschutz und gefährdende Inhalte. Zuletzt fiel die App immer wieder durch negative Berichte diesbezüglich auf. Ob beim Thema Datenschutz bei jungen Nutzern oder der Nutzung für Propagandavideos durch terroristische Gruppierungen. Hier muss die Plattform schnellstmöglich einen konkreten Beitrag leisten, um Missbrauch zu vermeiden. Denn aktuell gibt es noch zu viele Sicherheitslücken.

Noch ein Einwand: Ein weiterer Punkt, der mich beschäftigt, ist die grundsätzliche, sich wiederholende Herangehensweise an neue Social Media Kanäle. Kaum ist eine neue Plattform da, verfolgen Marken die User bis in seine hinterletzten Ecken. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Geht das nicht smarter?

Tim (Tok): Natürlich ist es so, dass Plattformen mit einer besonders hohen Reichweite und Viralität die Gunst von Marken gewinnen. Und Marken suchen kontinuierlich nach Vermarktungsmöglichkeiten. An der Stelle professionalisiert sich TikTok aktuell. Denn Media und Monetarisierung stecken zwar in den Kinderschuhen, gewinnen aber mit dem Erfolg der Plattform zunehmend an Bedeutung.

Ich würde TikTok auch nicht mit anderen Social Channels vergleichen, da es einfach nicht wie Facebook oder Instagram funktioniert. Es gibt aktuell keine Plattform auf der man so schnell an organischer Reichweite und Engagement gewinnt, wie auf TikTok. Deswegen sollten sich Unternehmen auch mit der App beschäftigen, um zunächst mal zu verstehen, wie das Ganze funktioniert.

Mein Fazit: Mir gelingt ein Cut. Zwischen meiner persönlichen Antipathie gegenüber TikTok und professioneller Neugier. Was mich stört, ist die Entwicklung im Userverhalten. Die steigende Selbstdarstellung, besonders junger Nutzer. Was mich interessiert sind die längerfristige Entwicklung des Channels und die Möglichkeiten für neuen, kreativen Content.

Wir können etwas von TikTok lernen. Zum Beispiel eine ganze Menge über junge Zielgruppen, ihre Interessen und ihren Humor. Und über den Umgang mit Videos im Allgemeinen!

Mir scheint wahrscheinlich, dass TikTok Nutzern, Kreativen und Marken langfristig innovative Modelle zur erfolgreichen Selbstvermarktung liefern wird. Ich frage mich, um welchen Preis.

--

--