NWdigital. Das Kundenportal des Kommunalen Jobcenters Kreis Bergstraße.

Perspektivwechsel als Startpunkt
„Ich habe letzte Woche Hartz 4 beantragt. Nun schreibt das Jobcenter mir heute, dass es noch eine ganze Reihe Unterlagen zur Bearbeitung benötigt. Wenn ich den Kram abgeben will, fahre ich 30 Minuten mit dem Bus! Mir ist das unangenehm und irgendwie schäme ich mich auch.“

Eine emphatische Grundhaltung ist essentiell für einen nutzerorientierten Arbeitsprozess. Das kommunale Jobcenter Kreis Bergstraße hat sich das zu Herzen genommen — siehe obige Darstellung der Situation eines fiktiven Kunden — und ein digitales Kundenportal für die Bearbeitung des Hartz 4-Antrags entwickelt: NWdigital ist die Antwort auf den vormals langwierigen und unangenehmen Antrag, der von unnötigen Wege- und Wartezeiten und großem Aufwand bei der Einreichung der Unterlagen gekennzeichnet war. Über NWdigital können jetzt fehlende Formulare einfach abfotografiert und hochgeladen werden. Die Kund*innen haben eine Übersicht, welche Dokumente online sind. Ebenso steht der fertige Bescheid natürlich digital zur Verfügung.

Und wie genau ging das?
Durch den Projektleiter wurde bei einem Design Thinking Workshop zur OZG Umsetzung mit Kunden an einem Onlineantrag gearbeitet. Diese Erkenntnisse flossen auch in dieses Projekt ein. Für schnelle Rückmeldungen wurde unkompliziert auf die Meinung von Kunden in einer Maßnahme im Haus zurückgegriffen. Am Ende des Vorgangs wird dem Nutzer eine kurze Umfrage mit Sternebewertung und Textfeld via Surveymonkey eingeblendet. Aktuell verfügt der Service über eine Benotung von 4,4 Sternen. Schlechte Beurteilungen und Verbesserungsvorschläge wurden zurückgerufen und interviewt. Daraus ergab sich bereits eine 2.0 Version.

Alle Kunden des Jobcenters sind von dem Projekt angesprochen, was einem Altersbereich von 15 bis 67 Jahre entspricht. Ein großer Anteil davon sind Nicht-Deutschmuttersprachler, der Bildungsstand sehr heterogen. Nicht betroffen sind einzig Kunden, die nicht über die technischen Voraussetzungen verfügen. Eine Einbindung aller sich daraus ergebenen Gruppen war nicht möglich. Durch eine einfache Bedienung und die Mehrsprachigkeit (7 Sprachen!) sollen daher möglichst alle Gruppen angesprochen werden. Insofern war jeder befragte Kunde repräsentativ für die Gesamtheit. Betroffen sind auch alle Mitarbeiter. Diese wurden durch Schulungen und Beteiligung an weiteren Arbeitsgruppen zu digitalen Themen eingebunden.

Infostele

Das Wichtigste in Kürze

Initiierende Stelle:
Neue Wege Kreis Bergstraße — Kommunales Jobcenter

Umgesetzt für:
Landkreis Bergstraße

Ebene:
Kommune

Team (Intern)
- Projektleitung
50% über 9 Monate,
- Teamleitung EDV 10 % über 6 Monate (technische Leitung)
- Systembetreuer IT der Kreisverwaltung (technische Anbindung an das DMS-System der Kreisverwaltung)
- Operative Teamleiterin (Test und Hinweisgeberin aus der Praxis)
- Mehrere Fallmanager*innen (Gewinnen von Erstnutzern aus dem Kundenbestand, Sammeln von Rückmeldungen, Praktiker)
- Masterstudentin Sozialmanagement (Begleitung der Version 3 des Portals, Durchführung einer größeren Usabilityumfrage)

Team (Extern)
- Land Hessen Finanzierung
- Teilprojektleiter beim Hersteller eAkte der Kreisverwaltung
- Teilnehmer*innen aus einer Neukundenmaßnahme im Jobcenter
- Jobcenter-Kund*innen als Nutzer in der Pilotphase und darüber hinaus
- Etymo und Lebenshilfe e.V. (Fachübersetzungen)
- Fachanwalt für Datenschutz und Verwaltung (Erstellung Gutachten)

Beteiligte Disziplinen
-
Softwareentwicklung
- Projektmanagement
- IT-Service
- Wissenschaftliche Begleitung durch Masterstudentin
- Kundenperspektive
- Juristisch Expertise

Dauer
6 Monate bis Pilotstart im Juni 2018
9 Monate bis Regelbetrieb im September 2018
seit 2019 ständige Weiterentwicklung

Budget (exkl. Personalkosten eigener Mitarbeiter)
60.000 €

„Das Projekt war gemessen am Erfolg und der Nachhaltigkeit äußerst günstig.“

Nachgefragt bei Christian Rößler

Wie stellen Sie ihr (erlerntes) Wissen zu Innovationsprozessen anderen zur Verfügung?
Wir sind im strukturierten Austausch mit anderen Kollegen im Rahmen der Arbeitsgruppe Digitalisierung der hessischen Kommunalen Jobcenter.
Ich arbeite seit zwei Jahren im bundesweiten OZG Labor zum Themenfeld Arbeit und Ruhestand an der Umsetzung der Leistungen aus dem SGB II mit.
Wir kommunizieren unsere Erfahrungen auf unterschiedlichsten Veranstaltungen — Tag der Jobcenter, Vergleichsringtreffen, Zukunftsdialog, Fachtage — woraufhin sich Interesse von Außen zeigte, verschiedene Kreise bei uns zu Gast waren, um sich das Projekt nochmals genauer vor Ort erklären zu lassen.

Was war die größte (unerwartete) Herausforderung?
Der Umgang mit dem schlagartig aufkommenden externen Interesse an dem Projekt nach der erfolgreichen Umsetzung und der Dynamik, die daraus erwuchs. Aus „Gute Idee, machen Sie mal“ wurde eine „Stabstelle Digitalisierung“ beim Jobcenter und eine Vielzahl von weiteren Projekten unter der Überschrift „NWdigital“.

Was würden Sie beim nächsten Mal anders machen?
Wir würden versuchen, stärker das „große Ganze“ im Blick zu behalten. Aufgrund der strengen zeitlichen Vorgaben des finanzierenden Ministeriums (HMSI) und der beschränkten personellen Ressourcen waren diese und die folgenden Projekte eher eine Art Patchworkdecke der Digitalisierung. Das große Konzept dahinter entwickelte sich erst beim weiteren Tun.

Welchen Vorgang gehen Sie als nächstes an?
NWdigital 3.0 als dritte Ausbaustufe des Portals und weitere Themen wie Onlineterminierung und interne und externe Videokonferenzen.

Was würden Sie anderen Behörden raten, die sich aufmachen einen ähnlichen Prozess wie Sie anzugehen?
Einfach mal anfangen! Sie brauchen weder viel Geld noch Spezialisten. Es reichen einige motivierte Mitarbeiter, der richtige (kundenzentrierte) Blickwinkel und der Mut, innovative Ansätze mal durchzuziehen.

Glauben Sie, dass das gleiche oder ein ähnliches Ergebnis mit anderen Mitteln hätte erreicht werden können? Mit welchen?
Das Projekt war gemessen am Erfolg und der Nachhaltigkeit äußerst günstig. Die Vorstellung, dass es z.B. in einer einheitlichen Form für alle Jobcenter entwickelt worden wäre, hat ihren Reiz. Aufgrund der heterogenen Softwarelandschaft in den Jobcentern hätte das aber ungleich länger gedauert und wäre wesentlich teurer geworden. Es hätte auch nicht die gleichen positiven Effekte in den einzelnen Verwaltungen zur Folge gehabt.

Was genau hat den Anstoß zur Umsetzung gegeben?
Drei Dinge: Erstens das extrem hohe Arbeitsaufkommen im Laufe der Jahre 2017/18 aufgrund der vielen Geflüchteten, die ins SGB II wechselten. Die generelle Möglichkeit durch die Einführung der e-Akte bei uns im Jahr 2017 und drittens der Ende 2017 plötzlich auftauchende Fördertopf des Landes Hessen, der den Kommunen ermöglichte, innovative Ideen mal anzugehen.

Welche neuen Kompetenzen wurden eventuell erlernt und welche neuen Kompetenzen benötigt „Verwaltung“ in der Zukunft?
Diese Art der Projektarbeit war bisher bei uns nicht üblich und wurde neu erlernt. Aus dem Ergebnis entwickelte sich ein großes Selbstvertrauen, was diese Arbeitsweise angeht und die Bereitschaft auch als vermeintlich kleine verstaubte Verwaltung mal innovative Ideen umzusetzen.
Dieser Mut und diese Bereitschaft und die dazugehörigen Freiheiten müssen in einer modernen Verwaltung zunehmen und verfestigt werden.

Worauf sind Sie besonders stolz?
Unser Jobcenter war das deutschlandweit erste, das einen solchen Dienst für seine Kunden anbieten konnte. Dabei handelt es sich um eine komplette Eigenentwicklung nach unseren Ideen. Die Resonanz der Kunden ist extrem positiv und es wird breit genutzt. Zwischen Start des Projekts und Beginn des Praxistests lagen nur 6 Monate und es hat bei uns nachhaltig das Thema Digitalisierung vorangebracht.

Ansprechpartner

Christian Rößler
Projektleitung
Neue Wege Kreis Bergstraße — Kommunales Jobcenter
https://www.neue-wege.org/nwdigital/
https://www.sgb2.info/DE/Ideen-Koepfe/Gute-Praxis/jobcenter-nw-digital.html

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Preis für gute Verwaltung
Best Practice der guten Behördenarbeit

Die Auszeichnung macht neuartige Lösungen in der Verwaltung sichtbar und trägt so dazu bei, bürgerzentrierte Denk- und Arbeitsweisen weiter zu etablieren.