Idealistische Lokalpiloten

„Der hyperlokale Journalismus ist tot“ — das hörte man zumindest von amerikanischen Kennern der Szene schon vor einigen Jahren. Dies hielt Armin Lehmann, Redakteur des Berliner Tagesspiegel, nicht davon ab, vor zwei Jahren mit dem Zehlendorf-Blog genau so ein hyperlokales Projekt zu starten. Ein Kantinengespräch.

Maximilian H Tonsern
#betajournalism berlin

--

Armin Lehmann greift zur Rosinenschnecke, er ist hungrig. Die Kantine des Tagesspiegel ist gemütlich menschenleer. Zwischen raschen Bissen erinnert er sich an diesen einen Moment, als ihm etwas dämmerte: Wie schwierig es werden würde, was er und ein Kollege sich ausgedacht hatten. Nämlich einen sehr lokalen Weblog nur über den Berliner Stadtteil Zehlendorf ins Leben zu rufen. Schließlich kamen aus den USA damals gerade Nachrichten über das Scheitern ähnlicher hyperlokaler Projekte. „Toll, jetzt sind die tot“, hat sich Lehmann zunächst gedacht. Dann aber beschlossen, trotzdem weiterzumachen. Denn Totgesagte leben ja bekanntlicherweise länger.

Armin Lehmann sitzt in der Kantine des Tagesspiegel (Foto: David Baumgartner)

Lehmann werkelt seit 1993 beim Tagesspiegel, im Printbereich etwas länger. Beim Tagesspiegel war er schon Ressortleiter im Sport und in der Politik. Nun ist er motivierter Redakteur für „besondere Aufgaben“ und Chef des Zehlendorf Blogs. Besonders lokal also. Der Tagesspiegel ist thematisch überregional angelegt, dennoch ist man stolz auf seine starke Wurzeln in Berlin. Wurzeln, deren Enden leicht darben: Die Auflage geht seit 2008 stetig zurück, derzeit liegt man bei cirka 110.000 Stück. Soviel zu Print. Online steht man wahrlich besser da. Mit über 3 Millionen Unique Clients pro Monat ist der Tagesspiegel der klare Spitzenreiter der deutschen Hauptstadt und lässt nicht nur traditionelle Konkurrenten wie die Berliner Zeitung locker links liegen.

Deswegen noch mehr Lokaljournalismus

Links von Lehmann sitzt Johannes Ehrmann, Chefblogger für den Berliner Bezirk Wedding. Er schlürft einen Tee, sieht ziemlich fertig aus, lange Nacht im Kiez oder so. Beide haben nicht nur gleichklingende Namen, sondern sind auch der Überzeugung, dass nach wie vor Bedarf an Berichterstattung aus der Nachbarschaft besteht. Auch wenn die großen Zeitungen kaum mehr Geld dafür in die Hand nehmen wollen: „Früher hatten wir bis zu zwölf Seiten Lokalberichterstattung. Da konnte man über alles schreiben“, erzählt Lehmann von seiner Anfangszeit beim Tagesspiegel und wischt Krümel vom Tisch, „heute sind es netto nur mehr zweieinhalb Seiten.“

Johannes Ehrmann sitzt ebenfalls am Tisch (Foto: David Baumgartner)

In seiner Frühzeit war Lehmann für vier Bezirke verantwortlich. Heute weiß er: „Wir gehen da nicht mehr tief rein.“ Dabei gäbe es wichtige Geschichten zu erzählen. Schulen, die jahrzehntelang schon auf Turnhallen warten zum Beispiel. Diesen Befund teilt auch Johannes Ehrmann. In „seinem“ Bezirk Wedding trifft er auf viele Menschen, die sich gerne einbringen würden. Doch es fehlte an Plattformen. Diese entwickelt der Tagesspiegel seit 2012 in verschiedenen Vierteln Berlins, heute gibt es neben Zehlendorf und Wedding auch in Kreuzberg und Pankow Viertelblogs.

Ehrmann, der für seinen ersten Blogtext „Wilder, weiter, Wedding“ gleich mal den Theodor-Wolff-Preis erhielt, sieht den Vorteil der Hyperlokalität darin, im Kleinen große Geschichten zu entdecken. „Wenn wir beim Tagesspiegel unseren Namen, unsere Wurzeln nicht dafür nützen würden, lokal aktiv zu werden, würden wir viel verschenken“, gibt ihm sein Chef Lehmann Rückendeckung.

Strategie? Noch ausstehend

Lokal aktiv wurde man beim Tagesspiegel eher spontan, eine richtige Strategie gibt es auch nach zwei Jahren nicht. Es hat den Anschein, dass man eher aus der Hüfte schießt. Das fehlende Konzept sieht Lehmann fast als Vorteil: „Wir hätten sonst niemals angefangen, sondern würden wir wahrscheinlich noch immer planen.“ Nach einem Gespräch mit dem Online-Chef ließ sich Lehmann für neun Monate freistellen, um sich nur noch mit Zehlendorf zu befassen. Viele seiner ursprünglichen Wünsche für den Blog wurden jedoch nicht erfüllt. „Trotzdem haben wir weitergearbeitet, da es einfach Spaß macht.“

Lehmann überlegt, noch eine Rosinenschnecke zu nehmen (Foto: David Baumgartner)

Den Blogs, die folgten, ging also kein Masterplan voraus. Stattdessen beauftragte man eher kurzfristig ortskundige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Bloggen. Inhaltlich gibt es keinen roten Faden, der sich durch die Blogs zieht. Und das ist gut so. Denn wie die Viertel und ihre Bewohnerinnen und Bewohner unterscheiden sich auch die Themen voneinander: Im klassischen Arbeiterviertel Wedding und im traditionell bürgerlichen Zehlendorf, der gemeinhin als „reich, grün und langweilig“ gilt, sind es andere Themen, die bewegen.

Auch diese Klischees gegen den Strich zu bürsten, ist ihm ein Anliegen: „Jeder, der so einen Blog macht, muss seinen eigenen Sound finden“, sagt Lehmann. Das zeigt auch der Kreuzberg-Blog. Verseucht durch Gentrifizierung und massiv in einem Wandel vom schlechten zum schicken Viertel steckend, liest man im Blog kaum Tagesaktuelles. Dafür viele Fotostrecken, um eben den Wandel zu dokumentieren. Auftrag erfüllt? Lehmann nickt. Unabhängig von Themenwahl und Orten stellt sich jedoch die Frage der Finanzierung.

Idealismus als Hauptkapital

„Wenn du Journalismus machst, musst du am Ende des Tages finanzierbar sein“, erklärt Lehmann. Es sei dabei jedoch schwierig, die Vermarkter im Haus von einer journalistischen Idee zu überzeugen. Der denke nur an Zahlen: „Der Vermarkter fragt nur nach Reichweite und Klickzahlen. Ich bin aber ein Pilot. Ich fange erst an.“ Im eigenen Haus bleibt für die Blogprojekte wenig Geld übrig — sie leben vom Idealismus ihrer Betreiber, nicht von verlegerischen Investitionen.

Was mit den Tagesspiegel-Blogs passiert ist noch ungewiss. Beide Redakteure sehen aber hoffnungsvoll in die Zukunft (Foto: David Baumgartner)

So stellte sich für Lehmann die Frage nach einer Reichweite von Anfang an nicht. Auch Ehrmann stimmt zu: „Man muss wegkommen von diesem klickbasierten Journalismus. Sonst erscheinen nur mehr Artikel über Kuriositäten, wie es bei manchen Medien längst der Fall ist. Geschichten über Seelöwen, die Pinguine vergewaltigen und so ein Quatsch.“ Was für die beiden wirklich zählt, sind Reaktionen, die die jeweiligen Blogeinträge hervorrufen — da das ein Indiz dafür sei, die Leserinnen und Leser wirklich erreicht zu haben. Beim Tagesspiegel entscheidet es sich demnächst, ob und in welcher Form die Blogs weitergeführt und unterstützt werden. „Die Chancen stehen gut“, resümiert Lehmann. Und greift nach der nächsten Rosinenschnecke.

(Ein Artikel von Matthias Strohmeier und Maximilian H. Tonsern)

--

--