Texte vergleichen, Literatur tradieren

Mit diesen einfachen Methoden könnte die Germanistik Schwarze deutsche Literatur als Literaturtradition lesen. — Jeannette Oholi (Universität Gießen) deutet in ihrem Vortrag »Afrodiasporisch, widerständig, subversiv — Schwarze deutsche Literatur als Literaturtradition lesen« die Merkmale Schwarzer deutscher Literatur an, erklärt ihre mangelhafte Kanonisierung und macht konkrete Vorschläge, wie dieser Missstand zu beheben wäre: Dabei spielen nicht nur Literaturpreise und öffentlichkeitswirksame Publikationen eine Rolle, sondern auch der simple und bodenständige Textvergleich.

By Catherine Rensmann

In meinem Amerikanistikstudium war Schwarze Literatur von Beginn an allgegenwärtig. Bereits in der Einführungsvorlesung im ersten Semester wurde uns jungen Studierenden vermittelt, dass die Amerikanistik als Teil des Englischen Seminars der Universität Münster ihre Lehre nicht auf den traditionellen, weißen Kanon beschränkt. Als Einführungslektüre haben wir Claudia Rankines Citizen gelesen, und in den folgenden Semestern belegte ich Seminare zu Black Feminist Literature oder Queer Nigerian Fiction. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Schwarzer Literatur war hier eine Selbstverständlichkeit, während ich in meinem Zweitfach, der Germanistik, vergeblich nach einem Seminar zu Schwarzer deutscher Literatur Ausschau hielt. Und letztendlich musste ich feststellen, dass die bloße Erwähnung Schwarzer deutscher Autor*innen in meinem Germanistikstudium eine Ausnahme darstellen würde.

Die Germanistik in Deutschland hat Schwarze Literatur noch nicht in ihren Curricula verankert und ganz ähnlich verhält es sich auch mit der Forschung. Anders sieht das etwa in den USA aus,[1] wo zu Schwarzer deutscher Literatur im Rahmen der Black German Studies weitaus mehr gearbeitet wird als in Deutschland. Jeannette Oholi setzt mit ihrer Forschung bei genau dieser Diskrepanz an. Woran lieg es, dass Schwarze deutsche Literatur noch immer kaum Anerkennung in der ›Inlandsgermanistik‹ findet? Die Doktorandin der Universität Gießen erkennt den Kern des Problems unter anderem in der mangelnden Kanonisierung Schwarzer Literatur in Deutschland. Als Folge dessen sei publizierte Schwarze deutsche Literatur oft weniger sichtbar als die Werke weißer deutscher Autor*innen. Darüber hinaus gäbe es noch eine Vielzahl an Werken Schwarzer Autor*innen, die die Hürden zur Publikation im weißgeprägten deutschen Literaturbetrieb nicht überwinden konnten und somit ausschließlich in Archiven zugänglich sind.

Es fehle in der Gesellschaft, vor allem aber in den Kulturinstitutionen Deutschlands, das Bewusstsein für Schwarze deutsche Literatur, von einer Schwarzen deutschen Literaturtradition ganz zu schweigen. Oholi arbeitet mit ihrer Forschung für die Anerkennung dieser Literaturtradition, die ihre Anfänge, wie sie betont, nicht erst 1980 mit May Ayim oder 2016 mit Sharon Dodua Otoo habe, und auch nicht erst seit der Black Lives Matter Bewegung 2020 relevant geworden sei, sondern eine durchaus weitreichendere Geschichte habe, die es mitunter noch archivarisch zu rekonstruieren gelte. In ihrem Vortrag »Afrodiasporisch, widerständig, subversiv — Schwarze deutsche Literatur als Literaturtradition lesen«, den sie im Rahmen der Reihe »Black German Studies: Transatlantic Perspectives« in Münster hielt, legt Oholi konkrete Ansätze dar, wie Schwarze deutsche Literatur als Literaturtradition gelesen werden kann und was sich vor allem in den Institutionen Deutschlands ändern muss, damit Schwarze Literatur auch in der Wissenschaft die ihr angemessene Würdigung findet.

Verschiedene Buchcover: Schwarze deutsche Literatur hängt zwar oft eng mit Aktivismus und Antirassismus zusammen, sollte aber zugunsten einer literaturästhetischen Untersuchung nicht darauf reduziert werden.

»Für mich ist Schwarze Literatur Polyphonie, also eine Vielstimmigkeit.« Mit diesem Gedanken eröffnet Oholi am 19.01. den Abend im Münsteraner Hörsaal JO1. Schwarze deutsche Literatur vereine eine Pluralität von Stimmen und Erfahrungen in einer Gesellschaft, in der Schwarzen Menschen noch immer nur ein begrenzter Platz zugeschrieben werde. Diese Begrenzung bestehe auch darin, dass Schwarze Literatur in der Regel auf wenige Topoi reduziert werde: Trauma, Mitleid und Aktivismus. Von Schwarzen deutschen Autor*innen wird zunächst einmal nur das Verhandeln dieser wenigen Themen erwartet; alles, was aus diesem Schema herausfällt, findet weniger Beachtung. Bei gleichzeitiger Anerkennung dieser Absichten, betont Oholi, dürfe diese Literatur nicht auf einen aktivistischen Geist beschränkt werden. Eine rein politische Lesart sei nicht ausreichend, um der Polyphonie Schwarzer deutscher Literatur gerecht zu werden. Es bedürfe einer literaturästhetischen Betrachtung, die Einzelwerke nicht im luftleeren Raum schweben lässt, sondern in einer Literaturtradition verankert.

Doch was muss passieren, damit Schwarze deutsche Literatur in ihrer Polyphonie sowie in ihrer Literaturtradition verstanden wird? Diese Frage stellt Forscher*innen und Aktivist*innen wie Oholi vor Herausforderungen. Ein erster Schritt für die Literaturwissenschaft wäre es, literarische Texte mit Analysen zu würdigen, die auf angemessenen Methoden fußen. Ein Blick in die USA zeigt, dass solche Methoden und Theorien zur Analyse Schwarzer Literatur vorhanden sind; jedoch sind diese weder ausnahmslos direkt auf Schwarze deutsche Schriftsteller*innen und ihre Werke übertragbar, noch werden sie in der ›Inlandsgermanistik‹ allgemein anerkannt. Es herrsche noch immer ein Unbehagen gegen die interdisziplinären, oft kulturwissenschaftlich geprägten Theorien der USA und, so versteht es Oholi, auch eine Abwehr antirassistischer Theorien in Deutschland.

Jeannette Oholi am 19.01. im Hörsaal JO1

Oholi stellt in ihrem Münsteraner Vortrag eine wenig kontroverse und gleichermaßen einleuchtende Methode zur Erarbeitung eines Schwarzen deutschen Literaturkanons vor: den Textvergleich. Ein komparatistischer Ansatz biete Raum für die Hervorhebung der Facetten und Vielstimmigkeit Schwarzer Literatur und wirke damit der Vereinheitlichung und dem eindimensionalen Verständnis, was Schwarze deutsche Literatur sein könne, entgegen. Dieser Ansatz müsse sich zudem nicht zwangsläufig nur auf Schwarze deutsche Literatur beschränken. Es biete sich gerade auch der Vergleich mit anderen afrodiasporischen Texten an, um die charakteristischen Merkmale der Schwarzen deutschen Literatur zu definieren.

Oholi agiert mit ihrer Methode auch im Sinne Chimamanda Ngozi Adichies, die bereits 2009 in ihrem renommierten »TED-Talk« vor den Gefahren des »single story« Narratives warnte (vgl. Adichie, 2009). Die »single story«, die Eindimensionalität also, wird durch die vergleichende Analyse von Schwarzer deutscher Literatur dekonstruiert. Es entsteht damit ein Austausch zwischen den Werken, die es afrodeutschen Stimmen ermöglicht, ins Gespräch zu kommen und eine Eigendynamik anzunehmen. Die Schwarze Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo, die unter anderem auf Deutsch publiziert, beschreibt es wie folgt: »Für mich ist [Schwarze Literatur] eine Suche, eine Bewegung. Schwarze Literatur ist vielleicht eher ein Verb als ein Nomen.« (Aguigah, 2022)

Es ist gerade die Mobilität und Polyphonie, neben anderen charakteristischen Merkmalen wie etwa der Uneindeutigkeit und der Bezugnahme auf den afrikanischen Kontinent, die Schwarze deutsche Literatur in Oholis Augen präge. Für die Analyse dieser Literatur in Hinblick auf die Etablierung einer Schwarzen Literaturtradition sind diese Aspekte von zentraler Bedeutung. Wie Werke Schwarzer Autor*innen dynamisch werden und Begriffe innerhalb Schwarzer Literatur neue, pluralisierte Bedeutungen annehmen, verdeutlicht Oholi bereits in ihrem 2019 veröffentlichten Artikel »Afrodeutsche Gegenwartslyrik jenseits von Dazwischen: Den Afropolitanismus für die Gedichtanalyse nutzen«. Oholi sieht den literarischen Dialog zwischen den afrodeutschen Stimmen als kreatives Verhandeln eines »Dazwischen«, einer Zugehörigkeit zwischen verschiedenen Räumen sowie über diese Raumgrenzen hinweg. Unweigerliche werden so auch im Dialog mit den Leser*innen Konzepte der Zugehörigkeit und der Heimat neu gefasst (Oholi, 2019, S. 355). Oholi spricht daher bewusst von Zugehörigkeiten und Heimaten, um die pluralen Deutungsmöglichkeiten dieser Begriffe zu symbolisieren. Heimat muss nicht ein Ort sein, denn insbesondere für Afrodeutsche kann Heimat mehrfach verortet sein, kann zwischen Räumen liegen oder auch ohne räumliche Festlegung auskommen.

Im Oktober 2022 erschien der Sammelband zum Resonanzen-Festival (Spector-Books), im kommenden Mai wird das Festival erneut im Rahmen der Ruhrfestspiele in Recklinghausen stattfinden.

Jeannette Oholi trägt mit ihrer Forschung dazu bei, dass gerade durch die Verhandlung von Pluralität und Einheit innerhalb der Schwarzen deutschen Literatur das Bewusstsein für eine Schwarze Literaturtradition und die Bedeutung von Schwarzer Literatur innerhalb der Germanistik steigt. So wie sich die Polyphonie durch die Selbstständigkeit der Einzelstimmen definiert, hat Oholi es sich zur Aufgabe gemacht, die Pluralität Schwarzer deutscher Literatur innerhalb einer geschichtlich verankerten Literaturtradition sichtbar zu machen. Mit Literaturpreisen und -festivals, wie etwa dem von Sharon Dodua Otoo kuratierten Schwarzen Literaturfestival Resonanzen, an dem Oholi als wissenschaftliche Beraterin mitwirkte, wird ebenfalls die literarische Traditionsbildung gefördert und in die Öffentlichkeit getragen. Der Weg zur Etablierung Schwarzer Literatur in deutschen Institutionen sei zwar noch lang und, wie Oholi zugibt, oft auch ernüchternd — dennoch schließt sie ihren Vortrag in Münster mit einem optimistischen Ausblick für die Entwicklung der Schwarzen deutschen Literatur als festen Bestandteil der Germanistik in Deutschland. Man wird die Kluft zwischen der pluralen gelebten Gesellschaft in Deutschland und dem begrenzten institutionalisierten Wissen zu Schwarzer Kultur und Literatur überwinden können, so Oholi, indem man verstärkt schwarze Autor*innen in die Universitäten und in die Diskurse bringe.

[1] Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass die USA selbstverständlich nicht das einzige Land sind, in dem Black Studies betrieben werden, und dass die Ansätze von dort auch nicht durchgängig unproblematisch sind.

Catherine Rensmann arbeitet als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Komparatistik mit einem besonderen Schwerpunkt auf Transatlantische Literaturgeschichte am Germanistischen Institut der Universität Münster. Sie trägt zur Recherche im Editionsprojekt zu Thomas Mann bei. In ihrer Bachelorarbeit konzentrierte sich Catherine auf Thomas Mann in Palästina, wozu sie in Kürze gemeinsam mit Kai Sina einen Artikel im Tagungsband zu »Thomas Manns globaler Autorschaft« veröffentlichen wird.

References

Adichie, C. N. (7.10.2009). The danger of a single story. Abgerufen von https://www.youtube.com/watch?v=D9Ihs241zeg [26.01.2023]. Vortrag gehalten am 23.07.2009 im Rahmen der Veranstaltung TEDGlobal 2009 in Oxford, Großbritannien.

Aguigah, R. (2022). »Schwarze Literatur ist eher ein Verb«. Schwarzes Literaturfestival »Resonanzen«. Deutschlandfunk Kultur. Abgerufen von https://www.deutschlandfunkkultur.de/schwarzes-literaturfestival-recklinghausen-100.html [26.01.2023].

Oholi, J. (2019). Afrodeutsche Gegenwartslyrik jenseits von ‚Dazwischen‘: Den Afropolitanismus für die Gedichtanalyse nutzen. Komparatistik : Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, 348–365.

Illustrations

Ill. 1: Foto von Büchercovern (in Kurztitel, oben: May Ayim et al (Hg.): Farbe bekennen. Berlin 2020. Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen. München 2021. Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst. Frankfurt a. M. 2022. Jasmina Kuhnke: Schwarzes Herz. Hamburg 2021.)

Ill. 2: Foto von Jeannette Oholi (©privat)

Ill. 3: Buchcover (Sharon Dodua Otoo, Jeannette Oholi (Hg.): Resonanzen. Schwarzes Literaturfestival. Leipzig 2022)

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Black German Studies: Transatlantic Perspectives

Based @ Uni Münster | Edited by Timothy John Brown, Eva Tanita Kraaz, Rita Maricocchi | Tochterpublikation von @transatlanticism | https://go.wwu.de/0wcaq