Fernsehen goes YouTube

Wie aus “Campus Magazin” “alpha Uni” wurde

Lennart Bedford Strohm
BR Next
9 min readMay 17, 2022

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Neues Format „alpha Uni“ — Wie wir eine TV-Redaktion digital transformieren und dabei eine der BR-fernsten Zielgruppen erreichen wollen.

WAS IST ALPHA UNI?

Nachdem das lineare TV-Format„Campus Magazin“ zu Themen rund um Student:innenleben, Uni-Ausbildung und akademische Berufe eingestellt wurde, uns die Inhalte aber als zu wichtig erschienen, um nicht mehr darüber zu berichten, wollten wir im BR ein neues, digitales Format für Studierende entwickeln.

Raus kam: „alpha Uni“. Wir wollten jungen Menschen dabei helfen, herauszufinden, was sie später mal machen wollen, also Inspiration und Orientierung im Dschungel an Möglichkeiten bieten.

Unser Kanalversprechen: Wie ist es, Jura zu studieren? Wie läuft der Berufseinstieg als Psychologin? Bei uns bekommst du echte Einblicke in Studium und Beruf. Ehrlich und direkt, von denen, die es wissen müssen!

Bei alpha Uni bekommen die User:innen die Infos und Eindrücke zu Studium und Berufseinstieg, die sie nicht googeln können: Wie fühlt sich das Studium an?

Protagonist:innen aus ganz Deutschland geben Einblicke hinter die Kulissen ihres Studiums und erzählen dabei ungefiltert von den Licht- und Schattenseiten. Und wie geht’s weiter nach dem Studium?

In den Filmen begleiten wir Berufseinsteiger:innen in ihrem ersten Job und lernen, was ihnen das Studium dafür gebracht hat. Zu jedem Studienfach gibt’s in der ersten Woche ein Video zum Studium, in der folgenden ein Video zum Job.

alpha Uni wird ausgespielt auf…

YouTube
ARD Mediathek
ARDalpha.de
…Lineare TV-Sendung auf ARD alpha (30min)

DIE HERAUSFORDERUNG

Erreichen wollten wir mit dem neuen Format Studieninteressierte und Studierende, also eine sehr spitze Zielgruppe. Die kommen vor allem aus den Sinus-Milieus der Expeditiven, der Hedonisten und auch ein bisschen auch aus dem Milieu der Adaptiv-Pragmatischen.

Durch die Arbeit des Contentstrategie-Teams wissen wir: Diese Zielgruppe erreichen wir als Bayerischer Rundfunk bisher unterdurchschnittlich.

Wir standen also vor zwei großen Herausforderungen:

1. Eine Zielgruppe erreichen, die teilweise nicht mal weiß, was der BR/ARD alpha ist.
2. Mit einer Redaktion, die sich zwar in der Themenwelt Studium auskennt und schon erste digitale Gehversuche unternommen, die Haupterfahrung aber im Erzählen eines TV-Magazins hatte.

Aufgesetzt haben wir „alpha Uni“ deswegen als gemeinsames Projekt der Digitalen Entwicklung in der Kulturdirektion des Bayerischen Rundfunks und der Fachredaktion Wissen und Bildung aktuell.

Statt eine neue Redaktion mit Mitarbeiter:innen aufzubauen, die das digitale Arbeiten schon komplett beherrschen, war bei „alpha Uni“ das Ziel, eine bestehende Redaktionseinheit bei der digitalen Professionalisierung zu unterstützen, sie weiterzubilden und bei allen Kolleg:innen, fest wie frei, nachhaltig digitale Expertise aufzubauen.

WIE SIND WIR DABEI VORGEGANGEN?

Wir haben unser Format konsequent nutzer*innenzentriert entwickelt:

  1. Strategische Ziele und Zielgruppe definieren
  2. Entwicklungsteam aufstellen: Kleines Kernteam aus Fachredaktion + Digitale Entwicklung + Gruppe von Studierenden aus der Zielgruppe.
  3. Mehrtägiger Design Sprint mit Studierenden der Hochschule Fresenius und der KU Eichstätt-Ingolstadt -> Ergebnis: 3 Prototypen (zwei für YouTube, einer für Instagram)
  4. Qualitative Befragung + Entscheidung für Prototyp „Campus Life“
  5. Formatschärfung & Produktion von 2 Piloten (Jura-Studium & Richter-Job)
  6. Quantitative Befragung der Medienforschung von bundesweit über 400 Nutzer:innen
  7. Formatschärfung
  8. Workshops (Dramaturgie, Tandem-Produktionsweise, YouTube, …)
  9. 3-monatige Pilotphase
  10. Evaluation durch Entscheider:innen anhand der KPIs + Überführung in Linienbetrieb
  11. Weitere Workshops (Dramaturgie, Tandem-Produktionsweise, …)

Abgeschlossen ist die Entwicklung von „alpha Uni“ damit aber noch nicht: Wir wollen unserer Community in den Kommentaren und durch den Blick auf die YouTube Analytics aufmerksam zuhören, von ihr lernen und das Format laufend anpassen.

Nutzerin auf YouTube: “Hab diesen Herbst mit dem Studium angefangen und wäre auch gern Neurochirurgin, hab aber großen Respekt davor und weiß noch nicht, ob ich mir das am Ende immer noch zutraue, oder ob es mich bis dahin sowieso in eine andere Richtung zieht. Aber mega spannende Reportage und interessante Protagonistin auf jeden Fall, gern mehr davon!”

DIE 8 DINGE, DIE WIR DABEI GELERNT HABEN

1. Stillgelegten Channel reaktivieren + Cross Promo = Erfolg

Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, einen komplett neuen YouTube-Kanal aufzubauen. Stattdessen haben wir den stillgelegten ARD alpha-Channel reaktiviert.

Wir wussten, dass Filme zu Studienthemen dort schon immer gut gelaufen sind und es zumindest Überschneidungen zwischen alter und neuer Zielgruppe gibt. Ob diese Strategie aufgeht, konnte uns aber niemand, den wir im Vorfeld fragten, wirklich sagen.

Heute wissen wir: Es war die richtige Entscheidung. Nachdem wir Ende Oktober 2021 mit vier Filmen gestartet sind, waren maximal 2000 Views pro Video in den ersten Tagen eher mäßig.

Ein Post im Community Tab und eine Endcard unserer Kolleg:innen von Lohnt Sich Das haben den Algorithmus zweier Videos dann aufgeweckt (siehe Screenshot), die Views schlagartig explodieren lassen und den ganzen Kanal wie durch einen Schneeballeffekt ins Rollen gebracht.

Nur so konnte schon unser sechstes veröffentlichtes Video nach nicht einmal zwei Wochen über 250.000 Views und über 7 Mio. Impressions erreichen.

Quelle: Screenshot

2. Veränderung braucht Zeit

Vom überwiegenden Teil des Teams wurde die Veränderung wohlwollend und mit offenen Armen aufgenommen, aber nicht von allen. Was wir bei der Arbeit an „alpha Uni“ gelernt haben:

Veränderung hat verschiedene Phasen. Sie braucht Zeit. Und: Jeder Mensch geht mit Veränderung anders um. Einige tun sich leichter, anderen fallen Veränderungen sehr schwer.

Auch weil sie das bisher Geleistete zumindest gefühlt in Frage stellen und Raum für Unsicherheit öffnen: „Habe ich bisher alles falsch gemacht? Bekomme ich das hin?“

Was wir vorhatten, bedeutete Veränderung nicht nur für die Mitarbeiter:innen, sondern die gesamte Organisation. Arbeitsabläufe und Arbeitsweisen verändern sich teilweise oder sogar komplett. Es ist wichtig, diese Veränderung auch emotional zu begleiten.

3. Redaktion mitnehmen und überzeugen

Damit die digitale Transformation nachhaltig angenommen wird, mussten wir folgendes schaffen: Die Kolleg:innen aus der Redaktion ernstnehmen, mitnehmen & überzeugen.

In der Projektleitung mussten wir uns dabei immer wieder bewusstmachen, dass wir im Kopf schon einen Schritt weiter sind als der Rest des Teams. Deswegen war es nötig, viel zu erklären und Entscheidungen und Prozesse transparent zu machen.

So kann es klappen, dass die Veränderung nicht in erster Linie eine Bedrohung darstellt, sondern vom Team als Chance wahrgenommen wird.

4. Hauptaufgabe = Kommunikation

Entscheidend war, dass meine Kollegin in der Projektleitung, Corinna Benning-Creanga, und ich uns dafür viel Zeit genommen und viele Gespräche geführt haben.

Eine der wichtigsten Aufgaben neben der eigentlichen Formatentwicklung war in den ersten Monaten vor allem: Sehr viel Kommunikation. Zuhören, Ängste und Sorgen nehmen, Mut machen, inhaltlich weiterbilden, ansprechbar sein.

Aber gleichzeitig auch: Eine klare Richtung vorgeben, Ruhe und Optimismus ausstrahlen und konsequent führen. Wir haben von Anfang an versucht, so offen, ehrlich und transparent wie möglich zu kommunizieren: Das haben wir vor, das wird sich ändern, so kommen wir da hin, darum machen wir das und so könnten wir Erfolg haben.

5. Konsequente Nutzer:innenzentrierung

Was uns dabei sehr geholfen hat: Der klar strukturierte Prozess und die konsequente Nutzer:innenzentrierung. Denn so werden Entscheidungen nicht aufgrund von Meinungen, Bauchgefühl oder persönlichem Geschmack getroffen, sondern aufgrund der Erkenntnisse aus den Nutzer:innentests und dem direkten Feedback der Community in den Kommentaren.

So hatten wir in den meisten Fällen eine klare Entscheidungs- und Argumentationsgrundlage. Was auch geholfen hat: Wir konnten auf den Erfolg anderer Formate verweisen, die so gearbeitet haben (Lohnt Sich Das, News WG, Frauengeschichte). Und konnten unseren Leuten zeigen: Hey, das funktioniert, habt Vertrauen.

Nutzerin auf YouTube: “Danke für das Video! Möchte später auch Therapeutin werden und das ist bisher das beste Video zu dem Thema! Leider ist es schwer, einen Einblick in den Beruf zu bekommen, da Praktika etc. schwierig sind in dem Bereich zu machen.”

6. Weiterbildungen sind die Grundlage

Um sich gegen die starke Konkurrenz im Digitalen behaupten zu können, braucht man aber nicht nur Wissen über die Zielgruppe, sondern auch über die Plattform, auf der man sie erreichen will:

Über die Funktionsweise des Algorithmus, aber auch die passende Erzählweise und Ansprache. Wenn man als Autor:in aber bisher vor allem fürs Fernsehen gearbeitet hat, woher soll man dieses Wissen haben?

Deswegen gilt bei solchen Digitalprojekten: Gezielte Weiterbildungen sind die Basis für Erfolg. Klingt erstmal simpel, bleibt im Alltag vieler Redaktionen wegen begrenzter Budgets und Zeit aber oft auf der Strecke.

Wir haben lieber auf die Produktion einiger Filme verzichtet und längere Kanalpausen in Kauf genommen, dem Team dafür aber umfassende Weiterbildungen angeboten: Wir hatten Workshops zur neuen Produktionsweise im 2er-Team, zur Dramaturgie und zur Plattform YouTube:

Wie macht man ein gutes Thumbnail? Warum ist das wichtig? Wie wird man gut vom Algorithmus ausgespielt? Dabei war uns wichtig, auch die Kolleg:innen von Kamera und Schnitt einzubeziehen und als gesamtes Team mit der gleichen Sprache zu sprechen.

Wir begreifen die Arbeit an alpha Uni als Team-Leistung, denn nur wenn sich alle Beteiligten aufs neue Format einlassen, kann es permanent weiterentwickelt werden — auch das ist ein wichtiges Learning für uns.

7. Für jede:n die richtige Rolle finden

Wichtig war auch die Zusammensetzung des Teams. Es braucht eine gesunde Mischung aus jungen, digitalaffinen und eher klassisch sozialisierten Kolleg:innen.

Für jede:n mussten wir die richtige Rolle im Team finden. Nicht jede:r muss Filme machen oder im Community Management arbeiten. Auch durch Prota-Recherche oder das Zusammenfahren der Beiträge zu linearen Sendungen leistet man einen sehr wertvollen Beitrag zum Erfolg.

Mit jedem Teammitglied haben wir das in persönlichen Gesprächen herausgearbeitet. Ein weiterer wichtiger Punkt: An zentralen Positionen sollten Leute mit digitaler Kompetenz platziert sein, die den Rest des Teams inspirieren und im täglichen Redaktionsalltag weiterbilden können.

8. Erfolge feiern + Feedbackkultur stärken

Schon im ersten Monat haben wir es so geschafft, das viertbeste YouTube-Video des gesamten BR zu stellen. Dieser schnelle Erfolg war extrem wichtig.

Aber auch kleinere Erfolge — etwa wenn ein Video die 100.000 Views knackt oder besonders wertschätzende Kommentare aus der Community — haben wir ganz bewusst wahrgenommen, an alle Beteiligten kommuniziert und zusammen gefeiert.

Wer sich als selbstwirksam wahrnimmt und Wertschätzung empfindet, arbeitet besser und kreativer. Um die Zielgruppe mit unseren öffentlich-rechtlichen Inhalten auch zu erreichen, müssen wir uns ständig hinterfragen und besser im Erzählen werden.

Damit das gelingt, war eine möglichst gewerkeübergreifende Feedbackkultur unser Ziel. In den ersten Monaten haben wir Feedback zu den Filmen aber vor allem innerhalb der CvD-Runde und zwischen CvD und Autor:in organisiert.

Schnell haben wir gemerkt: So führen wir wichtige Diskussionen nicht immer im gesamten Team. Ab sofort organisieren wir Feedback deswegen anders: Jeden Montag gibt es in einer für alle Teammitglieder offenen Runde Feedback zum Film der Vorwoche.

Wir laden dazu auch die beteiligten Kameraleute und Cutter:innen ein. Das Channelmangement veröffentlicht zu jedem Film die wichtigsten Erkenntnisse aus den YouTube Analytics in unserem Teams-Kanal und ordnet sie ein.

Darüber hinaus gibt es alle zwei Monate eine große Redaktionssitzung, in der wir auch externes Feedback aus der Zielgruppe oder von Expert:innen bekommen. Und: In unregelmäßigen Abständen organisieren wir Workshops mit der Kameraabteilung und den Mediengestalter:innen, bei denen wir einzelne Filme gemeinsam analysieren.

FAZIT: DIE MÜHE LOHNT SICH!

Ganz ehrlich — am Anfang war ich selber skeptisch: Eine Zielgruppe erreichen, die teilweise nicht mal weiß, wer der BR ist. Mit einer Redaktion, die die Haupterfahrung im Erzählen linearer Formate hat.

Kann das funktionieren? Rund eineinhalb Jahre später kann ich sagen: Ja! Ein halbes Jahr nach dem Launch ist unser Kanal von ursprünglich 26.900 auf 43.000 Abos gewachsen und wir erreichen durchschnittlich über 300.000 Views pro Monat.

Die Redaktion schafft es mit alpha Uni, ihre Inhalte so zu erzählen, dass sie die Zielgruppe tatsächlich erreichen: Studierende und Studieninteressierte zwischen 18 und 24 Jahren. In den Kommentarspalten merken wir das jede Woche.

Nutzerin auf YouTube: “Hab den Kanal gerade erst entdeckt und muss ein großes Lob aussprechen. Gerade für mich als junger Mensch sind solche Einblicke für die Berufsfindung goldwert. Freue mich auf weitere Videos von euch.”

Du hast Fragen dazu? Eine Idee für eine Kooperation oder Cross-Promo? Dann gerne melden unter lennart.bedford-strohm@br.de!

ÜBER DAS PROJEKT “ALPHA UNI”

Die Entwicklung von “alpha Uni” ist eine Kooperation der Digitalen Entwicklung in der Programmdirekion Kultur und der Redaktion Wissen Bildung aktuell.

Das Kernteam, das “alpha Uni” entwickelt hat: Corinna Benning-Creanga, Katharina Kulzer, Lennart Bedford-Strohm (Projektleitung); Christiane Miethge, Lukas Hellbrügge, Marinus Zängerl, Martin Moser, Sabine Pusch, Sebastian Leidecker, Lydia Gamig, Tobias Henkenhaf, Susanne Bauer-Schramm, Christian Wurzer und Studierende der Hochschule Fresenius sowie der KU Eichstätt-Ingolstadt sowie ihren betreuenden Professoren Prof. Dimitri Popov und Prof. Dr. Klaus Meier.

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Lennart Bedford Strohm
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Digitale Formatentwicklung und politische Dokus beim Bayerischen Rundfunk.