Die Befreiung — von der AR-App zum virtuellen Web-Rundgang

Wie wir ein Projekt in der Corona-Krise neu gedacht haben

Eva Deinert
BR Next
4 min readMay 26, 2020

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Ein virtueller Rundgang über das Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau zeichnet die entscheidenden Stunden der Befreiung vor 75 Jahren nach. Gedacht und konzipiert war es als AR-App zum Jahrestag. Doch dann kam Corona und alles war plötzlich anders.

Bild: Archiv KZ-Gedenkstätte Dachau/Montage BR, Christoper Roos von Rosen

Sonntag, 29. April 1945, gegen 17 Uhr. Die Amerikaner erreichen das KZ Dachau. 32.000 Menschen sind zu dem Zeitpunkt in Dachau eingesperrt. In einem virtuellen Rundgang über das Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau zeichnen wir die entscheidenden Stunden vor 75 Jahren nach. Originalfotos werden mit aktuellen Bildern des Geländes verschmolzen und genau an die Stelle platziert, an der sie damals aufgenommen wurden. Zu jedem historischen Foto hören die Nutzer*innen Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen von Augenzeugen (Befreiten, Befreiern und Kriegsberichterstattern) und bekommen so ein umfassendes Bild vom Tag der Befreiung.

Fotos, die sich über die Realität legen — gedacht war das Angebot eigentlich als AR App. Bereits im letzten Jahr hatte sich die KZ-Gedenkstätte Dachau bei uns im BR gemeldet mit dem Wunsch ein gemeinsames Storytelling-Projekt zum Jahrestag der Befreiung zu realisieren.

Zu diesem Zeitpunkt hatten wir in der digitalen Entwicklungsredaktion im Bayerischen Rundfunk schon begonnen, uns mit den neuesten Technologien rund um Augmented Reality intensiver zu beschäftigen.

Gedacht als AR App für digitale Wissensvermittlung

Nach mehreren Entwicklungsschleifen stand die Idee: Wir wollten gemeinsam auf dem Gelände der Gedenkstätte ortsbasierte Augmented Reality mit einem Schwerpunkt auf Audio ausprobieren. Eindrückliche Bilder sollten mit persönlichen Geschichten auf der Tonspur kombiniert werden. Besonders hochwertig produzierte Audioinhalte sollten einen Mehrwert bieten, der über bisherige AR-Angebote hinausreicht.

Wir hatten bereits Kontakt zum Startup Zaubar aufgebaut und konnten so die Möglichkeiten schnell ausloten. Zaubar bietet eine ortsbasierte Augmented-Reality-App für journalistische Inhalte als Whitelabel-Lösung an.

Bild: Ghetto Fighters Archive/Montage BR, Christopher Roos von Rosen

Recherche und Testing

Die Recherche und Auswahl der Protagonist*innen sowie die Wahl der Fotos waren in den folgenden Monaten die größte Herausforderung für uns als Projektteam. Die Befreiung sollte vor allem durch Zitate getragen werden — ohne unnötige Interpretation.

Die Bilder sollten nicht zu abschreckend sein, gleichzeitig wollten wir aber nichts weglassen — und ja, auch Leichen zeigen. Die Gedenkstätte unterstützte bei der Recherche und mit fachlichen Einschätzungen des Materials.

Anfang Januar 2020 konnten wir dann einen Prototyp der AR-App in der Gedenkstätte testen — mit einer Schulklasse sowie Kolleg*innen aus dem BR und der Gedenkstätte.

Und dann: Corona. Was jetzt?

Der Test hat gezeigt: Die Grundidee funktioniert. Am UX-Design, am Storytelling, an den Bildbeschreibungen und an der Dauer des Rundgangs musste noch geschraubt werden.

Doch dann kam die Corona-Pandemie —die Gedenkstätte und Schulen wurden geschlossen. Es war klar: Eine AR-App wird es in absehbarer Zeit und vor allem um den Zeitpunkt des Jahrestages herum nicht geben. Daher konzentrierten wir uns auf ein Webangebot.

Das Ziel: In Zeiten von Homeschooling und Quarantäne wollten wir ein Angebot schaffen, das Schüler*innen und allen anderen Nutzer*innen das Gedenken an die Befreiung des KZ Dachau auch zu Hause ermöglicht.

Eine begleitende Website war ohnehin geplant, doch musste nun neu gedacht werden, denn plötzlich sollte sie als Produkt im Mittelpunkt stehen.

Sofort haben wir die Audios neu aufgenommen und umgeschnitten (Regisseur: Markus Otto Köbnik, Sounddesign: Dagmar Petrus), Fotos der leeren Gedenkstätte aufgenommen (Bildbearbeitung & Design: Christopher Roos von Rosen), eine Webseite programmiert (Webdesign: Dominik Wierl) und Texte angepasst (Autorinnen: Yvonne Maier & Eva Deinert).

Das Ergebnis dieser Arbeit könnt Ihr jetzt unter diebefreiung.br.de auf Deutsch und Englisch ansehen!

Nach der Wiedereröffnung der Gedenkstätte geht es jetzt darum, den Launch der AR App weiter vorzubereiten.

Zur Vertiefung: Podcast von Bayern 2

Von Anfang an haben wir einen seriell erzählten Podcast von Bayern 2 mitgedacht. Zum einen wollten wir Geschichten aus dem Rundgang in der Tiefe erzählen, zum anderen sollte auch die Befreiung des zweiten großen Konzentrationslagers in Bayern, Flossenbürg, betrachtet werden. In fünf Folgen erzählen vor allem junge Häftlinge, wie sie die Gefangenschaft und die Befreiung erlebt haben.

Den Podcast Die Befreiung könnt Ihr überall anhören, wo es Podcasts gibt!

Ein solches Storytelling-Projekt ist auf ein vielfältiges und interdisziplinäres Team aus verschiedenen Bereichen angewiesen: Designer*innen, Podcaster*innen, Webentwickler*innen, externe Partner*innen, die Partner-Redaktionen, das Team aus unserer Entwicklungsredaktion und viele mehr.

Nur weil all diese verschiedene Gewerke cross-funktional kollaborativ zusammenarbeiten, kann am Ende ein großes innovatives Storytelling-Projekt wie „Die Befreiung“ realisiert werden. Mehr über unser Projekt gibt es hier in diesem Werkstattgespräch zu lesen und zu hören.

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Eva Deinert
BR Next
Writer for

Creative Producerin, Innovationsmanagerin und Digitaljournalistin, Bayerischen Rundfunk @BR_NEXT