“Lost in Nahost” — Der Podcast zum Krieg in Israel und Gaza

In nur vier Tagen von der Idee zur Veröffentlichung

Philipp Grammes
BR Next
6 min readDec 21, 2023

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Bei Breaking News ist klar, dass der Bayerische Rundfunk sofort in den Nachrichten, in den aktuellen linearen Programmen und mit Sondersendungen wie z.B. einem Brennpunkt darüber berichtet. Aber wie können wir das Informationsbedürfnis von Zielgruppen bedienen, die wir mit dieser klassischen Berichterstattung nicht erreichen?

Podcast-Cover “Lost in Nahost”

Wie erreichen wir junge Zielgruppen?

Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober stellt sich diese Frage auch Ann-Kathrin Wetter. Sie hat die News-WG mitgegründet, war lange dort tätig und beobachtet in diesem Moment, dass dort wie anderswo in den Sozialen Medien die Fragen der Community sofort nach oben schnellen. Weil der Nahostkonflikt an Komplexität kaum zu überbieten ist, kommen gerade aus Zielgruppen unter 40 Jahren viele Fragen: zur Vorgeschichte, zu den handelnden Akteuren oder zu potenziellen Lösungsmöglichkeiten — Fragen, für die in der aktuellen Berichterstattung oft kein Platz ist oder die nur oberflächlich behandelt werden können.

Ihre Idee: So schnell wie möglich einen Podcast zu starten, der die große Expertise des Bayerischen Rundfunks, der für das Studio in Tel Aviv verantwortlich ist, nutzt und für Zielgruppen verfügbar macht, die der BR mit seinen Informationsangeboten bisher noch nicht gut erreicht.

Das Podcast-Team in München bei der Arbeit.
Start-Team des Podcasts “Lost in Nahost”.

In vier Tagen von Null auf Podcast

Die ersten Gespräche dazu finden an einem Sonntagabend statt, Ann-Kathrin Wetter holt am Montag Marion Lichtenauer, Audio-Chefin bei PULS, dem jungen Content-Netzwerk des BR, ins Boot. Bereits am darauffolgenden Donnerstag geht die erste Folge von „Lost in Nahost — der Podcast zum Krieg in Israel und Gaza“ online.

Den Podcast gibt es hier in der ARD Audiothek.

Weil die Idee so sinnvoll und bestechend ist, können Ann-Kathrin Wetter und Marion Lichtenauer aus verschiedenen Bereichen des Hauses Kolleginnen und Kollegen gewinnen, die spontan mitziehen: aus den Programmbereichen Politik und Wirtschaft sowie Aktuelles, hier vor allem aus den Redaktionen Ausland und politischer Hintergrund sowie BR24 Radio/Audio; von BR Recherche / BR Data über PULS bis zum Storyteam, der Audio-Storytelling-Redaktion des BR. Informationsdirektor Thomas Hinrichs schiebt das Vorhaben zusätzlich mit an. Weil es aber nicht nur Leute für den Content braucht, sprinten auch Grafik, Sounddesign, Distributionsmanagement und Pressestelle los, damit alles fertig ist, was es für so einen Podcast braucht: Cover, Klang, Feed und begleitendes Presse- und Promo-Material.

ARD-Korrespondentin Sophie von der Tann.

Ohne die Korrespondent:innen in Tel Aviv geht es nicht

Noch wichtiger als das Redaktionsteam im Münchner Funkhaus sind aber die Korrespondent:innen in Tel Aviv — die ohnehin Tag und Nacht arbeiten und auf allen Kanälen berichten, kaum schlafen und mit heftigsten Bildern und Erlebnissen konfrontiert sind. Die während der Calls immer wieder Raketenalarm haben und in den Bunker müssen. Doch trotz dieser immensen Arbeit sind sie voll motiviert, sich auch noch Zeit für einen Podcast zu nehmen.

“Wir haben uns in Tel Aviv sofort entschieden: Wir machen mit. Natürlich war mir bewusst, dass das auch schiefgehen kann. Denn wir alle produzieren ja schon am Anschlag. Der Erfolg von ‘Lost in Nahost‘ macht mich sehr glücklich. Das zeigt auch, was wir als BR können. In München sitzt ein überragendes Podcast-Team, und wir als Korrespondenten:innen liefern abwechselnd den Inhalt. Dabei können wir auch mal etwas persönlicher erzählen, das tut uns allen gut.” Christian Limpert, Leiter ARD Studio Tel Aviv

Christian Limpert, Leiter ARD-Studio Tel Aviv, bereitet eine TV-Schalte vor.
Christian Limpert, Leiter ARD Studio Tel Aviv.

Innerhalb kürzester Zeit gibt es also ein kleines redaktionelles Team mit Standleitung nach Israel.

“Es ist beeindruckend, wie schnell die Kolleginnen und Kollegen diese sehr gute Idee umgesetzt haben — über Redaktions- und Direktionsgrenzen hinweg. Mir ist bewusst, dass so ein Projekt ein echter Kraftakt ist, der nun zu stemmen ist. Aber er ist notwendig. Ich freue mich sehr, dass wir bei diesem wichtigen Thema unseren Beitrag zur Meinungsbildung bei der jungen Zielgruppe leisten. “ Thomas Hinrichs, Programmdirektor Information des Bayerischen Rundfunks

Die pragmatische Herangehensweise funktioniert. Schon nach wenigen Tagen steht „Lost in Nahost“ in der ARD Audiothek auf Platz 1 der Nachrichten-Charts. Bei Spotify steigt der Podcast in die allgemeinen Top 200 ein und klettert schnell bis auf Platz 34. Er ist seit dem Start regelmäßig in den Nachrichten-Charts auf allen Plattformen.

Das Versprechen: Nicht “lost” sein in diesem Konflikt

Weil das Projekt so schnell an den Start gegangen ist, gab es anfangs weder eine längerfristige Themen- noch eine Personalplanung. Das Team hat von Woche zu Woche gedacht und flexibel auf die aktuelle Situation reagiert. Inzwischen hat sich eine Art Regelbetrieb etabliert, weil die Podcast-Einheit von BR24 Radio/Audio mit Begeisterung übernommen hat, dauerhaft unterstützt von der Fachredaktion Politik und Hintergrund. Geblieben ist das Formatversprechen von “Lost in Nahost”: In diesem Podcast werden auch die vermeintlich einfachen Fragen kompetent und hintergründig beantwortet. Wer ist die Hamas? Wem gehört Gaza? Und warum wird in Israel und Gaza überhaupt gekämpft? Damit die Hörerinnen und Hörer des Podcasts eben nicht “lost” sind in diesem komplizierten Konflikt.

Korrespondent Julio Segador an seinem Arbeitsplatz im ARD Studio Tel Aviv.
ARD-Korrespondent Julio Segador.

“Ich finde es jedes Mal super spannend, wenn Fragen aus der Community kommen. Es sind häufig sehr grundlegende Fragen, die für das allgemeine Verständnis des jeweiligen Themas wichtig sind. Oft sind das Fragen, die wir uns als Korrespondent:innen gar nicht mehr stellen, weil sie für uns selbstverständlich sind. Aber sie sind eben nicht selbstverständlich fürs Publikum! Von daher bin ich eigentlich jedes Mal, wenn das Skript vorliegt, gespannt, welche Fragen aus der Community kommen. Bei der letzten Folge zum Beispiel, als es um den Aushub der Hamas-Tunnel ging, haben wir Korrespondenten länger diskutiert, wie die Antwort sein könnte. War spannend.”
Julio Segador, Korrespondent

Was wir in diesem Projekt gelernt haben:

Der Sinn (neudeutsch “Purpose”) steht über allem. Weil allen Beteiligten sofort klar war, wie dringend so ein Angebot benötigt wird, ist enorme Motivation entstanden.

Gute Leute machen lassen. Wenn ein paar Rahmenbedingungen geklärt sind, kommt es vor allem darauf an, dass kompetente Menschen ihr Herzblut und ihre Motivation (s.o.) entfalten können.

Raum für Identifikation und Entfaltung schaffen. Dass sich die voll ausgelasteten Korrespondent:innen in Tel Aviv auch noch für einen Podcast engagieren, liegt unter anderem daran, dass sie von Anfang an eingebunden waren und mitgestaltet haben — und sie es damit zu “ihrem” Podcast machen konnten.

Gute Ideen weiterspinnen. Der Pop-up-Podcast konnte auf ein längerfristig angelegtes Storytelling-Projekt zum Konflikt in Israel und Palästina aufbauen, das wegen des aktuellen Überfalls der Hamas und dem anschließenden Krieg erstmal liegen bleiben musste. Diese guten Vorarbeiten zu diesem größeren Projekt haben dem “Lost in Nahost”-Team den Start erleichtert.

Stärken nutzen. Ein Unternehmen wie der BR mag viele Schwächen haben, die in der Struktur und Größe begründet sind. Wir haben aber seine großen Stärken nutzen können: Riesige inhaltliche Kompetenz in Fachredaktionen, riesiges Know-how bei Produktion und Sounddesign, riesige Orientierung ausschließlich an Inhalten und an der Sache.

Netzwerke pflegen: Alle Beteiligten dieses Projekts kannten sich über regelmäßige Austauschrunden im informellen Podcast-Netzwerk des BR, in denen auch immer mal Thema war, wie so ein aktueller Pop-up-Podcast gelingen kann. Darauf konnten wir aufbauen und sehr kurze Wege für Absprachen nutzen.

Mitarbeit an diesem Text: Marion Lichtenauer, Ann-Kathrin Wetter.

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Philipp Grammes
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Digitalchef @bayern2 und Podcast-Beauftragter @br-presse.