“Die Entscheidung”

Wie ein Spagat aus Talk- und Storytelling-Podcast gelingt

Christine Auerbach
BR Next
6 min readJul 2, 2024

--

Der Podcast “Die Entscheidung” soll nicht nur auf aktuelle politische Entwicklungen eingehen, sondern die Politik tiefer durchleuchten. Die Idee: Das Interesse an History-Podcasts nutzen, um über aktuelle Politik zu reden — ohne ein rein geskripteter, historischer Podcast zu sein. Christine Auerbach gibt Einblick, wie die Redaktion das umsetzt.

Titelbild des Podcasts “Die Entscheidung. Politik, die uns bis heute prägt”.

Die Vorgaben an das Team der Politikredaktion zur Entwicklung eines neuen Politikpodcasts im BR waren klar: Wir sollen den bisherigen Podcast “1 Thema, 3 Köpfe”, in dem jede Woche ein Host mit zwei Gesprächspartnern über ein aktuelles gesellschaftspolitisches Thema diskutiert hat, weiterentwickeln. Statt jede Woche ein neues Thema zu diskutieren, soll sich der neue Podcast mehr Zeit lassen und vor allem Hintergrundwissen zu aktuellen Debatten und Diskussionen liefern. Zusätzlich dazu sollen die Hörenden weiterhin Meinung und Einschätzung zu diesen Themen bekommen.

Ziel: Der Podcast soll mehr Hörer:innen erreichen. Er soll dabei ein Gesprächspodcast bleiben. Er soll weiterhin aktuelle, politische Diskussionen erklären und Hintergründe dazu liefern. Er soll seriell funktionieren, sich also mehrere Folgen lang einem Thema widmen, damit die einzelnen Folgen inhaltlich nicht überfrachtet werden und Platz für Szenen und Reportageelemente ist. Geschichte und aktuelle Debatten sollen erlebbar werden.

Der Podcast muss außerdem mit einem kleinen Team stemmbar sein, denn pro Monat stehen nicht mehr als drei Leute zur Verfügung, die den Podcast konzipieren, hosten, recherchieren und redaktionell betreuen. Sowie eine zusätzliche Person, die Crosspromo und Seeding übernimmt.

Im April 2024 startete Die Entscheidung. Politik, die uns bis heute prägt. Jeden Monat gibt es eine neue monothematische Staffel mit jeweils vier Folgen, die alle gleichzeitig erscheinen. Anders als im bisherigen Podcast, in dem Themen hauptsächlich aus aktueller Sicht diskutiert wurden, spielt in “Die Entscheidung” der History-Aspekt eine große Rolle, also wo aktuelle Debatten und Entwicklungen ihren Ursprung haben.

Christine Auerbach und Jasmin Brock hosten den Podcast im Wechsel. Zusammen mit jeweils einem Reporter oder einer Reporterin nehmen sie sich jeden Monat eine gesellschaftliche oder politische Entscheidung vor, die teilweise schon weit zurückliegt und dennoch in aktuellen Debatten eine große Rolle spielt — oft ohne, dass es uns bewusst ist.

In den ersten drei Monaten waren das:

Die Entscheidung der Nato 2008, die Ukraine nicht sofort in das Militärbündnis aufzunehmen — und welche Folgen das für den Krieg in der Ukraine heute hat.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die NPD nicht zu verbieten — und die Folgen daraus für ein mögliches AfD Verbotsverfahren heute.

Die Entscheidung, die innereuropäischen Grenzen zu öffnen — und warum trotz dieses Schengen-Abkommens jetzt immer neue Grenzkontrollen beschlossen werden.

Christine Auerbach und Jasmin Brock, Host des Podcasts “Die Entscheidung” / Foto Markus Konvalin
Christine Auerbach und Jasmin Brock, Hosts des Podcasts “Die Entscheidung” / Foto: Markus Konvalin

Am Anfang der jeweiligen Mini-Staffel erzählen das Team aus Host und Reporter:in, wie es zu der Entscheidung kam — dann arbeiten sie sich in mehreren Etappen immer weiter hinein in die Folgen dieses Moments, bis heute.

Das Ganze passiert im Gespräch zwischen Host und Reporter:in. Beide haben im Vorfeld Interviews geführt mit Menschen, die bei wichtigen Wegmarken dabei waren, oder sie haben in Archiven nach Original-Material gesucht. Dieses Material bauen sie in ihre Antworten ein.

“Die Entscheidung” verbindet also Geschichte mit Aktualität und Storytelling mit fachjournalistischer Einordnung und Diskussion. Einen Gesprächspodcast auf diese Weise mit Storytelling zu verbinden klingt einfach — ist es aber nicht. Fünf Learnings seit Podcast-Beginn:

1. Weniger ist mehr

Kill your darlings — was immer wichtig ist, ist bei diesem Podcast-Projekt noch wichtiger. Ein bis maximal zwei Interviewpartner:innen pro Folge reichen, damit genug Platz für den einordnenden Dialog zwischen Host und Reporter:in ist. Sonst werden die Folgen zu lang und die vorher interviewten Zeitzeugen und Protagonist:innen bleiben für die Zuhörenden blass.

2. Struktur ist alles

Von der Nato-Entscheidung 2008 bis zum jetzigen Krieg in der Ukraine ist es ein langer und komplizierter Weg. Die Bögen, die „Die Entscheidung“ spannt, sind lang und komplex. Die Aufgabe ist es, sie so zu vereinfachen, dass die Hörenden sie verstehen — aber trotzdem so ins Detail zu gehen, dass die Folgen die komplexe Gegenwart abbilden.

Noch bevor das erste Wort geschrieben ist, muss deshalb eine klare Struktur für die ganze Staffel und ihre vier Folgen stehen: Welche Aspekte müssen in welche Folge? Wo müssen die Cliffhanger sein? Wie hängen unsere Analysen mit der jeweiligen Entscheidung zusammen? Was erklären wir im Dialog und wo brauchen wir Reportage, Interviews, Emotionen?

Dazu ist ein intensiver Austausch zwischen Host und Reporter:in nötig, bei dem wir unter anderem analog mit Post-its arbeiten oder digital mit online Whiteboards wie z.B. Miroboard: Jede Szene, jede Interviewpartner:in, jeder Archivton, jede Meta-Frage, die wir in einer Folge klären wollen, bekommt ein eigenes Post-it und kann so “hin und her” geschoben werden, bis die Dramaturgie einer Folge stimmt. Und es wird sehr viel geschoben…

Eine Wand mit Post-its, auf denen wichtige Fragen und mögliche Interviewpartner stehen für die “Die Entscheidung”-Podcast-Folge “NPD, AfD und das Parteiverbot”.
Erste Post-it Überlegungen für die Staffel “NPD, AfD und das Parteiverbot”

3. Editrunden als Generalprobe — unverzichtbar

Dilemma: Je mehr vom Dialog zwischen Host und Reporter:in geskriptet ist, desto leichter ist es, Cliffhänger und Storytelling-Elemente zum Spannungsaufbau einzusetzen. Desto schwieriger ist es aber, einen echten Dialog bei den Aufnahmen zu erzeugen.

Die Lösung: Editrunden vor jeder Aufnahme, bei denen Host und Reporter:in die Folge inklusive der fertig geschnittenen Interview- und Archivtöne einem Team aus mindestens drei Hörer:innen vorlesen. Die Hörer:innen sind meist Kolleg:innen, die mit den Recherchen bisher noch nichts zu tun hatten. Sie geben sofort Feedback: Wo sind sie ausgestiegen? Funktioniert die Folge inhaltlich? Was war unverständlich?

Diese Editrunden sind zum Dreh- und Angelpunkt der Vorproduktion geworden, in der Regel ändern sich die einzelnen Folgen durch dieses Feedback der ersten Zuhörenden enorm. Sie sind aber auch etwas, das viele Ressourcen bindet: Pro Folge dauern sie momentan zwei bis drei Stunden.

Sind solche Editrunden für jede Art von Podcast hilfreich, sind sie bei “Die Entscheidung” unverzichtbar, denn sie sind gleichzeitig auch Generalprobe: Host und Reporter:in üben ihren Dialog unter Realbedingungen. Dadurch hängen sie bei der endgültigen Aufnahme im Studio weniger am Skript und reden freier — aber ohne sich „zu verlabern“.

4. Der Teufel liegt im Detail

Anders als bei Storytelling-Podcasts, in denen jedes Wort genau gesetzt ist, liegt es in der Natur von Talk-Podcasts, dass es flapsig werden kann. Umso wichtiger ist eine sehr genaue Endredaktion: Kommt ein Aspekt durch die Gesprächssituation missverständlich rüber? Haben wir im Gespräch eine Schleife zu viel gedreht? Haben wir etwas zu früh vorweggenommen?

Diese genaue Endredaktion ist umso wichtiger, weil “Die Entscheidung” durch ihren Gesprächscharakter auch immer eine Gradwanderung ist: Sie will tiefe politische Themen mit viel Hintergrundwissen vermitteln , ohne zu dozieren. Aber eben auch, ohne oberflächlich zu werden.

5. Pro- und Contra

Hörerrückmeldungen zeigen, dass Folgen, in denen Menschen mit unterschiedlicher Meinung zu einer Entscheidung und ihren Folgen zu Wort kommen, gut ankommen. Bei der Frage, welche Verantwortung Deutschland am Krieg in der Ukraine hat, erklärt und verteidigt zum Beispiel Merkels ehemaliger Sicherheitsberater Christoph Heusgen die Linie seiner damaligen Chefin. Ihm widerspricht Stefanie Babst. Sie war bei der Nato für Sicherheitsstrategien zuständig und erzählt, wie dort aus ihrer Sicht Deutschland gemauert hat, wenn es darum ging, klare Kante gegen Putin zu zeigen.

Meist steht in den ersten beiden Folgen einer Monats-Staffel das Hintergrundwissen im Vordergrund: Wie kam es zur Entscheidung und was waren ihre direkten Auswirkungen bis heute? Die Folgen drei oder vier bieten sich für das Pro und Contra an, da die Zuhörenden dann schon selbst einiges an Hintergrundwissen haben, um sich eine eigene Meinung zu bilden.

Fazit nach den ersten Staffeln

Drei Staffeln sind bisher erschienen, an den Ausgaben der kommenden Monate arbeiten wir gerade (Themen: “Was hat die “Ehe für alle” in Deutschland verändert?” (Erscheint am 2.Juli) und “Wie hat sich der §218 und das Recht auf Abtreibung in Deutschland entwickelt?” (Erscheint nach der Sommerpause am 3. September)). Die Verknüpfung von Geschichte und aktueller Politik funktioniert, auch das Verbinden von Gesprächspodcast und Storytelling. Was eine Herausforderung bleibt, ist die dauerhafte Umsetzung in einem kleinen Team mit nur drei bis vier Leuten pro Staffel.

--

--