Wie wir in 5 Steps eine Zielgruppe erschlossen haben

Jung & heimatverbunden — der Weg einer Zielgruppenrecherche

Jasmin Körber & Anna Ellmann
BR Next
6 min readMar 16, 2023

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Jung & heimatverbunden — und kaum vom Öffentlich-Rechtlichen erreicht. Mit einem neuen funk-Format soll sich das ändern. Für die nutzer:innenzentrierte Entwicklung dieses Formats bedeutete das, die Zielgruppe erstmal ganz genau kennenzulernen. Wir — das sind Anna Ellmann und Kira Drössler — nehmen euch dabei mit.

Die Workshopgruppe, Bild: Anna Ellmann

Im März 2022 ist funk auf den BR zugekommen, mit der Bitte, ein Format für heimatverbundene Jugendliche zu entwickeln. Konkret: Es sollte damit eine Zielgruppe zwischen 14 und 18 Jahren angesprochen werden, die “heimatverbunden” ist und ihr Lebensumfeld im Großen und Ganzen “positiv bewertet und bewahren” möchte.

Eine Herausforderung… Für heimatverbundene Jugendliche gibt es bisher wenig Angebot und die Gruppe der Jugendlichen ist generell sehr heterogen. Wir mussten uns die Zielgruppe also erstmal selbst erschließen. Aber auch eine Chance … auf ein neues Angebot mit viel Potenzial.

Start mit Filter(kaffee)

Nach dem Kick-Off Mitte April war klar: Die Zielgruppenrecherche muss bis Anfang Juli zum Design Sprint abgeschlossen sein. Unser Team war Mitte Mai komplett, also konnte es losgehen: sammeln, filtern, sammeln, filtern — und zwar nach dem Trichterprinzip.

Heißt: Erst haben wir quantitative Daten gesammelt, sortiert und ausgewertet, anschließend ging es in die qualitativen Erhebungen. Aber Moment mal: Was genau bedeutet denn “heimatverbunden”? Wie stellen wir sicher, dass die Jugendlichen aus den Studien sowie unsere Befragten ihre “Heimat bewahren wollen”?

Bevor wir mit den fünf Schritten starten konnten, mussten wir die Forschungsfrage operationalisieren. Wir haben theoretische Begriffe in messbare Merkmale umgewandelt, damit die Forschung verschiedenen Gütekriterien, wie der Validität, gerecht werden kann. Klingt vielleicht trocken, ist aber verdammt wichtig.

Unsere Operationalisierung sah so aus:

  • Ländlich: Orte, die maximal als kleine Kleinstadt zählen und nicht in einem Speckgürtel einer Großstadt liegen, da diese teilweise noch sehr städtisch sind (eher noch hohe Mobilität, leichterer Zugang zu Subkulturen etc.)
  • Heimatverbunden / positiv eingestellt: Wollen im Ort bleiben, stellen sich dort eine Zukunft vor (via Abfrage geklärt, z. B. “Was machst du nach dem Schulabschluss? / Wo möchtest du künftig wohnen?”) Teilnahme an (auch kostenlosen) Engagements innerhalb des Ortes wie Jugendgruppen, Vereine, Ehrenamt oder Teilnahme an “traditionellen“ Veranstaltungen des Ortes (Volksfeste etc.)

Interviewpartner:innen, die diesen Variablen nicht entsprachen — etwa, weil sie nach dem Abi in die Großstadt ziehen wollen, kamen nicht mit in die Auswertung.

Step 1: Quantitative Analyse

Um uns einen ersten Eindruck der heimatverbundenen Jugendlichen zu verschaffen, schauten wir uns verschiedene Studien an und filterten diese nach den Kriterien der Operationalisierung. Das war nicht bei allen Studien durchgehend möglich: Während sich die Jugendstudie der Hochschule Magdeburg Stendal (2020) auf junge Menschen vom Land und sich ein Teil der SINUS-Jugendstudie (2020) konkret auf Traditionell-Bürgerliche bezieht, sind andere Studien (Shell Jugendstudie 2019, JIM Studie 2021, SWR TikTok-Studie 2022) eher allgemein auf Jugendliche gemünzt.

Eine grobe Annäherung war dennoch gut möglich, da die Studien — ein Hoch auf repräsentative und reliable Forschung — größtenteils zu ähnlichen Ergebnissen kamen.

Mit den Daten der Metaanalyse konnten wir einen Steckbrief und ein Moodboard erstellen und eine Grundlage für die weiteren Steps schaffen.

Step 2: Marktumfeldanalyse

Neben der Zielgruppenanalyse rund um Charakter, Freizeit, Wünsche und Ängste, hat uns im Speziellen die Mediennutzung interessiert. Die Metaanalyse der Studien zeigte, dass TikTok bei den Jugendlichen hoch im Kurs steht. Mittels einer Marktumfeldanalyse konnten wir uns dann in die digitale Welt der heimatverbundenen Jugendlichen hineinversetzen.

Dafür haben wir einen neuen TikTok-Account erstellt und den Algorithmus so trainiert, dass er den Merkmalen unserer Zielgruppe entsprach. Wir haben alles geliked, was ländlich, heimatverbunden und Jugendlichen an sich entspricht. Anschließend konnten — neben immer wieder erscheinenden Kanälen — drei Content-Kategorien identifiziert werden:

EDIT:

  • Kurze Clips und Bilder zusammengeschnitten
  • Emotionale Musik
  • wenig Text, mehr Vibe

SKETCH:

  • Prota mit verteilten Rollen
  • Witzige Szenarien mit Bezug zur Lebenswelt
  • Prota im Kinderzimmer oder auf dem Hof

MEME:

  • Sound aus Kontext gerissen und auf eigene Situation übertragen
  • Kontextwissen notwendig
  • Trendende Sounds = Reichweite

Funfact: Das war erstaunlich nah dran! Später beim Testing auf unserer selbstgebauten TikTok “For You Page” hatten wir eine Menge dieser Fremd-Videos im Feed integriert und sie wurden stets mit einem “Ah, den/die kenne ich!” kommentiert.

Step 3: Qualitative Erhebung

Bei unserer qualitativen Erhebung haben wir insgesamt 20 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren aus dem deutschsprachigen Raum interviewt — vom hohen Norden bis nach Niederösterreich. Dabei haben wir auf eine ausgeglichene Verteilung hinsichtlich Geschlecht, Alter und Schulart geachtet.

Gefunden haben wir sie selbst über Schulen und über Vereine. Die Interviews dauerten jeweils ca. eine Stunde, der Fragebogen hat Themen von Heimat bis zur Mediennutzung abgedeckt. Auch konkrete Wünsche zum künftigen Format wurden abgefragt, wie: “Wie findet ihr Gendern in Videos?”.

Auszug aus dem Fragebogen

Was wir wieder machen würden: Alle Sprintteilnehmenden haben vor dem Ideenbrainstorming einmal selbst mit den Jugendlichen geredet. So konnten sie sich besser in die Zielgruppe hineinversetzen.

Step 4: Auswertung und Clustering

Das war ganz schön viel Material. Auf unserem heißgeliebten Online-Board haben wir die Gespräche ausgewertet und den Kern der Antworten letztlich in sieben Kategorien unterteilt.

Die Ergebnisse waren erstaunlich eindeutig und haben uns kurzzeitig in eine kleine Sinnkrise gestürzt: ALLES NUR KLISCHEE?! Der Papi ist das Vorbild, die Ruhe auf dem Land das Ultimative, Mädchen lieben Pferde und Jungs ihr Moped.

Aber: Besonders Mädchen messen der mentalen Gesundheit eine hohe Bedeutung zu und setzen sich für die Entstigmatisierung psychischer Krankheiten ein — sei es im Kleinen, wenn sie ihre Freund:innen dazu motivieren, offen darüber zu reden. Alle Jugendlichen haben eine hohe Sensibilität, was Mobbing angeht und halten Hilfsbereitschaft für einen der wichtigsten Charakterzüge.

Step 5: Persona-Entwicklung

Alle Erkenntnisse der quantitativen und qualitativen Analyse haben wir vor dem Sprint destilliert. Da die Interessen von Mädchen und Jungen in dem Alter sehr weit auseinander gehen, haben wir zwei Personas entwickelt, anhand derer die Sprintteilnehmenden ein noch besseres Bild von der Zielgruppe verinnerlichen konnten. Im Workshop wurde außerdem Zeit eingeräumt, die Personas jeweils nochmal zu diskutieren und daran etwas zu ändern.

Persona Maximilian, die andere Persona hieß “Johanna”

Was wir wieder machen würden: Ein Teilnehmer war selbst aus der Zielgruppe und gleichzeitig Content Creator: Moritz ist auf einem Bauernhof groß geworden, möchte auf dem Land bleiben und hat einen TikTok-Account über sein Leben dort. Dadurch kennt er die Zielgruppe in- und auswendig und weiß ganz genau, welche Inhalte funktionieren und welche eher nicht.

Sprintteilnehmer Moritz, Bild: Anna Ellmann

Finale: Testing und Ergebnis

Im Sprint wurden insgesamt elf Ideen entwickelt. Davon wurden vier ausgewählt und prototypisiert. Alle Ideen waren TikTok Formate, da unsere quantitativen & qualitativen Analysen ergeben haben, dass die Plattform von der Zielgruppe viel genutzt wird.

Diese Prototypen haben wir gemeinsam mit einigen Konkurrenzvideos (wir erinnern uns an die Markumfeldanalyse) auf eine selbstgebaute TikTok “For You Page” geladen. Die User konnten in der Testumgebung wie auf TikTok durch den Feed swipen.

Was wir wieder machen würden: Über das Tool ‘Lookback’ konnten wir gleichzeitig die Reaktion und den Bildschirm der Jugendlichen sehen. Kleine Schmunzler, gelangweiltes Wegschauen oder schnelles Swipen konnten wir genau verfolgen, notieren und entsprechend interpretieren.

Es wurden zwei Formate pilotiert:

  1. “Wie man’s spricht” — ein Format, das sich unterhaltsam mit Dialekten auseinandersetzt
  2. “Sophia fragt” — ein Vox-Pop-Format, das Themen vom Dorf aufgreift

Beide Piloten haben gut auf TikTok funktioniert. Was uns überrascht hat: Mehrere Videos haben über 100.000 Aufrufe generiert, ein Video wurde über eine Million mal angeschaut. Die Entscheidung war für funk also nicht einfach. Was es letztendlich geworden ist? Hier kommt ihr zum Format, das nochmal geschärft und überarbeitet wurde und seit März in Linie ist: sag mal

Danke an das Team von PULS (Hendrik Rack, Florian Meyer-Hawranek, Lukas Waschbüsch, Leon Willner), an das Team von funk (Laura Schulte, Malte Born, Stefan Spiegel) und an das restliche beteiligte Team der digitalen Formatentwicklung im BR (Thomas Becht, Sophia Rauchhaus).

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