Gaming

Live-Rollenspiel auf Twitch

Wie wir mit einem Pen & Paper aus dem Stand 210.000 Views erreichten

Tim Pfeilschifter
BR Next

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“Pen & Paper — Das Turnier” Logo

Mit dem Improvisations-Rollenspiel “Pen & Paper — Das Turnier” hat der Bayerische Rundfunk am 28. September 2021 die Welt des Mittelalters wiederaufleben lassen.

Unter Führung der Spielleiterin Mháire Stritter schlüpften vier Spieler:innen in die Rollen einer mittelalterlichen Adelsfamilie, die im Jahr 1328 bei einem Ritterturnier der Stadt Landshut in finstere Machenschaften verwickelt wird.

Gespielt wurde das Rollenspiel live und mit großen Erfolg auf der Streaming-Plattform Twitch.

Die Aufzeichnung des Streams auf YouTube (ohne Live-Chat)

Hintergrund: Warum wir uns mit Twitch befassen

Das Thema Gaming ist besonders bei jungen Menschen ein wichtiger Zeitvertreib und kommt immer stärker in der Mitte der Gesellschaft an.

Inzwischen spielen 50% der Bevölkerung Videospiele, besonders aber die jungen und auch oft öffentlich-rechtlich-fernen Zielgruppen (Hedonisten, Adaptiv-Pragmatisch, Performer) (Quelle: ARD Big Five Studie 2021).

Abgesehen von einigen Gaming-Inhalten im Content-Netzwerk funk beschäftigen sich die Öffentlich-Rechtlichen nur in sehr geringem Umfang mit dem Hobby „Videospiele“ und blenden damit eine immer wichtiger werdende Unterhaltungsform aus.

Twitch ist eine Livestreamingplattform, die — ähnliche wie klassisches TV — linear zur Unterhaltung genutzt wird. Zudem ermöglicht sie durch einen Live-Chat sowie weitere Interaktions-Tools (z.B. Livebefragungen) einen hohen Grad an Publikumsbeteiligung.

Seit 2014 gehört Twitch zu Amazon. Die Plattform ist besonders bei jungen und Gaming-affinen Zielgruppen stark frequentiert. Die beiden größten Zielgruppen sind die Performer (13% min. wöchentlich, 15,6% min. monatliche Nutzung) und Hedonisten (11,5% min. wöchentlich, 15% min. monatlich)(Quelle: ARD Big Five Studie 2021).

73% der Zuschauenden auf der Plattform sind unter 34 Jahre alt. Im Oktober belegte Twitch Platz zwölf der meistbesuchten Websites in Deutschland, knapp hinter dem elften Platz Instagram.

Während der Pandemie konnte die Plattform ein großes Wachstum verzeichnen. In der Vergangenheit waren kleine Testballons des öffentlich-rechtlichen Content-Netzwerks funk bereits nach kurzer Zeit aufgrund von mangelndem Erfolg eingestellt worden.

Das Thema Gaming bietet mit seinem großen Verbreitungsgrad und den jungen Zielgruppen also ein besonders interessantes Handlungsfeld für uns als öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt.

Als erfolgsversprechende Gaming-Ausspielungsplattform hat sich die Plattform Twitch herauskristallisiert. Für den BR ergab sich damit eine besonders interessante Kombination aus Zielgruppe und neuen Plattform-Learnings.

Wir beschlossen deshalb, mit einem kleinen Budget ein erstes Pilotprojekt zur „interaktiven und unterhaltsamen Wissensvermittlung für die junge Zielgruppe auf Twitch zur Sammlung erster Erfahrungen“ umzusetzen.

Konzept: Was haben wir uns überlegt?

Bei einem „Pen & Paper“ erleben die Mitwirkenden gemeinsam eine Geschichte, indem sie diese miteinander erzählen. Die Spielleitung stellt Welt und Nebencharaktere dar, während die Spielenden jeweils nur einen Charakter mit verschiedenen Fähigkeiten darstellen. Die Spielenden sind damit die Protagonist:innen der Geschichte.

Pen & Paper haben in den vergangenen Jahren große Popularität erreicht (der meistbezahlte Kanal auf Twitch ist der amerikanische Pen & Paper Kanal „Critical Role“) und ermöglichen analog im gemeinsamen Gespräch eine Gaming-Erfahrung — ohne auf ein bestimmtes Videospiel zurückgreifen oder gar selbst eines programmieren zu müssen.

Zusätzlich zu den Unterhaltungskomponenten war uns der öffentlich-rechtliche Bildungsanspruch wichtig — bestenfalls in Kooperation mit einer unserer inhaltlich arbeitenden Redaktionen. So fiel unsere Wahl schlussendlich auf ein Rollenspiel als „interaktives Wissensformat zum Thema Geschichte“.

Twitch Thumbnail

Vorgehen: Pen & Paper in 10 einfachen Schritten

Schritt 1: Spielleitung engagieren

Das ganze Projekt steht und fällt mit einer passenden Spielleitung. Über unseren Kontakt mit dem Pen & Paper Spieler Ben Ting (Ben&Paper) konnten wir Mháire Stritter für das Projekt gewinnen.

Mit vielen tausend Stunden Erfahrung als Spielleiterin und Autorin auf ihrem Kanal „Orkenspalter“ gehört Mháire zu den erfolgreichsten und bekanntesten Spielleiterinnen Deutschlands.

Schritt 2: Spielszenario und Regeln auswählen

Die bekanntesten Spielszenarien für Pen & Paper sind klassische Fantasy-Settings (z.B. “Dungeons & Dragons”, “Das Schwarze Auge”). Da wir das Ziel eines unterhaltsamen Wissensformats verfolgten, entschieden wir uns für das bayerische Mittelalter als Setting. Genauer gesagt ein Ritterturnier in der niederbayerischen Stadt Landshut.

Eine gute Kombination aus bekanntem und beliebtem Szenario und gleichzeitig einem Thema, bei dem es noch viel Irrglauben gibt. Perfekt für unterhaltsame Wissensvermittlung.

Dazu traten wir in den Kontakt mit den Kolleg:innen der Geschichts-Redaktion des Bayerischen Rundfunks. Zusammen mit den Infos des Landshuter Stadtarchivs bildeten die Beiträge der Geschichtsredaktion die ideale Grundlage für eine möglichst geschichtsnahe Darstellung im Rollenspiel.

Zudem flankierten die Kolleg:innen unseren Livestream mit einer Sonderstaffel des Podcasts “Alles Geschichte” zum Thema Mittelalter.

Schritt 3: Technik klären

Den Stream haben wir über das Streaminginterface der Plattform Twitch und das kostenlose Livestreamingtool „Open Broadacasting Software (OBS)“ durchgeführt.

Schritt 4: Das Abenteuer schreiben

Nachdem mit Szenario und Regelwerk der grundsätzliche Rahmen für das Pen & Paper gegeben war, konnte das Abenteuer geschrieben werden.

Da das Abenteuer interaktiv von den Spieler:innen gestaltet wird, wurde ein grober Handlungsrahmen (ca. 6 Seiten) für das Turnier sowie der Auftritt wichtiger Charaktere und Orte festgeschrieben. Der Rest wurde durch die Improvisation zwischen Spieler:innen und Spielleiterin geschaffen.

Schritt 5: Spieler:innen engagieren

Bestenfalls haben alle Spieler:innen eine gewisse Erfahrung mit Rollenspielen, wenn sie für ein Pen & Paper vor die Kamera gesetzt werden. Bei vier Spielenden empfehlen wir maximal eine Person mit wenig Erfahrung. Schließlich braucht jeder erstmal ein wenig Zeit, um sich an ein Spiel zu gewöhnen.

Die an Bord geholten Spieler:innen sind im besten Fall eine gute Kombination aus Expertise, Lust und Interesse am Thema P&P und auch Personen mit Reichweite.

Für das Projekt konnten wir gewinnen:

  • Florentin Will
  • Dorjee Lhamo Gerhard
  • Ben Ting (hat übernommen für den erkrankten Daniel Feith)
  • Stephan Bliemel

Schritt 6: Kanal anlegen

Nun war es Zeit, den Kanal auf Twitch anzulegen. Bestenfalls bereits einen Monat vor Start des Livestreams, damit sich über die Phase der Bewerbung (siehe Schritt 9) bereits potenziell Interessierte auf der Seite einfinden können.

Für uns als öffentlich-rechtliches Medienhaus ermöglichte es Twitch zudem, einen speziellen werbefreien Kanal anzulegen. Hier wird keine Werbung gezeigt und Zuschauende können kein Geld spenden.

7. Charaktere kreieren

Sind die Spieler:innen alle on Board, können sie sich auf Basis des Regelwerks und des Szenarios Charaktere schaffen. Dies passiert im Austausch mit den anderen Spieler:innen und besonders der Spielleitung. So kann eine gute Teamstruktur und Einbindung in die Geschichte gewährleistet werden.

8. Grafik

Besondere Wichtigkeit haben bei einem Pen & Paper die visuelle Darstellung des Streams und insbesondere die der Charaktere. Schließlich werden die restlichen Situationen ausschließlich über Gespräche dargestellt.

Wir empfehlen deshalb, eine Person mit Illustrationserfahrung an Bord zu holen. Bei uns hat die Kollegin Annik Buhr die Art Direktion des Streams und der Charaktere übernommen. Diese visuelle Komponente trägt zu einem authentischen Spielgefühl bei.

Wenzel von Donnerstein — gespielt von Ben Ting
Friedrich Wittelsbach — gespielt von Dorjee Lhamo Gerhard
Joesef Unterbichler — gespielt von Florentin Will
Walter von Donnerstein — gespielt von Stephan Bliemel

9. Bewerben

Hier müssen verschiedene Aspekte ineinandergreifen. Die Bewerbung über die eigenen Kanäle (bei uns BR24, Bayern 2 und PULS) und die Bewerbung von Seiten der Creator:innen dienen als Grundlage.

Dazu kommen bestenfalls noch andere Bekanntmachungen (Bewerbung durch die Stadt Landshut, den Verein der Landshuter Hochzeit etc.)

Am entscheidendsten für den Erfolg eines bisher unbekannten Kanals ist aber die Platzierung auf der Twitch-Startseite. Über das hier vorhandene Content-Fenster können stündlich mehrere 10.000 Viewer:innen ihren Weg in den Livestream finden. Über so eine Platzierung entscheidet die Twitch-Redaktion.

10. Abenteuer und Moderation

Das Abenteuer kann nun also beginnen. Als Moderation empfehlen wir mindestens zwei Personen über die gesamte Dauer des Livestreams. So kann schnell und unkompliziert auf Nachfragen, Feedback aber auch auf Störungen eingegangen werden. Die Moderation findet über ein Twitch-internes Moderationstool statt.

Der Twitch Livestream

Ergebnis: Das ist rausgekommen

Auf Twitch stellt sich der Erfolg für Creator:innen meist erst nach vielen Monaten täglichen Streamens ein. Als sehr erfolgreich gelten Streams mit 1.000+ Livezuschauenden.

Dementsprechend haben wir unsere Ziele für den ersten Stream eines neu geschaffenen Kanals sehr realistisch gesetzt: Mehr als 100 gleichzeitig Zuschauende und über den gesamten Stream 10.000 Views wären ein großer Erfolg gewesen.

Umso begeisterter waren wir von den überaus erfolgreichen Zahlen:

  • im Peak 8.000 Livezuschauende, im Schnitt über den vierstündigen Stream hinweg 4.500 gleichzeitig Livezuschauende
  • insgesamt 210.000 Liveaufrufe
  • 1.000+ Livekommentare im äußerst positiven Live-Chat
  • 200+ Dankeskommentare
  • Platzierung auf der Startseite von Twitch
  • 1.000 Conversions auf den BR Podcast “Alles Geschichte”
  • Im Anschluss: 50.000+ Abrufe auf YouTube

Learnings

Pen & Paper als “analoges Gaming”

Das Pen & Paper hat sich als hervorragende Kombination aus interaktiver Unterhaltung und inhaltlicher Wissensvermittlung entpuppt. Zudem können Creator:innen mit ihrem Know-How und ihrer Reichweite mühelos in die Produktion mit eingebunden werden.

Moderation ist wichtig, im besten Fall übernimmt sogar das Publikum

Auch wenn wir zu mehr als 95% positive Kommentare hatten, bleibt eine gute Moderation notwendig. Bestenfalls im Vorhinein in Absprache mit den Spieler:innen, um eventuell bekannte Personen, die auf anderen Kanälen bereits gebannt sind, nicht die Möglichkeit zu geben, auch in diesem Chat Unruhe zu stiften.

Besonders positiv überrascht waren wir von der Hilfsbereitschaft der Community, die so manchen Troll selbst enttarnt und auf die Fragen von anderen Chat-Teilnehmenden geantwortet hat.

So konnten wir feststellen, dass für den vierstündigen Stream zwei Moderator:innen ausreichen.

Dazu tragen auch die umfangreichen Tools von Twitch bei, wie in etwa die „Chatverlangsamung“ (Nutzer:innen können nur noch alle X Sekunden eine Nachricht schreiben), das Verstecken von Kommentaren und vorgefertigte Chatbefehle.

Wenn das On-Demand Video danach auf YouTube gepostet wird, sollten natürlich auch die Kommentare unter diesem Video gemonitored werden.

Noch mehr Interaktion beim nächsten Mal

Für die Zukunft haben wir uns vorgenommen, noch mehr Interaktion zu ermöglichen. Neben Chatinteraktion möchten wir auch schnelle „Live Polls“ (die Ergebnisse der Befragung werden Zeitgleich im Stream angezeigt) und bestenfalls auch offene Fragestellungen mit einbauen (z.B. „Wem begegnen die Spieler im Stall?“).

Zeitverlauf

Unser Stream begann um 19:00 Uhr und endete pünktlich um 23:00 Uhr. Die Größe unseres Publikums blieb relativ stabil. Jedoch starten viele große Streams gegen 20 Uhr, weshalb man zu dieser Zeit mit weniger Zuschauenden rechnen muss.

Zudem besuchen weniger Menschen die Plattform ab 21:30. Je später der Abend, desto weniger Zuschauende sind da. Grundsätzlich orientiert sich der Zeitverlauf daran, dass ein Großteil der Twitch-Nutzenden unter der Woche berufstätig ist. Die besten Streamingzeiten sind für uns also zwischen 18:00 und 21:30 Uhr.

Zukunft: So könnte es weitergehen

Durch den Erfolg des Streams hat sich gezeigt, dass auf diese Art und Weise ein unterhaltsames und interaktives Wissensformat für die jungen Zielgruppen gelingen kann.

Für die Zukunft wären auch längere Geschichten (wöchentlicher Stream über einen Monat) zu einem anderen historischen Thema denkbar oder einmalige Streams zu bekannten ARD-Marken.

Aktuell befinden wir uns noch in der finalen Analyse des Projekts.

Das Team:

  • Tim Pfeilschifter (Konzept + Projektmanagement Lead)
  • Laura Urban (Projektmanagement)
  • Annick Buhr (Art Direktion + Illustration)
  • Pia Krauß, Seban Schmidbauer und Lucas Mangold (Chat-Moderation)

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Tim Pfeilschifter
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Innovationsmanager im Bayerischen Rundfunk. Game Designer, Spielleiter und digitaler Hutmacher privat.