Wann ist eine Videosprechstunde eigentlich sinnvoll? — Ein Fallbeispiel

Keanu Forthmann
Brainwave Hub
Published in
6 min readOct 29, 2020

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Der Boom der Telemedizin

Alles begann mit der Lockerung der Limitierung zur Abrechenbarkeit bei der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Bundesweit wurde den ambulanten Ärzten ab März/April die Möglichkeit gegeben unbegrenzt viele Sprechstunden abzurechnen. Gleichzeitig zog die Angebotsseite mit: die zertifizierten Anbieter stellten ihren Service während der Krise kostenlos zu Verfügung. Die perfekten Voraussetzungen für einen Boom und die Zahlen sprechen für sich!

So nutzten laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KV) Berlin im Februar gerade einmal 7 Ärzte und Therapeuten den Service. Nur drei Monate später waren es über 4.000 — ein Anstieg von fast 600%. Eine Umfrage des health innovation hubs (hih) zeigt, dass über 50% der befragten Arztpraxen heute eine Videosprechstunde anbieten — Tendenz steigend. Und die Patienten? Sie nutzten den Service: die TeleClinic meldete eine Steigerung der online Behandlungen um 250% von Januar bis Mai und jede dritte Konsultation drehte sich um Corona-Symptome. Sogar die Krankenkassen, als zähe Schwergewichte reagierten schnell: die Techniker Krankenkasse brachte für ihre über 10,6 Mio. Versicherten einen eigenen Videosprechstunden- und eRezept-Service an den Markt.

Warum überhaupt Videosprechstunden?

Dass die Videosprechstunde bei den Patienten gut ankommt und auch von vielen Ärzten benutzt wird, ist inmitten einer Pandemie einleuchtend. Aber auch langfristig birgt die Videosprechstunde wichtige Vorteile für beide Parteien — Ärzte und Patienten:

  • Patienten haben keine Anfahrtswege und müssen nicht lange in überfüllten Wartezimmern warten, was vor allem für Personen mit chronischen Erkrankungen oder langen Anfahrtswegen eine große Erleichterung ist.
  • Den Ärzten verschafft die schnelle und zeit-effiziente digitale Sprechstunde mehr Zeit für ihre Patienten, da etwa Vorgespräche zu einer Operation oder Überweisungen zu Anschlussbehandlungen jetzt via digitaler Sprechstunde durchgeführt werden können.

Der Videosprechstunden Markt

Mit dem großen Durchbruch der Telemedizin und der Videosprechstunden, kam auch eine Flut an verschiedenen Anbietern auf den Markt. Generell gibt es zwei Geschäftsmodelle bzw. Gruppen von Anbietern am Markt:

  • Arztfokussierte Tools (B2B): Der Kunde ist der Arzt. Dazu zählen zertifizierte Anbieter und White-Label-Lösungen. Beispiele sind: sprechstunde.online, tomedo, jameda, arztkonsultation.de.
  • Patientenfokussierte Tools (B2B2C): Der Kunde ist der Patient. Meist wird eine eigene App angeboten und es gibt hohe Investitionen in den eigenen Markenaufbau. Der Arzt ist dann ein Arzt von vielen auf der Plattform. Beispiele sind: KRY, TeleClinic, MedGate, Medi24, eedoctors.

Auswahl eines geeigneten Tools

Als nächstes stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien man ein geeignetes Videosprechstunden-Tool ausmacht. Die Anforderungen unterscheiden sich sicherlich je nach Anwendungsfall. Wir haben eine Partner Klinik dabei unterstützt ein geeignetes Tool auszuwählen und uns dabei in gemeinsamer Ausarbeitung mit den relevanten Stakeholdern der Klinik für folgende Kriterien entschieden:

  1. Das Tool sollte möglichst unkompliziert an die bestehende Krankenhaus IT angebunden werden können. Das heißt, optimaler Weise keine Interdependenzen zu anderen System aufweisen — also bspw. eine Webanwendung sein.
  2. Datenschutz und -sicherheit muss gewährleistet sein und bspw. zertifiziert sein.
  3. Außerdem sollte das Tool KV-Zertifiziert sein, damit es über die KV abgerechnet werden kann. Eine Zertifizierung belegt, dass der Anbieter den Anforderungen des §31(b) im Bundesmantelvertrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) entspricht.
  4. Hinsichtlich Kosten sollte das Tool für die vorgesehenen Standorte eine angemessene Kostenstruktur haben.

Darüber hinaus haben wir auch eine Reihe an Anforderungen definiert, die für eine erfolgreiche Implementierung des Tools perspektivisch relevant sind. Dazu zählten u. a. die Möglichkeit und Qualität des technischen Supports für Patienten und Ärzte, eine White-Label Option oder auch die Möglichkeit der Anbindung an die Klinik-Webseite.

Die Implementierung der Videosprechstunde

Anhand dieser Kriterien haben wir uns für einen Anbieter entschieden und anschließend innerhalb von 3 Wochen den ersten Standort angeschlossen. Mittlerweile verwenden über 40 Ärzte an 6 Standorten die Videosprechstunde. Dazu gehören Fachbereiche wie Neurologie, Schmerz und Orthopädie. Nach nun etwa 5 Monaten wurden insgesamt über 200 Videosprechstunden durchgeführt.

Wie läuft eine Videosprechstunde ab?

Die Durchführung einer Videosprechstunde ist für Nutzer in 4 Schritten erledigt. Sobald online oder telefonisch ein Termin vereinbart wurde, gibt es eine Bestätigungsnachricht per E-Mail oder SMS mit allen nötigen Zugangsdaten. Anschließend muss ein kurzer automatisch ablaufender Systemtest durchgeführt werden, um sicherzustellen dass Handy, Tablet oder Computer des Nutzer alle nötigen Anforderungen erfüllt. Anschließend können die Patienten im virtuellen Wartezimmer darauf warten, dass der behandelnde Arzt sie in das Videogespräch holt.

Ablauf der Videosprechstunde für Patienten

Learnings für die Nutzung der Videosprechstunde

Aus über 200 durchgeführten Videosprechstunden, die im Durchschnitt etwa 19min dauern, konnten wir sowohl Hürden und häufige Fehler, als auch positive Learnings und Erkenntnisse sammeln, die wir an dieser Stelle gerne teilen möchten.

Zunächst zum positiven Teil. Besonders erfolgreich wurde die Videosprechstunde in der Schmerztherapie und Neurologie angewendet. Ein Tremor lässt sich bspw. in den meisten Fällen gut und einfach über ein Videogespräch diagnostizieren. Neben den bereits oben genannten allgemeinen Vorteilen einer Videosprechstunde, kann im Krankenhaus mit einer Schwester schon eine post-stationäre Video-Nachsorge geübt werden. Die Erfahrung zeigt außerdem, dass gerade bei älteren oder stark beeinträchtigten Patienten häufig Angehörige dabei sind. Das ist gleich doppelt von Vorteil, denn einerseits ist dann eine Person dabei, die relevante Informationen und Hilfestellung bieten kann und anderseits kann der Arzt in diesen Fällen eine weitere Pauschale abrechnen. Die Videosprechstunde hat sich zudem bei Folgeterminen bewährt — wie etwa bei der Überprüfung von Medikamenteneffekten oder der Absprache möglicher Nebenwirkungen. Um auch die letzten technischen Hürden der Patienten aus dem Weg zu räumen, sind einige Standorte dazu übergegangen, neben einem online verfügbaren Flyer, vorab einen kurzen Testlauf mithilfe des Sekretariats durchzuführen.

“Wenn unsere Sekretärin beim ersten Mal einen kurzen Testanruf mit den Patienten macht, können wir fast alle technischen Probleme aus dem Weg räumen.” — Ärztin aus Kassel

Herausforderungen und häufige Fehler

Ist die Videosprechstunde also ein Tool für alle Fälle? Nicht ganz! Die Videosprechstunde ist bei weitem nicht für alle Erkrankungen und Anwendungsfälle geeignet und auch auf Seiten der IT gibt es Herausforderungen, die eine problemlose Nutzung verhindern.

Für Patienten, die eine körperliche Untersuchung benötigen oder einen Notfall haben, ist ein Videotool grundsätzlich weniger geeignet. Auch Patienten mit erheblichen körperlichen oder psychischen Einschränkungen, haben meist Probleme bei der Nutzung. Parkinson-Patienten mit starkem Tremor können bspw. das Smartphone schlichtweg nicht halten und Alzheimer-Patienten haben im Alltag nicht immer die nötige Hilfe durch Angehörige zur Verfügung.

Bekannterweise ist die IT-Landschaft der Krankenhäusern meist sehr komplex und einfache Interoperabilität ist nicht immer gegeben. Dazu kommen erhöhte Anforderungen an die Sicherheit technologischer Lösungen, die dazu führen können, dass etwa Firewall-Einstellungen der Kliniken Probleme bei der Nutzung bereiten. Auch eine stabile und ausreichend leistungsstarke Internetverbindung gehört nicht immer zum Standard der Kliniken und Patienten. Dann gestaltet sich eine Videosprechstunde ebenfalls schwierig.

Ein Zwischenfazit

Die Videosprechstunde birgt also eine Menge Vorteile für verschiedene Anwendungsgebiete. Dies setzt allerdings voraus, dass aus technischer Seite eine einwandfreie Nutzung gewährleistet wird und vor allem die Patienten abgeholt und begleitet werden. Denn wenn das Tool kompliziert und umständlich scheint oder sogar abbricht, ist der Griff zum Telefon für viele die angenehmere Methode.

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Keanu Forthmann
Brainwave Hub

Data Scientist and Digital Health Analyst at Brainwave