#brandnewtoo

Britta Helm
Britta Helm
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8 min readJan 31, 2018

Eigentlich hätte Science Fiction beste Chancen auf den Titel als Album des Jahres gehabt, stattdessen hat die visions-Redaktion entschieden, die neue Brand New ganz aus der Wertung zu nehmen. Verantwortlich dafür ist Jesse Lacey, dessen sexuelle Übergriffe auf eine Minderjährige gerade bekannt geworden sind. Und jetzt?

Es hätte alles so schön enden können. Wieder ein Jahr geschafft, lauter gute Alben im Rückspiegel und drumherum pure Musikphilosophie ohne das kleinste bisschen Politik. Blastbeats und Emogitarren, Trap und Post-Nu-Metal, die Rückkehr von irgendwas und irgendeine neue Art von Crossover. Die Platte des Jahres gewählt von unendlich vielen Laboraffen, die strenge Algorithmen in ihre unendlichen Schreibmaschinen hacken, bis die einen Gewinner ausspucken. Keine persönlichen Eitelkeiten, die Künstler bis zur Siegerehrung hinter der Herzblattwand versteckt, nur allerfeinste reine Kunst. Science Fiction von Brand New, keine Frage. Bis ein dummer kleiner Kratzer alles zum Einsturz bringt. Ob bei all den Geschichten über mehr oder weniger bekannte Ekeltypen nicht auch mal jemand was über Jesse Lacey sagen wolle, fragt Brand News ehemaliger Gitarrenroadie Mitte November auf Facebook, und eine Frau namens Nicole Elizabeth Garey antwortet: Ja, der Musiker habe sie manipuliert und runtergemacht, Nacktbilder von ihr eingefordert und sie dazu gezwungen, ihm via Skype beim Masturbieren zuzusehen. Als das vor rund 15 Jahren angefangen habe, war er 24 und sie 15, ein erwachsener Mann also, der sich an einer Minderjährigen vergeht. Und den Laboraffen vergeht endlich der Appetit. Brand New sagen ihre anstehenden Konzerttermine ab, bei Redaktionsschluss ist keine Rede mehr von einer Abschiedstour vor dem bereits länger für 2018 angekündigten Bandende. Und visions entscheidet sich, das Album, das im Oktober noch Platte des Monats war, aus der Wertung für die Platte des Jahres zu nehmen. Es wäre schön gewesen, es drinbehalten zu können.

Your fave is problematic

Seit Jodi Kantor und Megan Twohey Anfang Oktober mit einem Artikel in der New York Times jahrzehntelange sexuelle Übergriffe des Filmproduzenten Harvey Weinstein aufdeckten, der daraufhin von seiner eigenen Firma gefeuert wurde, vergeht gefühlt kein Tag mehr, ohne dass neue Fälle bekannt werden. In vielen davon sind die Täter hochrangige Hollywood-Männer wie Louis C.K., Kevin Spacey, Ed Westwick, George Takei, Jeffrey Tambor oder Brett Ratner, aber mindestens so viele spielen auch in der Musikwelt. Schon im Sommer beschrieb ein großer Buzzfeed-Artikel, wie R. Kelly jahrelang Frauen eingesperrt und sie sich gefügig gemacht hatte. Noch bevor XXXTentacion zum neuen Lieblingsrapper des Jahres wurde, zeigte ihn seine ehemalige Freundin wegen häuslicher Gewalt an. Im Oktober wurde nach Recherchen von Spin und Pitchfork bekannt, dass Matt Mondaline seine Band Real Estate nicht verlassen hatte, um sich seinem Soloprojekt zu widmen, sondern weil ihn mehrere Frauen sexueller Übergriffe beschuldigt hatten. Mitte November kündigten Artery Recordings der Band Slaves den Vertrag, weil mehrere Frauen deren Frontmann Jonny Craig Gewalt vorgeworfen hatten. Ein paar Tage später sagten Pinegrove ihre anstehende Tour ab, nachdem Frontmann Evan Stephens Hall zugegeben hatte, Frauen zum Sex gezwungen zu haben. Im Juli lösten sich Wolf Down auf und gestanden ein, dass ihr Gitarrist Tobias zwei Frauen vergewaltigt hatte. Letztes Jahr warfen Dowsing ihren Schlagzeuger raus und Beach Slang ihren Gitarristen. Diesen Sommer wurde die aufstrebende Band PWR BTTM kurz vor der Albumveröffentlichung von einem ihrer Labels gedroppt. Im Oktober feuerte Marilyn Marilyn seinen langjährigen Bassisten Twiggy Ramirez. Und es geht immer weiter. Und zumindest bei den Bands, die man sonst gehört hätte, stellt sich dann immer die Frage: Geht das noch?

Ist es okay, in Science Fiction wenigstens mal reinzuhören, oder geht nur The Devil And God Are Raging Inside Me, weil das sowieso schon im Regal steht? Kann man ein Brand-New-T-Shirt tragen? Zum Sport, zum Schlafen, im Dunkeln? Muss man das Tattoo mit den Zeilen aus The Boy Who Blocked His Own Shot jetzt covern lassen? Darf man noch sagen, dass die Band damals auf dem Hurricane unfassbar gut war? Und überhaupt: Was ist mit Morrissey? Mit Rap an sich? Mit allen Bands, die ein Ex-Mitglied im Burzum-Shirt haben? Mit den Lostprophets? Mit Kate Tempest und mit Israel? Mit twerkenden weißen Musikerinnen? Macht es einen Unterschied, dass XXXTentacions Freundin schwanger war, als er ihr ins Gesicht schlug? Ist Skype weniger schlimm als backstage? Kann man Brian Fallon unter Religionsfreiheit laufen lassen? Darf man noch Filme gucken, in denen Weinstein-Geld steckt? Einen englischen Prinzen heiraten, der sich mal als Nazi verkleidet hat? Girls streamen? Transparent? Zu Azaelia Banks tanzen? Was, wenn eine Drag Queen 212 auflegt? Würde man Jesse Lacey vor ein selbstfahrendes Auto schubsen und damit verhindern, dass es R. Kelly überfährt? In einer theoretischen Welt wären das super Fragen, um sich darüber ausführlich den Kopf zu zerbrechen. In der praktischen sind es die falschen.

#notsurprised

In der echten Welt stellt sich die vorherrschende Rape Culture in den allermeisten Fällen immer noch auf Seiten der Täter und glaubt Opfern nicht, und wer das nicht glaubt, muss sich nur mal die endlos vielen Fälle durchlesen, die nach einem Aufruf von Tarana Burke mit #metoo und nach einem von Anne Wizorek mit #aufschrei pflichtbewusst gekennzeichnet wurden. Vor allem aber muss man sich die Reaktionen der Frauen ansehen, die auf die Fluten von Alltagssexismus, Übergriffen und Vergewaltigungen so reagierten, wie es eine Gruppe bildender Künstlerinnen schließlich unter einem neuen Hashtag zusammenfasste: #notsurprised. Nach dem Weinstein-Artikel lagen sich nirgendwo feministische Kämpferinnen feiernd in den Armen, nach dem Brand-New-Post gab es kein High Five. Stattdessen: unendliche Müdigkeit. Vergewaltigungskultur macht keinen Spaß. Sie fängt nicht erst da an, wo jemand dem Strafgesetzbuch entsprechend ungefragt körperlich in jemand anderen eindringt, und sie hört nicht auf, nur weil ein paar Abschiedstouren abgesagt und ein paar reiche Menschen gefeuert werden. Warum das ausgerechnet im Emo so viel vorkomme, fragen manche Kollegen, und für einen Pitchfork-Artikel hat Jenn Pelly den speziellen Sexismus der Szene eindrücklich zusammengetragen, aber eigentlich fällt es nur auf, weil Emos die ausführlichsten Entschuldigungen schreiben. Klare Worte sind dort wie überall rar, stattdessen gibt es vage Eingeständnisse und lange Versprechungen, sich erst mal auf sich zu besinnen, um sich zu bessern. Als habe die Egozentrik bisher so viel geholfen. Selbstanzeigen? Fehlanzeige. Dabei ist nicht nur eine körperliche Vergewaltigung strafbar, sondern es beispielsweise auch, eine 15-Jährige zu Nacktbildern zu zwingen. Dazu kommt, dass die meisten Täter ihre Taten nicht nur verschweigen, bis andere sie aufdecken, sondern ihre Opfer teils mit Gewalt und Drohungen daran hindern, zu reden. Erst nachdem Garey den Fall öffentlich machte, postete Lacey ein Statement, in dem er sich für seine Sexsucht und dafür entschuldigte, seine Frau betrogen zu haben. Den Unterschied zwischen Fremdgehen und sexueller Nötigung übersieht er locker. Und wie er behaupten kann, sich in den letzten 15 Jahren gebessert und an sich gearbeitet zu haben, ohne je ein Wort über den Fall zu verlieren, erklärt er nicht. Zu jedem billigen Zwölf-Schritte-Programm gehört es, sich zumindest zu entschuldigen. Die anonymen Vergewaltiger bleiben lieber anonym, solange es geht. Und die Welt macht es ihnen leicht.

Vergewaltigungskultur ist nicht nur, wenn R. Kelly junge Frauen einsperrt und zum Sex zwingt, sondern auch, wenn die Öffentlichkeit erst jedes widerliche Detail hören will, bevor sie ihnen vielleicht glaubt. Vergewaltigungskultur ist, wenn Ronan Farrow im New Yorker einen Nachschlag zum Weinstein-Artikel in der New York Times liefern kann (nachdem sich die NBC nicht an die Sache herangetraut hat), es aber allen Versuchen zum Trotz noch nicht geschafft hat, seinen Vater Woody Allen dafür abzusägen, dass der seine Schwester Dylan sexuell belästigt haben soll und später seine andere Schwester Soon-Yi heiratete. Wenn Alice Glass von Crystal Castles ihrem Bandkollegen Ethan Kath Übergriffe vorwirft und der sie dafür anzeigt. Wenn Garey und andere Frauen erklären, sie hätten Lacey schon mehrfach öffentlich beschuldigt, ohne dass es irgendwen interessiert habe. Wenn es plötzlich Konsequenzen gibt, aber nur in fast willkürlich ausgewählten Fällen. Wenn sich keiner davon nach Triumph anfühlt, sondern alle nur eklig und deprimierend. Wenn Roman Polanski und Dustin Hoffman weiter ihr Ding machen und es erst Dutzende Frauen braucht, um Bill Cosby zu stoppen. Wenn von diesen Frauen möglichst einige weiß und am besten berühmt sind, damit es zählt, mindestens durchschnittlich schön, aber nicht zu sexy. Wenn Donald Trump. Wenn Christina Wenig im Metal Hammer über sexistische Sprüche auf Konzerten schreibt und dafür noch viel mehr noch viel sexistischere Kommentare abbekommt. Wenn man deshalb manchmal fast keine Lust mehr auf Konzerte hat Wenn man beim Schreiben dieses Artikels kurz eine Pause macht, um doch zu einem zu fahren, auf dem Rückweg in der Bahn belästigt wird und alle nur betreten wegsehen, auch noch wenn man selbst was sagt. Wenn man schon mal versucht hat, irgendeinem netten Jungen zu erklären, warum man eben meist nichts sagt, keine schlagfertigen Sprüche, kein Aufschrei, und es oft nicht mal erwähnt, weil es so alltäglich ist. Wenn der nette Junge dann noch fragt, wo denn die ganzen Frauen im Pit und auf der Bühne seien. Wahrscheinlich einfach nicht so musikinteressiert, das wird es sein.

Selbstbetrug

Wer nach Erlaubnis fragt, gibt die Verantwortung ab. Wer so über Kunst denkt, muss sich das nicht nur leisten und ausblenden können, dass es anderen damit anders geht, sondern macht es sich auch verdammt einfach. Musik auf Musik zu reduzieren ist noch idiotischer als heimlich bei Primark zu shoppen oder Eier aus Käfighaltung zu essen, weil es so viel mehr mit Selbstbetrug zu tun hat. Es geht nicht darum, ob man Brand New noch hören kann oder darf und unter welchen detaillierten Umständen, sondern darum, ob man will. Und das ist nur ein bisschen Fangfrage. Jesse Lacey nicht mehr finanziell oder mit einem öffentlich getragenen T-Shirt zu unterstützen, ist vielleicht noch der offensichtlichste Teil. Aber wie Jenn Pelly in ihrem Artikel aufzeigt, ist auch die Musik selbst untrennbar mit ihm als Person verknüpft und klingt etwa der Song Me Vs. Maradona Vs. Elvis gleich viel unangenehmer, wenn man von Gareys Geschichte weiß: „I almost feel sorry for what I’m gonna do“ und „If you let me have my way I sweat I’ll tear you apart.“ Wie kann man das vom Künstler trennen? Und warum sollte man plötzlich wollen? Theoretisch ist Musik denkbar, die so ausschließlich technisch funktioniert, dass es keine Rolle spielt, ob dahinter ein netter Mensch, ein schlechter Mensch, ein Roboter oder ein Affe steckt. Praktisch ist es immer ein Mensch. Gerade im Emo, wo es eben doch eine riesige Rolle spielt, dass sich Fans von einem wie Lacey immer so verstanden fühlen konnten. Aber auch im technischsten Metal, im programmiertesten Techno, im textfreisten Postrock. Bei sexualisierter Gewalt geht es nicht um Sex, sondern um Macht und darum, damit davonzukommen. Beim Musikhören sollte es nicht darum gehen, was man nicht darf und trotzdem macht. Natürlich muss man nicht jeder Band nach einer schief formulierten Songzeile das Fantum kündigen und Künstler nicht erst beim Bier auf einer einsamen Insel einem tagelangen Background-Check unterziehen, bevor man irgendwas von ihnen hört, aber die meisten Fälle spielen sich weit jenseits jeder Grauzone ab. Natürlich ist es viel wichtiger, Opfern zu glauben, Frauen und anderen marginalisierten Leuten öffentlich beizustehen und dafür zu sorgen, dass die Vergewaltigungskultur aufhört, in der Musik und überall. Ob man dazwischen mal kurz Daisy hört, macht gesamtgesellschaftlich keinen großen Unterschied, aber es macht doch was mit einem selbst. Nicole Elizabeth Garey sagt, dass sie immer noch Panikattacken hat, wenn in einer Bar Brand New läuft, also ist es vielleicht eine gute Idee, Brand New nicht mehr in Bars zu spielen. Vielleicht lässt sich das für die Konzertkarten gesparte Geld stattdessen in gute Kunst von Frauen investieren. Vielleicht fühlt sich das T-Shirt doch besser als Putzlappen an, wenn man noch mal über die Texte nachdenkt. Das muss am Ende tatsächlich jeder für sich entscheiden. Und es ist okay, den Abschied von einem alten Helden erst einmal betrauern zu müssen. Für uns ist er eben gestorben.

Erschienen in Visions 298, 2017

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