Cool! - Die Geschichte der Descendents

Britta Helm
Britta Helm
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20 min readSep 18, 2016

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Punk ist nicht dann am mutigsten, wenn er Stacheln trägt und aufs System einprügelt, sondern wenn er die eigene Verletzlichkeit hochholt, gerade weil das so fürchterlich uncool klingt. Seit über 30 Jahren schreiben DESCENDENTS die allerbesten Hymnen der Nerds und Außenseiter, die in Wahrheit auch nur wollen, dass ihnen mal jemand die Brille zum Knutschen von der Nase nimmt — um dann im entscheidenden Moment einen Furzwitz zu stammeln. Punk muss ans Herz gehen, aber er muss sich darauf nichts einbilden, das hat ein ganzes Genre von ihnen gelernt. Dann ist es auch egal, wenn zwischen den Alben regelmäßig Ewigkeiten vergehen, weil das professionelle Strebertum ruft. Das siebte hat sich nun zwölf Jahre lang Zeit gelassen, um mit neuen Songs über Kaffee, Herzkasper und die Liebe genau da anzuschließen, wo schon die anderen niemanden im Stich gelassen haben. Descendents sind immer da, wenn man sie braucht. Zum Jammern, zum Wändehochlaufen und zur Erinnerung: Punk ist nicht cool. Punk ist, wie man sich fühlt.

Descendents (v.l.n.r.): Karl Alvarez, Stephen Egerton, Milo Aukerman, Bill Stevenson

Prolog: Milo wird gefeuert

Am letzten Arbeitstag nach einer Kündigung bleibt nicht viel zu tun: Nach Hause gehen, Wand angucken, vielleicht eine Tasse mehr auf den Schreck. Oder man nimmt das Punkalbum des Jahres auf. Nach 20 Jahren beim Chemieriesen Dupont fiel Milo Aukerman die Entscheidung leicht. „Ich bin im Januar dieses Jahres gefeuert worden. An meinem letzten Tag habe ich mein Namensschild abgegeben und bin dann direkt zum Flughafen gefahren, um Bill abzuholen und mit ihm meinen Gesang fürs neue Album aufzunehmen. Man könnte das schon symbolisch nennen: Ich bin aus meinem Job geflogen und mache jetzt endlich, was ich schon immer hätte machen sollen: Musik.“ Die Suche nach einer neuen Stelle in der Biochemie kann warten. Und wenn, dann sowieso nicht mehr in der freien Wirtschaft, sondern als unterbezahlter Universitätsangestellter mit ein bisschen mehr Integrität. Aber für den Moment ist Aukerman mit 53 Jahren zum allerersten Mal in seinem Leben Vollzeitmusiker. Einer mit einem Haus in Delaware, in dem kein Platz für Telefonate mit der Presse bleibt, weil seine Kinder den ausgebauten Keller mit Freunden und Computerspielen besetzt haben und ihr Vater im Weg ist. Immerhin finden sie ihn mit zwölf und 14 noch nicht völlig uncool. Ein paar Mal durften sie schon mit auf die Bühne, um zu All-O-Gistics die Schilder mit den Geboten hochzuhalten, und noch haben sie es nicht über, ihn zu Konzerten zu begleiten. Ansonsten läuft im Kinderzimmer eher Bruno Mars, wenn seine Tochter nicht gerade Waldhorn übt. Dabei kann Aukerman ihr nicht helfen, sein Bereich ist der Punk. „In letzter Zeit hört sie auch gerne Rise Against. Und eine ihrer ersten Lieblingsbands waren Agent Orange, das fand ich schon ein bisschen cool.“ Schließlich waren die vor über 30 Jahren auch schon eine seiner ersten Lieblingsbands. Und auch wenn er gar nicht mal der Typ für große Verklärungen ist, findet Aukerman es manchmal sehr okay, ein wenig in der Vergangenheit zu schwelgen. „Punkrock hat damals mein Leben verändert. Natürlich sollte man nicht ständig nur zurückschauen, aber so entscheidende Zeitpunkte in der Vergangenheit kann man ruhig mal feiern.“ Mit dem neuen Song Full Circle beispielsweise, in dem er sich in unter zwei Minuten zu Sportlerschlagzeug und wildem Riff nach 1980 zurückfuchtelt: „Notes and chords mean everything to me/ Infected for life/ I’ve got the disease/ Like germs spreading throughout the land/ If you were there, you understand/ Keep me alive.“ Natürlich hat er über die Jahre immer auch mal andere Musik gehört, aber am Ende bleibt immer nur der Punk. „Ich habe es mit Jazz versucht, das geht gar nicht, dabei schlafe ich ein. Egal, was ich mache, ich lande immer wieder beim Punk. Musik muss laut und schnell sein, sie muss den Puls hochbringen. Punk macht auf gute Weise aggressiv, man will die Wände einschlagen oder die Wände hochlaufen. Und diese Wände gibt es eben immer noch. Ich höre Punk, weil ich mich dabei am besten fühle.“

Kapitel I: Milo wird Punkrocker

Es gibt Leute, die immer schon wissen, was mal aus ihnen werden soll, und andere, die sich nie zu irgendwas berufen fühlen. Für Milo Aukerman stand schon immer fest, dass er mal Wissenschaftler werden würde. Und seit er in der High School ein Referat über Gene gehalten hatte, war auch die Fachrichtung klar: Biochemie. Der perfekte Lebensplan für einen bebrillten Nerd, der sich ungelenk durch die Schulflure bewegte und von dem weder Cheerleader noch normale Mädchen wussten, dass er existierte. Die Zeit bis zum Abschluss vertrieb er sich damit, nicht aufzufallen, und mit einer neuen Musikrichtung namens Punk, die Ende der 70er im kalifornischen Hermosa Beach erste Wellen kräuselte. Bis dahin hatte er Devo und The Cars gehört, aber irgendwann brachten es die New-Wave-Bands einfach nicht mehr. Er wollte krachige Gitarren, alles sollte so laut und so schnell sein wie möglich. Und dann tauchte eines Tages sein Kumpel Bill Stevenson mit einem Stapel Platten zur Schule auf. Ein Hinterbänkler, der seine Zeit am liebsten beim Angeln verbrachte und nun versuchte, Singles zu verticken, auf deren Cover krude Cartoonversionen von ihm selbst und seinen zwei Freunden Tony Lombardo und Frank Navetta zu sehen waren. Darüber ein Bandname in merkwürdiger Schreibweise: „The Descendents“. Aukerman kaufte eine der Platten und war schockverliebt. „Die beiden Songs haben mich umgehauen. Von da an habe ich in jeder freien Minute in der Kirche rumgehangen, in der die Band geprobt hat. Ich wollte einfach nur dabei sein.“ Zu diesem Zeitpunkt bestanden die Descendents aus Schlagzeuger Stevenson, Gitarrist Navetta und Bassist Lombardo, die sich am Gesang abwechselten, weil sie zwar theoretisch eine Sängerin hatten, die aber nie zur Probe auftauchte. Und irgendwann war schließlich Aukermans Moment gekommen. „Ich glaube, es war das zweite Mal, dass ich ihnen beim Proben zusah. Sie spielten Ride The Wild von der Single, und ich meinte, Hey, ich kenn den Song, lasst mich mal singen! Ich konnte natürlich gar nichts, aber ich glaube, sie fanden meine spastische Nerd-Energie irgendwie gut. Jedenfalls haben sie mich dann nach ein paar Monaten als Sänger dazugeholt.“ Und so wurde aus dem Nerd, der nie Frontmann von irgendwas sein wollte, ein Punkrocker mit Lampenfieber. „Keine Ahnung, was mich bei dieser einen Probe dazu gebracht hat, das Mikro so an mich zu reißen, das hat überhaupt nicht meiner Persönlichkeit entsprochen. Ich war extrem schüchtern. Es hat so gar nicht zu mir gepasst, Sänger zu sein. Die ersten zig Auftritte habe ich nur den Boden angestarrt. Es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich gemerkt habe, dass genau darin auch eine Stärke liegen kann. Es haben mich ja eh alle für den albernen Nerd gehalten, also konnte ich auch einer sein und erst recht rumspacken. Das war dann extrem befreiend, mich einfach nicht mehr darum zu scheren, was andere über mich denken.“

Kapitel II: Bill leckt Blut

Wenn Aukerman der Nerd war, in dem ein Punk-Frontmann steckte, dann war Bill Stevenson der Punker mit dem inneren Nerd. Auch sein Plan A war, irgendwann mal irgendwas zu studieren, aber nur, weil sein Vater, zu dem er eine schwierige Beziehung hatte, ihn darauf trimmen wollte. „Ich war mir damals nicht sicher, was wichtiger war: eine klassische Karriere zu machen oder zu versuchen, irgendeine Art von Musikerleben zu führen, weil das schon immer meine allergrößte Leidenschaft war. Ich war kurz davor, mich zu fügen, als 1981 Black Flag anriefen, weil ihr Schlagzeuger Robo nach Kolumbien abgeschoben worden war und sie dringend Ersatz brauchten. Auf dieser Tour habe ich Blut geleckt.“ Um das zu erzählen, ist Stevenson früh aufgestanden. Eigentlich klingelt sein Wecker sowieso zwischen fünf und sechs, aber gestern Abend ist es ein bisschen später geworden. Seine Frau hat in ihren Geburtstag reingefeiert, und weil er vor der Bandprobe am Vormittag noch Orchideen für sie kaufen will, muss das Interview eben morgens stattfinden. Wie alle Descendents beantwortet er alle Fragen so nett und geduldig, als hätte er sie nicht schon tausendmal gehört. Und wie alle alten Punks erklärt er dabei ein bisschen zu viel. Nicht auf die herablassende Art erfahrener Systemkritiker, sondern mit dem bescheidenen Charme von einem, der nicht davon ausgeht, dass jeder Mensch, mit dem er spricht, vorher seinen Wikipedia-Eintrag gelesen oder überhaupt mal seine Musik gehört hat. Wenn er von All spricht, um die es später noch gehen wird, dann sagt er „unsere andere Band All“; wenn er Aukerman meint, sagt er „unser Sänger Milo“. Dann gibt es da noch „meine andere andere Band Only Crime, mit der wir vor 40 Leuten spielen“, und „Flag, da mache ich so ein bisschen Musik mit den Black-Flag-Leuten“. Als Fan kann man dieses Spiel mit allen vier Descendents ewig spielen: Ihr wisst aber schon, wie groß eure Band ist? — Du weißt aber schon, wie klein unsere Band ist? Dass bei Stevenson Meilensteine des Punk nach niedlichen Handschmeichlern klingen, hat aber nichts mit Koketterie zu tun. Für ihn liegt eine große Stärke der Descendents darin, dass sie sich selbst nie zu wichtig genommen haben. „Ich bin sehr froh, dass die Band für uns immer ein Hobby bleiben konnte. Sonst hätten wir uns bestimmt irgendwann kaputtgemacht.“ So ist Stevenson hauptberuflich Produzent und nur nebenbei Schlagzeuger. Hauptsache Musik. Einen größeren Nerd als ihn wird man kaum finden. „Ich liebe Musik. Musik ist das erste, woran ich morgens nach dem Aufwachen denke. Vielleicht klingt das total arm von einem 53-Jährigen, aber ich steh so unfassbar auf diese knirschenden Ramones-Gitarren. Ich brauche das. Und nicht nur die Gitarren. Ich liebe Jazz. Ich habe Ornette Coleman spielen sehen, bevor er gestorben ist. Hier hängen überall Poster von Thelonius Monk und Charlie Parker. Ich bin ein riesiger Musikfan. Das ganze Drumherum ist mir egal, das Geld und der Style und das Berühmtsein. Ich liebe einfach Musik.“ Als er Aukerman unter seine Fittiche nimmt, hat sich Stevenson deshalb nicht nur schon zum veritablen Schlagzeuger gemausert, sondern bringt außerdem schon viel von dem musikalischen Strebertum mit, wegen dessen sich viel später Bands wie Alkaline Trio, Rise Against und Propagandhi ihm und seinem Studio anvertrauen werden. Aukerman mag nicht zum Frontmann geboren sein, aber Stevenson ist der geborene Musiker.

Kapitel III: Bill und Milo kriegen keine ab

„Wir hatten damals keine Ambitionen, was irgendeine Art von Erfolg anging“, erzählt Aukerman, „weil das sowieso völlig unrealistisch war. Anfang der 80er hat niemand darüber nachgedacht, professioneller Punk zu sein. Unser einziges Ziel war damals, die schnellste und tighteste Band aller Zeiten zu werden.“ Und weil man als Nerd sowieso nicht besonders viele andere soziale Verpflichtungen hat, trafen sich Descendents fast jeden Tag zum Proben. Im Frühjahr 1981 konnte Aukerman zum ersten Mal seine eigenen Stimme auf Platte in der Hand halten. Die Fat EP gab einen ersten Vorgeschmack auf die nächsten Jahrzehnte: Schnelle Punkrocksongs, der Legende nach befeuert von ungesunden Mengen an Kaffee, mit lächerlichen Titeln wie Weinerschnitzel und lächerlichen Längen von zehn Sekunden bis zwei Minuten. Das perfekte Mitbringsel, um sich in der aufkommenden Konzertszene Kaliforniens beliebt zu machen, wo Aukerman immer weniger schüchtern über die Bühnen stolperte. Wer heute an die Descendents denkt, denkt aber ans Debütalbum Milo Goes To College, das 1982 all den Frust der Nerds in so eingängige Songs packte, dass noch die toughsten Hardcore-Punks ihr Herz daran verloren. „Bill und ich waren schon damals beide komplett unfähig, Songs zu schreiben, die nicht von uns handelten“, sagt Aukerman. „Im Punk geht es ja immer darum, seinen Frust loszuwerden, und wenn man 17 oder 18 und unglücklich in ein Mädchen verliebt ist, dann ist das die größte Frustquelle von allen. Andere Bands fanden das damals zu kitschig und haben lieber Songs über die Regierung oder das System geschrieben, aber das hat uns einfach nicht so beschäftigt wie die Mädchen.“ Natürlich haben die Descendents die Liebeslieder nicht erfunden, auch nicht im Punk, wo sich die Ramones schon Jahre vorher mit I Wanna Be Your Boyfriend an die Mädchen rangeschmissen hatten. Aber den Descendents fehlten dabei die Lederjacken, der Swag und jegliche Hoffnung. Wer so uncool ist, bekommt nicht so leicht jemanden ab, deshalb erzählten Songs wie Bikeage oder Hope von den Schlampen, die sich nicht in die Nerds verlieben wollten. Mal in einigermaßen zivilisierten Worten und mal in solchen, die man heute am ehesten bei Internettrolls findet, die sich den Mythos von der Friendzone einverleibt haben: Mädchen stehen auf Arschlöcher und sind deshalb auch irgendwie selbst welche, wenn sie die selbsterklärten netten Jungs nur als Freunde wollen. „Einige Songs von früher bereue ich heute“, sagt Aukerman. „Da waren schon einige misogyne Texte dabei. Ich habe Frauen nie gehasst, aber ich wusste damals nicht, wie ich mit ihnen sprechen soll. Und dieser Frust ist dann manchmal in solche Aggressionen gekippt. Die Songs, die zu sehr nach Frauenhass klingen, spielen wir heute nicht mehr.“ Dass sie dazugelernt haben, weiß jeder, der in der Punkdisco beispielsweise mal zu I’m The One von 1996 herumgesprungen ist. Auch so ein Song an der Grenze zur Friendzone, in dem der Junge, der als Schulter zum Ausheulen immer für das Mädchen da war, es am Ende nicht bekommt, aber eben doch einer, von dem sich Loser aller Geschlechter gemeint fühlen können. Der Hass stand Descendents noch nie, der aufs System so wenig wie der gegen Menschen, deshalb haben sie ihn längst abgelegt. Und schließlich, wie im grandios schmissigen On Paper auf dem neuen Album, durch jede Menge Selbstironie ersetzt: „I never get none, and I know why/ But there’s more to me than meets the eye/ The real live me ain’t certified/ But I look good on paper.“

Kapitel IV: Milo geht aufs College

Was man kaum glauben kann, wenn man die Milo Goes To College hört: Dass Aukerman danach tatsächlich aufs College ging. Man muss schon ein echter Streber sein, um eine Punkkarriere voller klebriger Böden und warmem Bier für die Wissenschaft aufzugeben. Für die Band war das von Anfang an klar. „Ich habe Bill gesagt, dass ich das Album auf jeden Fall machen will, aber im Herbst mein Studium antreten werde. Er hat das verstanden, er wusste ja schon, dass ich eher der akademische Typ bin. Als wir dann einen Namen fürs Album brauchten, hat er erst ‘Milo Jumps Ship’ in den Raum geworfen und kam dann mit Milo Goes To College an. Er fand das cool, und ich fand es ein schönes Abschiedsgeschenk.“ Das noch viel nachhaltigere Geschenk ist aber auf dem Albumcover zwischen dem ums „The“ gekürzte Bandnamen und dem Titel zu sehen: Milo selbst, in der Cartoon-Version, mit Brille, Kammhaar und Krawatte. Was als stichelnde Zeichnung eines Klassenkameraden begann, zieht sich bis heute durch die Descendents-Artworks und unzählige Hommagen daran. Kaum ein Bandlogo ist so leicht zu erkennen und so leicht abzuwandeln: Milo als Baby, Milo als Greis, Milo auf dem Klo. Descendents verschwanden schon alleine deshalb in den folgenden Jahrzehnten nie ganz, weil bis heute in jedem Punkzusammenhang irgendwo ein Milo lauert. Merkwürdig ist das nur für Aukerman selbst. „Eigentlich ist es so albern, dass jemand 1982 dieses Bild von mir gezeichnet hat und daraus dann ein Maskottchen geworden ist, das alle mit der Band verbinden. Aber es ist natürlich auch sehr lustig. Ich kann mich nur nicht selbst darin sehen. Es klingt total bekloppt, aber ich rede selbst in der dritten Person davon. Wenn wir ein neues Albumcover oder ein T-Shirt-Design besprechen, dann sage ich: Vielleicht könnte Milo ja dieses Mal dies machen oder jenes. Ich fühle mich dabei selbst ein bisschen komisch, meist lache ich mich dann aus.“ An der Uni in San Diego stürzte sich der echte Milo nicht nur ins Studium, sondern wurde langsam auch mit dem Studentenleben warm. „Ich war auf meiner ersten Saufparty, ich habe mich zum ersten Mal richtig abgeschossen. Ich habe alles mitgenommen, was ging.“ Weil ihn weder die Biochemie noch das Bier voll auslasteten, fuhr er trotzdem immer wieder die paar Stunden nach Los Angeles, um sich mit dem Rest seiner Band für einzelne Auftritte zu treffen. Den Punkrocker bekam man aus ihm nicht mehr heraus.

Kapitel V: Milo geht auf Tour

Mit dem Bachelor-Abschluss in der Tasche war 1985 endlich Zeit fürs zweite Album. Vor I Don’t Want To Grow Up verabschiedete sich Gitarrist Frank Nevetta und wurde durch Ray Cooper ersetzt. Ein Jahr später war Bassist Tony Lombardo auch raus, für ihn spielte Doug Carrion auf dem Album Enjoy! Den tollen Songs standen allerdings mehrere Hürden im Weg. I Don’t Want To Grow Up litt darunter, dass die Band kaum zum Proben kam und dann bei einem Produzenten landete, der vor lauter Alkohol vom Stuhl fiel, sodass Stevenson sich das erste Mal am Mischpult versuchen musste. Enjoy! klang um einiges besser, war aber so vollgepackt mit Toilettenhumor, dass die Songs darunter untergingen. Das Cover zierte statt Milo eine Rolle Klopapier, auf der Rückseite standen besonders lustige Wörter für „Kackwurst“, und im Titelsong ist zu hören, wie die Bandmitglieder persönlich ins Mikro furzen. Weil solche Witze am besten funktionieren, wenn man dabei ist, gingen Descendents in dieser Zeit auf die ersten größeren Touren durch die USA. „Da hatte ich dann zum ersten Mal das Gefühl, dass es sich lohnt“, sagt Aukerman. „Nicht finanziell natürlich, aber so langsam haben sich die Leute für uns interessiert. Das ist natürlich nicht über Nacht passiert. Wir haben die ersten Touren vor ziemlich leeren Clubs gespielt. Aber beim zweiten oder dritten Mal kamen dann so langsam die Leute.“ Mit je mehr Bands Descendents auftraten, desto deutlicher wurde auch, wie sehr sie sich von ihnen unterschieden. Nicht nur, weil ihre Songs so viel ausgefeilter und ohrwurmiger waren als die der anderen, sondern auch, weil sie so gar nicht ins Punkbild passten. „Wir haben uns alle schon immer sehr langweilig angezogen“, sagt Aukerman. „Uns hat weder Mode interessiert noch Punkmode. Keiner von uns hatte je einen Iro. Und irgendwie waren wir auch ein wenig stolz darauf, nicht nur gesellschaftliche Außenseiter zu sein, sondern auch Außenseiter im Punk. Als Nerd ist man damals schon ziemlich aufgefallen auf Punkshows. Aber uns ging es wirklich immer nur um die Musik, wir haben von Sex, Drugs and Rock’n’roll die ersten beiden Teile weggelassen. Unsere härteste Droge war Kaffee. Wir haben nicht mal versucht, cool zu sein.“ Was, wie wir von Marge Simpson wissen, umso cooler ist. Oder eben von Carrie Bradshaw: Wer sich so offensichtlich um keine Trends schert, bleibt für immer zeitlos.

Kapitel VI: Karl und Stephen steigen ein

Zu den Fans, die seit Jahren darauf gewartet hatten, die Descendents endlich live zu sehen, gehörten auch Karl Alvarez und Stephen Egerton aus Salt Lake City. „Wir fanden sie cool, seit die Fat EP herausgekommen war“, erzählt Egerton, der ein paar Tage nach dem Telefonat mit Stevenson zusammen mit ihm und Flag auf Tour ist. „Als dann Milo Goes To College kam, haben wir das auch direkt gekauft. Aber danach gab es ja noch keine Touren außerhalb von Kalifornien, weil Milo eben auf dem College war. Nach den nächsten beiden Alben haben wir sie dann endlich gesehen, aber auch das waren noch winzige Shows vor vielleicht hundert Leuten. Sie sind mit einem Bulli getourt und haben in ihrem Proberaum geschlafen. Damals fing es gerade an, dass sich ein Netzwerk aus Bookern und Bands aufbaute, aber das fand alles noch in wahnsinnig kleinem Rahmen statt.“ Als nach der Enjoy! die Stellen an Gitarre und Bass frei wurden, gab es für die zwei Utah-Punks trotzdem nichts Größeres. Erst lud die Band Bassist Alvarez zum Vorspiel ein, den Stevenson lose über Freunde kannte, dann folgte Gitarrist Egerton. „Ich glaube, sie fanden es einfach logisch, mich auch mitzunehmen, weil sie zumindest davon ausgehen konnten, dass ich mich mit Karl verstehe.“ Während Descendents sich in der Punkszene Kaliforniens gerade damit einen Namen gemacht hatten, dass sie eben nicht nach Punk aussahen, hatten Egerton und Alvarez mit ihrer letzten Band Massacre Guys umso mehr versucht, allen Klischees zu entsprechen. „Salt Lake City ist ziemlich konservativ, da hat es noch Sinn ergeben, sich dagegen aufzulehnen. Karl und ich sind eine Zeitlang auf jeden Fall sehr punkig herumgelaufen. Als wir bei den Descendents eingestiegen sind, war das aber auch schon wieder vorbei. Wir hatten alle gemeinsam, dass wir uns gern mit intelligenten Menschen umgeben und es cool fanden, Sachen zu lernen.“ Wenn es ein Wort gibt, das alle vier heutigen Descendents für eine so uncoole Band auffallend oft benutzen, dann ist es „cool“. Kurz nachdem Egerton und er eingestiegen waren, steuerte Alvarez mit Coolidge einen der größten Bandhits bei: „I’m not a cool guy anymore/ As if I ever was before.“ Ein paar Jahre zuvor hatte er sich mithilfe von Milo Goes To College das Gitarrespielen beigebracht, und jetzt wollte Bill Stevenson seinen Song aufs nächste Album packen. „Das war so cool von ihm“, sagt Alvarez, der sein Interview von unterwegs gibt, nachdem er es endlich geschafft hat, seinen Anrufbeantworter abzustellen. „Coolidge war einer der ersten Songs, die ich in meinem Leben geschrieben habe, ich war einer der beiden Neuen in der Band, und Bill hat daraus direkt eine Single gemacht. Ich habe mich sehr schnell als Teil der Band gefühlt.“

Kapitel VII: Bill, Milo, Karl und Stephen wollen alles

Auf All war 1987 zum ersten Mal die heutige Besetzung der Descendents zu hören. Das Konzept des vergleichsweise experimentellen Albums stammt der Legende nach von einem Angelausflug, bei dem Stevenson zusammen mit einem Freund und jeder Menge Kaffee die Regeln fürs allerbeste Leben aufstellte, die die Bandkinder bis heute hochhalten: „Thou shalt covet thy neighbors food“, „Thou shalt always go for greatness“ und natürlich: „Thou shalt not partake of decaf“. Neben solchen universellen Geboten steuerte jeder Descendent seine eigene Note zum Album bei. Viel zu vereinfacht aufgeteilt war Aukerman der Sänger mit Talent für Rhythmen, Stevenson der Techniker mit Herz und Produzentenblick, Egerton der klassisch ausgebildete Musiker mit Hang zum Abseitigen und Alvarez die Hitschleuder mit der dreckigen Lache. Zum Prinzip gehörte schon immer, dass alle vier Mitglieder Songs beisteuern durften und sollten, die dann alle gemeinsam rundmachten. „Eine meiner Lieblingssachen an den Descendents war schon immer, dass wir vier Songschreiber haben“, sagt Stevenson. „Nicht jedes Album ist ganz genau gleich unter uns aufgeteilt, aber die, auf denen wir jeder ungefähr den gleichen Anteil haben, mag ich am Ende meist am liebsten. Man könnte sagen, dass wir deshalb leicht schizophren klingen, aber ich finde, es ist auch ein Markenzeichen.“ Womit wir spätestens an der Stelle wären, an der es kurz um die Sprache der Descendents gehen muss. Wer Fäkalhumor nicht lustig findet, ist selbst schuld, und die beleidigten Hasstiraden gegen die Mädchen von früher sind heute auch Geschichte. Dafür halten sich Wörter wie „schizophren“ und „spastisch“ umso hartnäckiger im Bandvokabular. Bei einer intelligenten Band, die überhaupt keinen Wert darauf legt, anderen wehzutun, fällt das schon auf. Wer genauer hinhört, merkt allerdings, dass die Descendents die Begriffe für sich fast immer positiv besetzen. Der neue Albumtitel Hypercaffium Spazzinate etwa steht fürs gute Ausrasten auf überviel Koffein, und der Song Limiter will ausdrücklich nicht verstehen, warum man Kindern Medikamente gegen ADHS verabreichen sollte: „Back then, everybody knew a spaz or two/ We never thought those kids were bad, did you?“ Was nicht jedem als Erklärung reichen wird.

Kapitel VIII: Milo promoviert

Wenn es eine Konstante in der Geschichte der Descendents gibt, dann die, dass zwischen einzelnen Alben immer wieder jahrelange Pausen liegen, in denen andere Bands mehr aufnehmen als sie in all den Jahren drumherum. All zum Beispiel. „Als Karl und ich einstiegen, war schon klar, dass Milo zurück zur Uni wollte, um seinen Doktor zu machen“, erzählt Egerton. „Wir hatten mit Bill also nur noch ein verbleibendes Gründungsmitglied der Descendents dabei, wollten aber weiter Musik machen, deshalb war es nur logisch, uns dafür einen neuen Namen zu suchen.“ Ansonsten blieb alles sehr ähnlich. Als Sänger kam zunächst Dave Smalley dazu, dann Scott Reynolds und schließlich Chad Price. Das Bandmaskottchen Allroy sah aus wie eine wildgewordene Mischung aus Milo und Bart Simpson, auch wenn es Egerton darstellen sollte. Und auch das Prinzip des gleichberechtigten Songschreibens behielten All bei. Der größte Unterschied zu den Descendents: Bei All wollte niemand studieren. Deshalb schaffte die Band nicht nur regelmäßig ein Album alle ein bis zwei Jahre, sondern auch viel mehr Touren. Trotzdem kann man All mit einem Satz zusammenfassen, den Fat Mike in der Doku Filmage sagt: „Es gibt niemanden, der All lieber mag als die Descendents.“ Die eine Band ist legendär, die andere ihr Lückenfüller. Für die Beteiligten geht das klar. „Aus unserer Perspektive gibt es diese Gruppe an Leuten, die einfach in verschiedenen Kombinationen Musik macht“, sagt Egerton, „die aber gar nicht so unterschiedlich sind. Gerade weil ich die ersten Descendents-Alben aber noch als Fan erlebt habe, kann ich aber natürlich verstehen, was für Meilensteine das sind. Natürlich werden Descendents da ganz anders wahrgenommen als All.“ Stevenson sieht das genauso: „Dass sich überhaupt so viele Menschen für eine Band von uns interessieren, ist schon ein riesiges Glück. Für zwei Bands kann das niemand verlangen.“

Kapitel IX: Milo macht Pausen

Ob es sich für den Rest der Band je komisch angefühlt hat, in Milo Aukermans Friendzone abzuhängen, bis der alle paar Jahre mal wieder Zeit für sie hatte? Überhaupt nicht, sagen alle. „Wir waren ja beschäftigt“, sagt Egerton. „Und es ist nicht so, als würde Milo die Ansagen machen. Als er nach seiner Doktorarbeit eine Pause machen wollte, hat er uns einfach gefragt, ob wir Lust haben, wieder ein Album aufzunehmen. Es hat gut gepasst, also waren wir dabei. So kam es zu Everything Sucks.“ 1996 war das, fast ein Jahrzehnt nach All. „Aber es macht für uns keinen großen Unterschied. Wir haben einfach wieder jeder für sich Songs geschrieben und die dann zusammengeworfen. Und so ist das Album entstanden. Es war wirklich so einfach, wie das jetzt klingt.“ Everything Sucks war nicht nur das Album mit der ewigen Hymne I’m The One, sondern auch eins, auf dem Lombardo, Navetta und Price als Gäste mitspielten. Und es war eins der ersten, das Stevenson in seinem Blasting Room aufnahm, dem Studio, das er sich mithilfe der Vorschüsse vom All-Label Interscope gegönnt hatte. Danach verabschiedete sich Aukerman, um sich zum ersten Mal ein Namensschild bei Dupont anzustecken. Nur 2004 kehrte er für die nächste kleine Pause zurück, in der Cool To Be You entstand. Das Erfolgsgeheimnis war immer noch dasselbe wie bei allen Alben davor: Punksongs um die zwei Minuten, mal schneller und mal unverschämt hymnisch, in jedem Fall immer besser produziert. Und weil man mit 40 immer noch genau dieselben Alpträume von der Schule hat wie mit 17, waren auch die Themen immer noch dieselben: unerwiderte Liebe, Fürze und sonstiges Außenseitertum. Danach widmete sich Aukerman wieder der Forschung an genmanipulierten Pflanzen, und während bei All dann doch nicht mehr viel ging, gab es für die anderen drei auch so genug zu tun. Andere Bands, Produzentenjobs, das Leben. Und die Angriffe darauf.

Kapitel X: Bill wird operiert

„Wir dachten, er stirbt“, sagt Aukerman, und das klingt entweder deshalb so nüchtern, weil es von einem Wissenschaftler kommt, oder deshalb, weil Stevenson nicht gestorben ist. 2009 hatte der mit einer Lungenembolie zu kämpfen, die von einem Hirntumor ausgelöst worden war. „Ich hatte zwei Gehirnoperationen“, erzählt Stevenson, „die Lungen-OP, um die Blutpfropfen aus den Gefäßen zu holen, und dann noch eine Operation am Herzen, bei der mir ein Bypass gelegt wurde.“ Den vier Operationen waren jede Menge Schmerzen und Erschöpfung vorausgegangen, auch das lässt sich in Filmage nachgucken. „Und als er dann alles überstanden hatte und wieder gesund war“, sagt Aukerman, „war es plötzlich so, als hätte er eine völlig neue Sicht aufs Leben. Und wir auch. Wir waren alle so erleichtert, dass er wieder da war, dass es uns noch näher zusammengebracht hat und wir wieder angefangen haben, zusammen Konzerte zu spielen.“ Man hört Hypercaffium Spazzinate die Erleichterung und den Zusammenhalt einer Band an, die gemeinsam über 30 Jahre geschafft hat. Feel This handelt vom Tod von Alvarez’ Mutter, nach dem die Ärzte seinem Stiefvater Beruhigungsmedikamente verschreiben wollten, statt ihn seinen Schmerz fühlen zu lassen, aber es kann von jedem Schmerz handeln, den man aushalten will. No Fat Burger ist die hyperschnelle Auflistung aller sehr leckeren Gerichte, die man nicht mehr essen darf, wenn was mit der Gesundheit ist. Beyond The Music feiert die Band als Auffangstation für alle Verlorenen. Und Smile ist die schwärmerischste Freundschaftshymne, die je ein Mensch für einen anderen geschrieben hat. Er verstehe, dass alles scheiße ist, singt Aukerman da für Stevenson, aber immer nur miese Gedanken seien auch nicht das Wahre. „What I wouldn’t give to see you smile“, singt er im breitesten Grinserefrain der Welt, und dann kommt einer der schönsten Chöre zum In-den-Armen-Liegen: „Toil away, and at the end of the day/ You can look back on a game well played.“ Das muss man jetzt schon mitsingen, und dann irgendwann ganz laut.

Kapitel XI: Milo bleibt Punk

Wenn es noch eine Konstante in der Geschichte der Descendents gibt, dann die, dass sie immer genau zum richtigen Zeitpunkt zurückkommen. In den 80ern brachten sie den kalifornischen Punk auf den Weg, um Mitte der 90er kurz zu schauen, ob Green Day, Millencolin und NOFX alles richtig verstanden hatten, und zehn Jahre später nach Blink-182 und Rise Against zu sehen. 2016 kriegt die Sorte Punk, die sich um Loser, Kaffee und das Verliebtsein dreht, nach eher dünnen Jahren gerade wieder die Kurve, und schon sind die Descendents wieder zur Stelle, um mit Hypercaffium Spazzinate an allen Skaterkids und Quatschmachern vorbeizuziehen. Alles ist wie früher. Das Coverbild erzählt eine absurde Geschichte von Milo, der diesmal als Wissenschaftler an einer besonders potenten Art von Koffein tüftelt. Die Songs handeln so ehrlich und schnell und laut und romantisch vom Nerdsein, dass man dazu die Wände hochlaufen will. Geschrieben haben die vier Bandmitglieder sie schon in den letzten Jahren, erst einzeln und dann zusammen, und dann übers Land verteilt aufgenommen, weil man das heute eben so macht. Die Descendents bilden sich nicht viel auf die alten Zeiten ein, solange sie die neuen haben. Stephen Egerton lacht über Bands, die darauf bestehen, analog aufzunehmen, um das Ergebnis dann doch zur mp3-Datei zu komprimieren. Karl Alvarez fühlt sich nicht alt, solange die Leute von Black Flag noch älter sind. Bill Stevenson amüsiert sich über Nachwuchsmusiker, die auf Tour ins Fitnessstudio rennen, statt einfach ihr eigenes Equipment durch die Gegend zu schleppen. Er selbst will nur noch für Freunde produzieren und ansonsten mit all seinen Bands so viel spielen wie möglich. Die Narben sollen in Bewegung bleiben. Und Milo Aukerman ist zum ersten Mal in seinem Leben Vollzeitmusiker. Einen Arbeitsplan gibt es dafür noch nicht, nur den Vorsatz, es sich jetzt nicht mit überlangen Touren kaputtzumachen. Die Descendents mögen das beste Punkalbum des Jahres aufgenommen haben, aber sie müssen damit niemandem etwas beweisen. Auch wenn es für die eigenen Wände ganz schön sein kann, sich daran zu erinnern, wie groß die eigenen kleine Band eigentlich ist. „Ich bin überhaupt kein Mensch, der gerne zurückblickt“, sagt Stevenson. „Früher hatte ich nicht mal eine Kamera dabei, wenn wir auf Tour gegangen sind. Aber wenn mir jetzt ein cooler Schnipsel aus der Vergangenheit unterkommt, rahme ich ihn schon mal ein und hänge ihn für meine Kinder auf, damit sie etwas von mir haben, wenn ich mal nicht mehr da bin. Wenn jemand mit einem Milo-Tattoo herumläuft oder mit einem unserer T-Shirts, wenn jemand einen Song von uns im Kopf hat oder einfach nur an uns denkt, fühlt sich das schon gut an. Als Mensch möchte man schließlich etwas hinterlassen. Wir alle wollen ja letztlich nur gemocht werden.“

Erschienen in Visions 281, 2016

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