Ein Loch im Boden

Britta Helm
Britta Helm
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13 min readSep 29, 2016

Trauer ist nicht einfach nur Traurigkeit hoch irgendwas, sondern der freie Fall von einem ungenügenden Gefühl aufs nächste. Niemand weiß das so gut wie Jeremy Bolm. Zwei Alben lang hat der Sänger von TOUCHÉ AMORÉ den Blick nicht von den eigenen Füßen gehoben, und kaum sah er zum dritten ein wenig entspannter nach oben, gab der Boden unter ihm nach. Wie verarbeitet man etwas so fassungslos Alltägliches wie den Tod der eigenen Mutter, für das es keine Proben gibt, nur tausend schlechte Drehbücher? Noch hat er keine Antworten, aber die Fragen müssen raus. Stage Four hält sie in spektakulärem Indie-Posthardcore fest.

Touché Amoré mit Jeremy Bolm (links)

Jeremy Bolm rief erst zurück, als er den Parkplatz erreicht hatte, einmal über die SW 2nd Street in Gainesville, gegenüber vom Eight Seconds, in dem Touché Amoré gerade ihr Tourabschluss-Konzert im Rahmen des Fest gespielt hatten. Sein Bruder hatte ihm eine Nachricht hinterlassen, er solle anrufen, wenn es passe, aber er wusste ja schon, dass es nie passen würde. Also schob er den Anruf noch ein wenig auf, mischte sich zwischen Band, Freunde und Fans und ging dann schließlich doch allein nach draußen, um auf dem Parkplatz mit dem Telefon am Ohr die eigenen Füße anzustarren und das Unvermeidliche zu hören: „Sie ist vor einer Stunde gestorben.“ Im Song Eight Seconds sagt sein Bruder dann noch: „Während du auf der Bühne warst und deinen Traum gelebt hast.“

Es gibt keine Worte fürs Sterben, nur welche für die, die übrigbleiben. Wenn jemand stirbt, dann hat man ihn nicht „verloren“, so wie man eine Sonnenbrille oder den Autoschlüssel verliert, aber man fühlt sich doch wie ein Verlierer. Vielleicht sucht man da, wo man ihn zuletzt hatte, geht noch mal alle Schritte ab in der Hoffnung, ihn nur verlegt zu haben nach irgendwohin, wo man ihn wiederfindet. Vor allem aber geht man selbst verloren, weil der Halt fehlt, der einen vorm Straucheln bewahrt. Man fühlt sich nicht einfach nur traurig, sondern schuldig, ängstlich, planlos, transparent, verraten, aufgebraucht, vielleicht auch alles oder nichts, weil Trauer so universell wie individuell ist, nur selten linear. Nicht nur Eight Seconds handelt davon, sondern das ganze vierte Touché-Amoré-Album Stage Four, dessen Texte Jeremy Bolm geschrieben hat, während er an nichts anderes denken konnte. Es gibt den großartigen Eröffnungssong Flowers And You, in dem er sich inmitten von zartem Posthardcore bei seiner Mutter für die Vorab-Trauer entschuldigt, mit der er ihr beim Verschwinden zusah, ohne wie sie an ein Danach glauben zu können. Es gibt den Beerdigungssong Benediction, in dem er wie Matt Berninger in der Emo-Version eines Metric-Songs über das Loch im Boden singt, für das sie im Voraus bezahlt hat, um es ihn nun mit Erde auffüllen zu lassen, während ihre Bekannten drumherumstehen und sagen, was man so sagt: „People say with time/ It gets easier/ But I just think that they/ Are wrong.“ Es gibt den Nachttisch in Water Damage, dessen Holz aufgequollen und gesprungen ist, weil ihre zittrigen Hände das Wasserglas nicht mehr halten konnten, und das melancholische Skyscrapers, in dem er gemeinsam mit Julien Baker New York besingt, weil es die Lieblingsstadt seiner Mutter war und Leonard Cohen ihm vorgemacht hat, dass man sehnsüchtige Songs am besten zu zweit schafft. Vor allem gibt es Displacement, das mit knapp über zwei Minuten fast so kurz ist wie die alten Touché-Songs und in einem Wort so viel sagt, wie sie alle zusammen. Nicht nur weil es die englische Übersetzung für die Metastase ist, mit der der Krebs den Körper seiner Mutter übernahm, sondern auch, weil es beschreibt, wie er mit einem Anruf den Boden verlor.

„Es ist fast, als hätte ich es heraufbeschworen“, sagt Jeremy Bolm und muss zumindest über die Formulierung lachen. „Auf Is Survived By habe ich erzählt, wie gut es mir geht, und dann passiert das Allerschlimmste, was überhaupt nur passieren kann. Darauf kann einen nichts vorbereiten.“ Weder zwei Alben darüber, wie es ist, wenn man sich überall verkehrt fühlt, noch eins, das seinen Platz ein wenig selbstbewusster verteidigte. 2009 fühlte er sich auf …To The Beat Of A Dead Horse in seiner eigenen Stadt unwohl, 2011 auf Parting The Sea Between Brightness And Me eigentlich überall. Die Songs stürzten in nur ein bis zwei Minuten von Hardcore-Ausbruchsmomenten in nachdenklichen Postrock und zurück, und Bolm schrie dazu übers Bodenstarren und Telefonverweigern. Auf Is Survived By stand er 2013 immerhin fest genug im sozialen Leben, um sich in ausführlicheren Melodien und mit Gastgesang von Vow zu fragen, wie man eigentlich Songs schreibt, wenn man ganz zufrieden ist. Während Kumpelbands wie La Dispute, Title Fight und Pianos Become The Teeth sich zum jeweiligen dritten Album auf die abwegigsten Suchen begaben, schienen Touché Amoré schon die Antwort zu haben: Posthardcore nicht als laute Einladung zum kollektiven Selbstmitleid, sondern als klug strukturierte Herausforderung, die Welt als besserer Mensch zu verlassen. Er sei mal gefragt worden, wie man sich später an ihn erinnern solle, schreit Bolm im Eröffnungssong Just Exist, und dass er geantwortet habe, er würde lieber ewig bleiben. Ein cooler Spruch, aber nicht völlig verkehrt.

Als seine Mutter starb, stand Jeremy Bolm gerade mit Is Survived By auf der Bühne, und es gehört zum Sterben, dass diese Entscheidung weder falsch noch richtig war. Im Song New Halloween blickt er voller Schuldgefühle zurück: „Now I just feel you everywhere/ It coincides with the guilt of knowing that I wasn’t there/ I was told that you wouldn’t have known/ Told myself I was where you’d want me to be/ (But it’s not that easy).“ Am Telefon erklärt er, warum er trotzdem geblieben ist: „Ich hatte sie erst ein paar Tage vorher besucht, und als sie dann bei ihrem nächsten Arzttermin plötzlich mit hohem Fieber ins Krankenhaus kam und es soweit war, wusste ich nicht, was ich machen sollte. Ich hätte mich ins Flugzeug setzen können, und natürlich hätte meine Band dafür Verständnis gehabt, aber vielleicht wäre sie gestorben, bevor ich gelandet wäre. Und dann wäre ich nicht nur nicht bei ihr gewesen, sondern auch nicht auf der Bühne. Ich habe mich gefragt, was sie mir geraten hätte. In den zwei Jahren, die sie krank war, bin ich nie auf Tour gegangen, ohne sie vorher zu fragen, ob es okay für sie ist. Und sie hat immer gesagt, dass sie nicht will, dass ihr bei ihr herumsitze, statt mein Leben zu leben. Sie war mein größter Fan. Sie hätte mir gesagt, ich soll das Konzert spielen.“ Trauer bedeutet schließlich nicht, das eigene Leben auf den Moment des Sterbens auszurichten, sondern fürs Vorher und Nachher dazusein. Also schloss Bolm Is Survived By planmäßig in Gainesville ab, um dann ins kalifornische Burbank zurückzufliegen und zu erledigen, was zu erledigen war. Sein Bruder lenkte sich mit hektischen Hochzeitsvorbereiungen ab, und so blieb es an ihm hängen, den Haushalt aufzulösen, in dem seine Mutter ihre zwei Kinder alleine großgezogen hatte.

Es ist unmöglich, einem Fremden die eigene Mutter in wenigen Sätzen zu beschreiben. Jeremy Bolm fallen nur Adjektive ein, die schon beim Aussprechen viel zu mickrig klingen. Lustig sei sie gewesen, charismatisch, fürsorglich, lebhaft, freundlich, selbstlos… Am besten beschreibt er seine Beziehung zu ihr wie alles als kleine Szene: „Als ich ihr Haus ausgeräumt habe, sind mir ein paar alte Zeugnisse von mir in die Hände gefallen. Ich will jetzt nicht zu genau darauf eingehen, aber sagen wir: Ich war kein guter Schüler. Und ihr war das völlig egal. Sie hat mich jeden Abend auf Konzerte gehen lassen, weil ich nun mal komplett auf Musik programmiert war und die Schule gehasst habe. Das war vermutlich pädagogisch nicht besonders wertvoll von ihr, aber sie hat meinen Bruder und mich immer schon in unserer Garage proben lassen, und wenn sich dann die Nachbarn über den Lärm beschwert haben, hat sie ihnen gesagt, dass sie sich verpissen sollen. Vielleicht hat auch geholfen, dass ich nie getrunken oder geraucht oder Drogen genommen habe und sie wusste, dass ich keinen Quatsch mache, wenn ich weggehe, sondern wirklich nur Bands sehen will.“ Möglich auch, dass sie als lebenserfahrenere Mutter ein Stück entspannter mit solchen Dingen habe umgehen können. In Displacement hält er ihr letztes Alter als 69 fest, er selbst war da gerade Anfang 30, sie hat ihn also nicht als planloser Teenager bekommen.

Weder schön noch gut, das alles, wie also wird ein Album draus? Mit Is Survived By steuerten Touché Amoré so entschlossen in eine neue Richtung, dass man für danach nichts hätte erraten könne. Ein verhältnismäßig experimentelles Album über Zufriedenheit kann man schon machen, aber dann? Die bittere Ironie liegt natürlich darin, dass der Band gar nicht erst in diese Verlegenheit kam. Bolm Mutter erkrankte noch während des dritten Albums, sodass fürs vierte nichts anderes zu besingen blieb. „Ich hatte kein anderes Thema“, sagt Bolm. „Das hat mein ganzes Leben bestimmt.“ Seine Band spielte in dieser Zeit im Hintergrund, rücksichtsvoll und zuverlässig. Statt wie sonst hier noch eine EP und da noch eine Split-Seven-Inch zwischen zwei Alben zu schieben, strichen Touché Amoré nach dem Tod von Bolms Mutter sämtliche Proben und Termine, damit er sich ums Aufräumen kümmern konnte, und waren bereit, als er es schließlich war. „Ich wollte warten, bis die Musik zu fünf oder sechs Songs steht, bevor ich die Schleusen zum Texteschreiben öffne, weil ich so viel rauszulassen hatte. Und als wir uns dann wieder zu den ersten Proben getroffen haben, ist fast jedes Mal direkt ein neuer Song entstanden. Die anderen hatte so viele Ideen am Start.“ Bolm ist nicht der ideale Interviewpartner in Sachen Songwriting. Nicht weil er als Sänger keine Ahnung davon hätte, sondern weil ihn die üblichen Geschichten dazu anöden. „Ja, klar, wir wollten uns selbst herausfordern, gute Songs schreiben, bla bla bla… Es lief jedenfalls sehr gut.“ Es hilft, dass Touché Amoré sich nicht wie andere Bands über verschiedene Städte oder Kontinente verteilt haben und sich zum Arbeiten online oder in Ferienhäusern verabreden müssen, sondern zu jeder Probe vollzählig erscheinen. „Wir haben auch eine Dropbox, aber die nutzt eigentlich nur unser Bassist Nick dazu, seine Garage-Band-Basteleien abzulegen, damit er selbst nicht vergisst, was er gemacht hat.“ Alles andere entsteht gemeinsam vor Ort. Die einzige Vorgabe für Stage Four: Es sollte nicht zu fröhlich klingen. „Natürlich wussten alle in der Band, wovon das Album handeln sollte, und hatten das beim Schreiben die ganze Zeit im Hinterkopf. Es wäre mir einfach schwergefallen, solche Texte zu schreiben, wenn die Songs zu poppig geworden wären.“

Zu viel Pop klingt wie die absurdeste Sorge, die eine Verzweiflungscore-Band überhaupt nur haben kann, aber bei Touché Amoré ist sie inzwischen nicht mehr völlig unangebracht. Tatsächlich würden sie immer wieder mal mit Poppunk-Bands in eine Kiste geworfen, sagt Bolm, „und das finde ich total furchtbar. Wir haben zwar auch mal Songs, die stellenweise optimistisch klingen, aber dann hauen wir direkt wieder einen Blastbeat darüber, um genau das zu verhindern.“ Trotzdem konnte die Band noch nie leugnen, dass ihre Herzen nicht ausschließlich im D-Beat schlagen. Die einzelnen Mitglieder hören alles von Indierock und Pop über Metal, Emo und Hardcore bis Experimentalelektronik und natürlich Postrock. Wenn Jeremy Bolm neuerdings auch mal singt statt schreit, dann klingt er dabei nicht zufällig wie eine etwas schüchternere Zweitbesetzung für The National. Dass es auf Stage Four wie schon auf Is Survived By lauter Indiemomente und unaufgeregte Drehs gibt, kommt nicht von ungefähr. Aber wer gedacht hat, dass mit dem dritten Album der gute Geschmack schon ausgereizt war, merkt erst zum vierten, wie viel mehr noch ging. Die Zufriedenheit von vor drei Jahren war letztlich nichts gegen die Entschlossenheit, mit der Touché Amoré jetzt Jeremy Bolms Trauergefühle zusammenhalten. Sie stehen voll und ganz hinter ihm, ganz egal, wo er sich gerade sucht. Die Songs klingen verzweifelt wie ganz früher, natürlich, aber sie tun sich nicht mehr selbst leid. Mit um die drei Minuten haben die meisten von ihnen fast klassische Längen, außerdem Refrains und Ohrwurmmelodien und so viel poppige Struktur, wie man nur ums Verlorensein bauen kann, ohne es einzuengen. „Nichts gegen uns selbst früher, aber ich habe schon im Scherz gesagt, dass Stage Four so klingt wie Parting The Sea, wenn wir da schon gewusst hätten, wie man Songs schreibt.“ Jeremy Bolm lacht. „Wir trauen uns jetzt tatsächlich ab und zu, so etwas wie Refrains zu haben. Wir wiederholen Parts. Früher hatten wir immer extrem Sorge, uns zu langweilen, und haben deshalb im Zweifel lieber alle Parts immer noch stärker gekürzt. Deshalb waren unsere Songs auch so kurz. Das hat auch super funktioniert, aber inzwischen finden wir es ganz schön, auch mal einen Part zu wiederholen, wenn er uns gefällt. Unser Produzent Brad Wood hat uns da sehr ermutigt. Er meinte immer, wenn die Leute etwas mögen, dann hören sie es auch gerne noch mal. Man kann ja den Beat ein bisschen ändern oder es beim zweiten Mal schneller spielen, aber Anhaltspunkte in Songs sind wirklich nicht das Schlechteste.“ Vor allem dann nicht, wenn es sonst nicht viel zum Festhalten gibt. Stage Four hat nichts mit dem Klischee eines traurigen Traueralbums gemein, natürlich nicht. So nervös Jeremy Bolm in sozialen Situationen immer noch seine Füße anguckt, so sicher rannte er schon immer über Böden, wenn die eine Bühne waren. Auch Introvertiertheit muss schließlich ausdrücken können. Und wenn sich ein Thema durch sämtliche Alben von Touché Amoré zieht, dann das des Auftretens. Immer wieder geht es ums Schauspielern, ums Vormachen als Nachgeben und damit Durchkommen. Auf Parting The Sea noch in Form von Method Act; auf Stage Four vor allem in der Frage, wie man etwas durchlebt, das man nicht proben kann, weil es dafür nur sinnlose Drehbücher gibt: „There is no dress rehearsal/ Just a script that I’ve never read/ A sad story that is universal/ A vague idea of what/ To expect.“

Auch Songs über den Tod kann man sich schlecht bei anderen abschauen, aber man kann welche finden, die es so treffen, dass man sie nicht mehr erträgt. Das sind die besten. In New Halloween nennt Bolm What Sarah Said von Death Cab For Cutie und I Can’t Live Without My Mother’s Love von Sun Kil Moon. „Ich liebe beide Bands, aber die Songs stimmen einfach zu sehr, die muss ich überspringen.“ Ob das auch für seine eigenen gilt? Auf Parting The Sea etwa gibt es ein hochtheatralisches Klavierstück namens Condolences, in dem sich Bolm die eigene Beerdigung ausmalt: „If there’s more importance/ In the music played/ Than who’d attend/ We are the same.“ Ob ihm das jetzt nach einer echten Beerdigung irgendwie komisch vorkommt? „Nein, gar nicht. Es gibt tatsächlich nur einen Song, den ich jetzt nicht mehr spielen würde, der war 2008 auf unserem ersten Demotape drauf. Wie hieß der noch mal…?“ Er sucht in seinem Telefon. „Aber den spielen wir sowieso nicht mehr. Genau, jetzt hab ich es: Changing Lanes. Da bin ich ziemlich blöd zum Thema Religion mit meiner Mutter ins Gericht gegangen, das würde ich nicht mehr machen.“ Auf Stage Four behandelt er das Thema auch, aber eher ratlos. Er könne einfach nicht an einen Gott glauben, der seine Mutter so sterben lasse, singt er an mehreren Stellen des Albums, um in Displacement zu schließen: „I’m not sure what I believe/ Well I think that’s understood/ But I know she’s looking out for me/ The way she said she would.“

Wenn die besten Trauersongs die sind, die man eigentlich nicht hören kann, was bedeutet das für Stage Four? Die einfache Version funktioniert nur solange, wie keiner die Texte bemerkt. „Als wir in Europa mit den Gorilla Biscuits unterwegs waren und die ersten neuen Songs gespielt haben, wusste natürlich noch keiner, wovon sie handeln“, erzählt Bolm. „Aber ich wusste es. Und mir hat es wahnsinnig geholfen, sie herauszuschreien, das hatte etwas sehr Kathartisches.“ Statt wie sonst nur einzelne neue Songs auf die Setlisten zu streuen, um alte Fans nicht zu überfordern, will er sich auf den anstehenden Touren nicht zurückhalten. Er braucht das gerade für sich. Auch und gerade weil er weiß, wie es anderen damit gehen könnte. Seit die ersten neuen Songs online zu hören sind, landen schon wieder massenweise Tweets und Kommentare von Menschen bei ihm, die sich endlich verstanden fühlen. „Es ist schön, wenn die Songs jemandem helfen, aber natürlich kann es auch schwierig sein, so etwas zu hören.“ Zu seiner persönlichen Liste der unhörbaren Musik ist nach Death Cab und Sun Kil Moon auch Sufjan Stevens hinzugekommen, seit der auf Carrie & Lowell seine toten Eltern besang. Jeremy Bolm kann das nicht allzu oft hören. Und inzwischen hat er auch schon erlebt, wie es ist, wenn Stage Four jemandem zu nahe geht. Es traf ausgerechnet Kyle Durley von Pianos Become The Teeth, die 2011 mit The Lack Long After ein Album über den Tod seines Vaters veröffentlicht hatten. „Wir waren damals schon sehr eng befreundet und miteinander auf Tour, als er jeden Abend mit diesen Songs auf die Bühne musste. Das Album kann ich natürlich auch überhaupt nicht hören zur Zeit. Als Pianos dann in Los Angeles waren, während wir an Stage Four gearbeitet haben, habe ich Kyle zwei oder drei der neuen Songs vorgespielt. Und er meinte, sie seien großartig, aber er könne sie sich nicht anhören.“

Wäre Stage Four eins dieser melancholischen Traueralben geworden, dann ließe sich ihm vielleicht leichter entkommen. Aber so funktioniert Trauer nicht, und so funktioniert Stage Four nicht. Es wartet nicht leise im Nebenzimmer, bis man Zeit dafür hat, sondern es ist überall schon da, in den besten Ohrwürmern und dem umwerfendendsten Geschrei. Wenn Jeremy Bolm und Julien Baker in Skyscraper ganz New York seiner Mutter widmen, dann natürlich deshalb, weil es ihre Lieblingsstadt war. Gerade erst war Bolm wieder da und musste an jeder Ecke an sie denken: „Sie wollte als Kind immer schon nach New York, es hat aber nie geklappt. Also habe ich sie im Jahr vor ihrem Tod mitgenommen, und es war ihr liebster Ort auf der ganzen Welt. Wenn ich jetzt ohne sie da bin, denke ich die ganze Zeit an sie.“ Genau das macht aber auch Stage Four zum unerträglich guten Traueralbum. Man muss es hören, natürlich, weil die Songs darauf fantastisch sind und von der Sorte, die man direkt wieder auflegt, wenn sie zuende gehen. Aber selbst als Besucher fühlt man sich davon an jeder Ecke so unmittelbar gemeint, dass es schwer zu ertragen ist. Bolm beschreibt seine guten Momente, die fürchterlichen und die vermeintlich egalen so schlicht und wahr, dass jeder sich darin wiederfindet. So unerwartet Trauer einem den Boden nehmen kann, so verlässlich gibt es Halt, wenn man sich dabei verstanden fühlen kann. Das macht es nicht besser, nur weniger einsam. „Es gibt so viele Arten, mit Trauer umzugehen“, sagt Jeremy Bolm, „und ich bin mir noch nicht sicher, welche davon meine ist. Bisher lag mir immer Vermeidung am besten, was ein bisschen seltsam ist, weil ich ein ganzes Album darüber gemacht habe. Ich glaube, ich bin immer noch dabei, mich vor allem abzulenken. Das Verarbeiten kommt erst noch.“ Umso besser, dass er Stage Four nicht erst danach geschrieben hat. Touché Amoré waren nie die Band, die man hört, weil sie so schön mit Sachen abschließt. Sie waren immer schon Meister darin, Zwischengefühle und soziale Ängste so entschlossen auf die Bühne zu bringen, dass es okay wurde, sie auch zu fühlen, selbst wenn man selbst gerade ganz woanders ist. Das Eight Seconds in Gainesville hat inzwischen zugemacht, an gleicher Stelle steht nun der Cowboys Saloon. Das Fest wird auch dort wieder Punkbands auf die Country-Bühne stellen. Touché Amoré sind dieses Jahr nicht dabei, sie touren dann gerade mit Stage Four durch North Carolina.

Erschienen in Visions 282, 2016

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