Just Kids

Britta Helm
Britta Helm
Published in
16 min readMay 30, 2017

Warum noch mal wollen alle Bands immer unbedingt erwachsen werden? Nie wieder kann man sich schließlich so aufregen wie in der Jugend, ohne so richtig zu wissen, worüber, und nie wieder macht das gleichzeitig so vieles besser und so viel kaputt. 17 Jahre, nachdem AT THE DRIVE-IN an ihrer eigenen Wut implodierten, springt das neue Album Inter Alia einen großen Schritt zurück, um hinter dem allerletzten Moment anzuschließen: Weg von der überambitionierten Konzeptkunst der Zwischenzeit, endlich wieder hin zu explosivem Posthardcore in einer Sprache, die jedes postapokalyptische Kind versteht.

At The Drive-In (v.l.n.r.): Omar Rodriguez, Cedric Bixler, Tony Hajjar, Paul Hinojos, Keeley Davis

Jetzt ergibt alles Sinn. Die hochgestochenen Texte und die simple Empörung dahinter. Wie eine Bande unglücklicher Kids aus El Paso erst den Posthardcore für die nächsten Generationen definieren und dann an sich selbst zerbrechen konnte. Warum es sich 15 Jahre später nicht nach lauwarmem Aufguss anfühlt, sondern kocht, wenn Hallen voller Menschen zwischen 30 und 40 in zu klein gewordenen Bandshirts aneinanderspringen und dabei grinsen wie Verlierer. Das Album, das die Band zwischen diesen Konzerten schreibt, und warum es so geworden ist, wie es ist. Der Moment im Studio, als der Produzent nach dem ersten Take von Governed By Contagions fragt, warum sie immer noch so wütend seien, und die Band ihn anschaut und anfängt zu lachen. „Das ist doch keine Wut“, sagt Tony Hajjar und lacht wieder. „Es wird nur schnell emotional, wenn wir alle in einem Raum sind. Dann entsteht schon mal ein bisschen Chaos.“

That’s the way/ The guillotine claps

Zum ersten Mal in ihrem Leben haben At The Drive-In das Chaos im Griff. Erst hat es sie gerettet, dann hat es sie kaputtgemacht, und sie haben es gelassen, weil sie es auch nicht besser wussten. 1993 gründen Sänger Cedric Bixler und Gitarrist Jim Ward ihre erste ernsthafte Band, weil sich im texanischen El Paso sonst nichts bewegt. „Skaten und Punkmusik haben mich damals davor bewahrt, verrückt zu werden“, sagt Bixler heute. „Mit 20 steckte ich gerade in einer ganz fürchterlichen Phase. Ich wusste nicht, was ich will, nur dass ich es sofort will. Ich war wütend, und ich wusste nicht, warum. Ich wusste nur, dass mein Leben scheiße ist, aber eigentlich war ich mir da auch nicht sicher.“ So viele komplizierte Gefühle kanalisiert man am besten zu Wut, bevor noch so etwas wie Angst daraus wird. 1996 lassen sie auf ihrem ersten Album Acrobatic Tenement zum ersten Mal angepissten Krach und trotzige Melodien zusammen antreten und sind zur Veröffentlichung schon das erste Mal so richtig zerstritten. Sie berappeln sich wieder, schicken Omar Rodriguez vom Bass an die Gitarre, holen Paul Hinojos am Bass und Tony Hajjar am Schlagzeug dazu und lassen sich nicht davon beirren, dass die meisten potentiellen Fans sie bis zu diesem Zeitpunkt mindestens so unerträglich finden wie sie sich selbst. Langsam gibt die Welt ihnen doch recht. Nachdem sie bei den Touren zu den ersten zwei EPs noch vor viel Luft gespielt haben, kommen sie mit Acrobatic Tenement immerhin auf Zuschauerzahlen im zwei- und dreistelligen Bereich. Zwei Jahre später trifft der Nachfolger In/Casino/Out schon weltweit Kids in die Emoherzen. 1999 erscheint Vaya, eigentlich nur die vierte EP, aber mit sieben so perfekt tragischen Songs, dass sie zum heimlichen dritten Album wird. Das offizielle kommt 2000, es heißt Relationship Of Command, ist noch viel lauter als seine Vorgänger und enthält die Single One Armed Scissor, die zum Antrieb für alle wird, die in den nächsten Jahrzehnten um sich schlagen wollen: „Cut away, cut away!“ Kein halbes Jahr nach der Veröffentlichung trennen sich At The Drive-In, die gerade mitten im Durchbruch stehen, weil sie vor lauter Wut und Erfolg und Stress nicht mehr können. „Wir hatten so viele Jahre damit verbracht, uns von Leuten sagen zu lassen, dass wir scheiße sind, dass ich den Erfolg dann nicht genießen konnte“, sagt Bixler. „Ich weiß nicht, wie es den anderen damit ging, aber wir hatten so lange gekämpft, und als es dann funktioniert hat, konnte ich einfach nicht mehr. Ich konnte mich nicht darüber freuen, dass unsere Konzerte plötzlich voll waren. Ich dachte immer nur: Was wollt ihr alle von mir?“

There’s no wolf like the present/ Of insignificance tantivy run

15 Jahre später feiern At The Drive-In nach. Mit Konzerten rund um die Welt, die zu den besten des Jahres 2016 werden. Vor den Hallen, die längst Tausende fassen, hüpfen gealterte Fans nervös von einem Bein aufs andere in der Hoffnung, gleich bloß nicht enttäuscht zu werden. Schlimmer als eine zu früh aufgelöste Band ist nur eine, die zu spät wiederkommt. Schlimmer als zu viel Wut wäre Gemütlichkeit. Aber At The Drive-In sind immer noch richtig. Von den Momenten an, als die Band mit dem Relationship Of Command-Opener Arcarsenal einsetzt, der bedrohliche Anlauf, der sich in der ersten großen Explosion entlädt, ist alles perfekt. Bixler fegt über die Bühne, stemmt hier die Hand auffordernd in die Hüfte und wirft sich da geplättet zu Boden; Rodriguez spielt seine Gitarren mit lässig gerecktem Kinn, als wolle er die ganzen letzten Jahre zum Kampf auffordern. Das ist kein Klassentreffen, zumindest keins für Popper, sondern eine höchstpersönliche Angelegenheit, die die Freaks und Nerds von einst jetzt im Publikum mit sich ausmachen. So kann Nostalgie auch gehen: Sich daran erinnern, dass früher absolut nichts besser war, und sich mitten im Gedränge kurz dafür auf die Schulter klopfen, dass man es trotzdem geschafft hat. Nicht nur absurd glücklich mitspringen, sondern ein bisschen was von der alten Wut auch wieder mit nach Hause nehmen, wo sonst nur noch Nils Frahm läuft, weil man sich einbildet, dass das Erwachsenenleben schon stressig genug ist. Als ob es das vor 15 Jahren nicht war. Mit 20 nicht zu wissen, worauf man wütend ist, heißt ja nicht, dass es keine Gründe gibt, sondern dass man noch nicht genug von ihnen kleingeredet hat, um sich auf die restlichen paar zu beschränken. Antriebslosigkeit. El Paso. Freundinnen, die bei einem Autounfall sterben. Keine Fans. Zu viele Fans. Das Weltgeschehen. Das System. Der Unterschied ist, dass At The Drive-In ihre Wut inzwischen komplett in ihren Songs verstauen. Und dass Cedric Bixler nicht mehr ganz so doll hinterfragt, warum das jemand hören will. „Ich verstehe immer noch nicht ganz, warum uns Leute so mögen. Aber heute ist meine Reaktion darauf eher: Wow, danke! Ich würde bei den Konzerten am liebsten in die erste Reihe springen und jeden Einzelnen umarmen.“

Brace yourself my darling/ Brace yourself my love

Eine erste knappe Reunion gab es schon 2012. Damals spielten At The Drive-In einige wenige Autritte beim Coachella und bei anderen Festivals. Auf Skeptiker wirkte das wie schnelle Geldmacherei; Fragen nach neuer Musik winkte die Band ab, und vor allem Omar Rodriguez schien nicht mit ganz so viel Spaß auf der Bühne zu stehen. Er ist der letzte, der sich heute zu einem Interview überreden lässt, einen Tag vor Redaktionsschluss, um sich zu erklären: „Damals war gerade meine Mutter gestorben, meine beste Freundin, natürlich war mir da nicht danach, zu spielen. Aber ich wollte den Rest der Band nicht hängenlassen. Und dafür wurde ich dann angepöbelt. Was soll’s, so ist das nun mal, die meisten Leute haben keine besonders hohe emotionale Intelligenz.“ Bandintern war damals schon alles wieder gut. „Was viele nicht wissen“, sagt Hajjar, „ist dass wir uns schon 2009 wieder versöhnt hatten. Wir haben uns im Frühjahr in Omars Haus in Mexiko getroffen und vier Tage lang geredet. At The Drive-In war für uns alle die Band der ersten großen Male, und obwohl wir damals alle eng befreundet waren, sind wir einfach nicht mit dem Druck klargekommen, als wir plötzlich von einer verhassten Band zu einer wurden, die viele Leute mochten. Wir waren noch so jung, da ist niemand besonders gut darin, zu reden. Inzwischen können wir das aber. Und als wir bei Omar saßen, haben wir gemerkt, wie viel wir uns alle immer noch gegenseitig bedeuten.“ Um sich nicht zu viel auf ihre Rückkehr einzubilden, laden At The Drive-In heute nicht wie andere Bands zum Interviewmarathon in ein Hotel oder einen bedeutsamen Ort, sondern lassen sich per Telefon mit möglichst wenigen Journalisten verbinden. Das verhindert leider auch blumige Beschreibungen ihrer Gesten, Outfits und Frisuren, aber es ist anzunehmen, dass die immer noch zur Audiospur passen: Hajjar der adrette Typ im Hintergrund, der lieber in Phrasen verfällt, als etwas Verfängliches zu sagen, Rodriguez der rücksichtslose Romantiker, der immer dann am lautesten lacht, wenn er gerade etwas Unfreundliches über unfreundliche Fans gesagt hat, und Bixler der Frontmann mit der weinerlichen Stimme, der vermutlich an den Knöpfen seines Hemdes, seinen Locken oder einem herumliegenden Mikrofonkabel zwirbelt, während er seinen Teil der Geschichte mit einem Seufzen einleitet: „Hm… Man findet nicht so oft im Leben Seelenverwandte. Wir haben zusammen viele beschissene und viele gute Zeiten erlebt. Das geht über das Wir-gegen-die-Welt-Ding des Rock’n’roll hinaus. Wir sind eine Familie.“ Die schaffte es ohne katastrophale Probleme durch den Testlauf 2012 und entschied danach, dass die zehn Konzerte nur der Anfang gewesen sein sollten. Komplett hatten sich die Bandmitglieder sowieso nie losgelassen, sich dabei aber immer aufgeteilt: Rodriguez und Bixler auf The Mars Volta, Ward und Hajjar auf Sparta, Hinojos mal hier und mal da, Rodriguez auf Bosnian Rainbows, Rodriguez auf Crystal Fairy, Rodriguez und Bixler auf Antemasque. Als aber kurz nach der ersten Reunion erst Rodriguez’ Mutter starb und dann Bixler Vater von Zwillingen wurde, war das wie ein Wink in Richtung Urfamilie. „Der Kreislauf des Lebens hat uns wieder zusammengewirbelt“, sagt Bixler. „In manchem Situationen braucht man einfach seine Wurzeln.“

There’s a narc on every corner/ Knock knock knock on every door

Was das Publikum der Konzerte 2016 nicht wusste: Backstage arbeiteten At The Drive-In schon an neuen Songs. „Das war ja eine viel ausführlichere Tour als 2012“, sagt Hajjar, „und wir haben dabei logischerweise an ganz vielen Orten gespielt, die bei der ersten Rutsche nicht dabei waren. Wir wussten also, wir werden sehr viele Konzerte mit alten Songs geben. Damit uns das nicht langweilig wurde, haben wir hinter den Kulissen schon an neuer Musik gebastelt.“ Ein Mitglied hatten sie da schon wieder verloren; Jim Ward war unmittelbar vor der Tour mal wieder ausgestiegen, allen Aussprachen zum Trotz. „Wir können niemanden zwingen“, sagt Hajjar. „Wenn jemand nicht bereit ist, sich voll für diese Band einzusetzen, dann geht es eben nicht. Der Zeitpunkt war natürlich extrem ungünstig, aber wir wollten das Publikum nicht schon wieder hängenlassen, und haben dann zum Glück schnell Ersatz gefunden.“ Keeley Davis gehörte als Mitglied von Sparta sowieso schon zur Stieffamilie; ob bei At The Drive-In jetzt deren einer oder anderer Gitarrist spielt, macht tatsächlich kaum einen Unterschied. Historisch korrekt war Ward zwar neben Bixler das einzige verbliebene Gründungsmitglied, musikalisch aber war es schon immer Rodriguez. Nicht nur ihre zwei ikonischen Lockenköpfe sorgten von Anfang an dafür, dass At The Drive-In oft als zwei Lager wahrgenommen wurden: Die Drogenfantasiendiven Bixler und Rodriguez auf der einen Seite, die Rockerboys auf der anderen. Eine Theorie, die spätestens bestätigt schien, als sich die Band fast unmittelbar nach ihrem Ende anhand dieser Trennungslinie neu ausrichtete und Bixler und Rodriguez mit The Mars Volta immer weirder wurden, während Ward mit Unterstützung von Hajjar und Hinojos bei Sparta endlich mal den soliden Frontmann geben durfte. „Wenn man sich die Nachfolgebands anschaut, verstehe ich schon, wie man darauf kommen kann, dass wir uns aufgrund klarer musikalischer Differenzen getrennt haben“, sagt Hajjar, „aber so simpel war das nicht, das wurde immer übertrieben. Wir waren ja gar nicht lange genug zusammen, um uns ernsthaft über Musik zu streiten. Wir haben alle immer alles mögliche gehört, von einfachstem Pop bis zu Fela Kuti, da lief im Bus immer die unterschiedlichste Musik und wir haben uns immer miteinander ausgetauscht. An Relationship Of Command waren wir alle beteiligt. Und bevor wir überhaupt darüber nachdenken konnten, in welche Richtung es hätte weitergehen sollen, sind wir explodiert.“

Desecrate it, desecrate it all/ Call broken arrow and level this ground

„Mir war es damals wahnsinnig wichtig, etwas Anderes zu machen“, sagt Bixler. „Ich wollte einfach nicht, dass auf meinem Grabstein später mal nur At The Drive-In steht, deshalb habe ich mich so extrem davon distanziert. Inzwischen bin ich so weit, dass auf meinem Grabstein jede Menge Sachen stehen werden, und ich habe At The Drive-In schätzen gelernt. Für mich war es sehr merkwürdig, als Omar mir mal gesagt hat, dass er mochte, was ich damals gemacht habe. Ich selbst habe das nie für besonders gut gehalten, aber auf seine Meinung gebe ich viel.“ Damit stand die Idee für Inter Alia überraschend schnell fest. Während andere Bands zum Comeback-Album ewig darüber schwafeln können, dass sie natürlich die Vergangenheit respektieren, sich aber auch weiter, und bla, tun At The Drive-In einfach so, als hätte es das Päuschen von 17 Jahren seit Relationship Of Command nicht gegeben. „Es wäre leicht gewesen, ein At-The-Drive-In-Album zu schreiben, dass unsere aktuellen Einflüsse nimmt und sie auf das anwendet, was wir früher gemacht haben“, sagt Bixler. „Aber dafür hatten wir ja schon Sparta und Antemasque und Mars Volta. Uns ging es darum, bewusst zu verlernen, was wir in der Zwischenzeit gelernt hatten. Wir wollten wieder Kinder sein. Wir wollten Spaß haben. Das war nicht immer leicht, weil natürlich immer wieder das Ego vorbeischaut und fragt, was das da gerade soll, aber dann muss man es eben wieder wegschicken. Es geht ums Loslassen. Es geht darum, die Augen zu schließen und einfach zu machen. Wie früher als Kind.“ Wie das geht, machen ihm seine Söhne gerne vor. Xanthus und Ulysses sind drei Jahre alt. „Sie bringen mir ziemlich viel bei, was das angeht.“ Die Idee zum Rückschritt kam von Rodriguez, dem sarkastischen Gitarrennerd, dem alle Instrumente am Ende am unwichtigsten sind. „Es geht immer um die Menschen, nicht um die Musik. Mit The Mars Volta haben wir äußerlich alles erreicht, was mit At The Drive-In nie geklappt hat, aber At The Drive-In war unsere erste Band, das lässt sich mit nichts vergleichen.“ Um das Gefühl von 2000 wachzukitzeln, gab er sich selbst und seinen Freunden Hausaufgaben auf: „Ich habe allen gesagt, sie sollen aufschreiben, welche Filme sie damals gesehen haben, welche Musik sie gehört haben, welche Bücher sie gelesen haben und welche Schicksale ihnen widerfahren sind.“ Musik lässt sich leicht kopieren, sich 15 Jahre jünger zu fühlen muss man sich erarbeiten.

Thirty days spent in the hole/ Raise yourself a nithing pole

Die zehn Auftritte 2012 hatten bewiesen, dass At The Drive-In es länger zusammen in kleinen Räumen aushalten, ohne sich an die Gurgel zu gehen. Auf der Tour 2016 sollte auch etwas dabei herauskommen. Jetzt, wo es wieder geht, soll es auch weitergehen. Wenn man Rodriguez fragt, antwortet der mit simplen Fakten: „Was heißt schon Zukunft. Wir werden alle sterben. Ich werde sterben, Cedric wird sterben, meine Brüder werden sterben. Aber solange wir können, machen wir weiter. Und wenn wir tot sind, macht eben unsere Musik weiter.“ Praktisch hieß das, erst mal zu lernen, wie man kommuniziert, sagt Bixler. „Nicht nur menschlich, sondern auch als Songwriter. Ich sage immer, Rock’n’roll ist die letzte Stelle, an der man Leute findet, die kommunizieren können. Früher haben wir zusammen ein Album gemacht und uns dann gegenseitig damit hängenlassen, was wir wohl jeweils damit gemeint haben können. Und wenn dann etwas ungeklärt blieb, kam es immer in den ungünstigsten Momenten an die Oberfläche, am liebsten mitten auf der Bühne. Inzwischen wissen wir, dass es besser ist, wenn wir alle unser Ego draußen lassen und vernünftig miteinander sprechen. Kinder zu haben hat mir in der Hinsicht viel beigebracht. Ich bin jetzt 42 und weiß endlich, wie man mit Leuten redet!“ Er lacht. Es klingt tatsächlich so, als wäre Inter Alia in neuer alter Freundschaft entstanden. Mit Anlauf während der ersten Konzerte der Tour, und dann als große Explosion während neun Tagen im südkoreanischen Seoul. Die Band mietete sich in ein kleines Studio ein und spielte von morgens bis abends durch. „Es waren 35 Grad bei 90 Prozent Luftfeuchtigkeit“, erzählt Hajjar, „das Studio hatte keine gute Klimaanlage, und nach zehn Stunden Schlagzeugspielen am Stück sah ich am Ende immer aus, als wäre ich gerade aus dem Pool gestiegen. Mir ist die Suppe nur so runtergelaufen, und die anderen meinten nur, cool, bis morgen dann. Wir konnten nicht denken, wir konnten nicht sprechen, wir hatten nicht mal Hunger. Wir haben uns einfach nur komplett reingehängt.“ Die Untermiete galt nur für tagsüber, weil der Besitzer des Studios nachts darin wohnte. „Unser Zeitrahmen war von zehn bis 19 Uhr, also haben wir uns jeden Morgen pünktlich um viertel vor zehn getroffen, um eins kurz Mittagspause gemacht und ansonsten höchstens mal für fünf Minuten unterbrochen. Wir hatten ja diese ganzen Ideen von unterwegs, die wir endlich ausarbeiten wollten, da wollten wir keine Zeit verlieren. Es war unfassbar anstrengend, aber es hat sich auch ganz genau angefühlt wie früher, als wir in Omars Garage die ersten Songs geschrieben haben.“ Das bisschen letzten Schliff gab es dann wieder in den USA. Erst in Los Angeles, wo Rodriguez als Co-Produzent neben Rich Costey am Mischpult stand und zusammen mit seiner Band über dessen Frage nach der Wut lachte, und schließlich im Mastering-Studio von Hajjar. So wie sich At The Drive-In früher zusammen in Autos quetschten und in Seoul in ein ungekühltes Studio, so teilen sie sich auch auf Inter Alia beschränkten Platz. „Heutzutage nimmt man ja alles digital auf“, sagt Rodriguez, „da hat man im Prinzip unendliche Möglichkeiten. Als Produzent habe ich aber darauf bestanden, dass wir nur 24 Spuren nutzen, so als würden wir auf Tape aufnehmen. Das heißt, dass wir uns immer absprechen mussten, wer wem jetzt noch eine Spur abgeben kann. Und wenn wir einen Take besser fanden als den davor, dann haben wir den alten nicht aufgehoben, sondern sozusagen überspielt.“

One shot/ Delivers us from/ What the heart don’t want/ But the heart is broken

Die Idee ist aufgegangen. Inter Alia klingt wie der direkte Nachfolger von Relationship Of Command, keine 17 Jahre jünger, nicht mal die üblichen zwei, sondern höchstens ein halbes. At The Drive-In kratzen und beißen und schnipsen dem System den Zeigefinger gegen die Stirn, ohne dabei eine einzige kecke Pose auszulassen. So so es von jetzt an weitergehen. Der Zeitsprung funktioniert mühelos, weil At The Drive-In sowieso nie in eine Zeit gepasst haben. Mit ihren Einflüssen aus Postpunk, Jazz und fremden Galaxien damals schon allem Jahrzehnte voraus sagen die einen; zeitlos oldschool sagt Bixler. „Ich weiß, dass mir manche Leute da widersprechen würden, aber für mich ist das, was wir machen, schön simpler Rock’n’roll. Ich meine das gar nicht abwertend, ich will auch nicht sagen, dass wir simple Leute sind. Aber verglichen mit meinem anderen Kram ist das schon alles sehr geradeaus.“ Wenn man so will: klar. Während At The Drive-In mit dem nahtlosen Anschluss ans dritte Album aber eine Frage klären, stellt sich eine andere. Die Idee funktioniert, weil sich außer ihnen eben doch niemand die Pause ganz wegdenkt und sich die meisten Fans nicht den Kopf darüber zerbrechen werden, ob Inter Alia mit regulärem Abstand zum Vorgänger vielleicht doch zu wenig innovativ gewesen wäre oder jetzt doch zu sehr nach frischer Studioarbeit klingt. Aber sie funktioniert ein bisschen weniger, wenn nach 17 Jahren gar nicht mehr so eindeutig ist, welches Album der Vorgänger war. Relationship Of Command hatte den größten kommerziellen Erfolg, aber es galt nicht jedem als Ideal. Den Emokids, die sich in In/Casino/Out verliebt hatten, fehlten schon damals die ruhigeren Songs und die Funkelgitarren. Die kommen auch mit Inter Alia nicht zurück. „Gut, dass du es ansprichst“, sagt Hajjar, der natürlich gemerkt hat, woher die Frage kommt. „Wir wissen natürlich, dass viele unserer Fans auch an Casino und an Vaya hängen, und wir lieben diese Platten auch. Meine Lieblingsplatte neben Inter Alia ist bis heute Vaya. Also ja, natürlich hatten wir auch diese Alben im Kopf und nicht nur Relationship Of Command. Ich nenne das nur immer, weil es unser bekanntestes Album ist. Letztlich haben wir alle unserer alten Alben noch mal seziert, und sie dann beiseite gelegt. Die einzige Erklärung dafür, dass es kaum ruhige Parts auf Inter Alia gibt, ist einfach, dass uns nicht danach war. Wir waren zu aufgedreht.“

And all your eagles dressed in parallax drag

Hörer haben immer wieder versucht, die Wut und die hochgestochenen Texte von At The Drive-In mit politischer Haltung gleichzusetzen. Bixler hat sich immer wieder dagegen gewehrt. „Ich finde einfach nicht, dass meine Texte besonders politisch sind, dafür sind sie nicht offensichtlich genug.“ Das zumindest stimmt. In seinen kruden Zeilen mischen sich schon immer brutale Bilder, historische Referenzen, seltene Werkzeuge, literarische Tiere und unvermittelte Fragen zu eigenwilligen Gesamtkunstwerken, in denen Bedeutungsjäger nur mit viel Glück und Hilfe persönliche oder gesellschaftliche Geschichten finden. Auf Inter Alia hat sich daran nichts geändert. „Ich musste mich wie bei der Musik daran erinnern, wie ich früher geschrieben habe. Ich nehme mir einen Arm voller Wörter und puzzle sie so zusammen, dass sie phonetisch zusammenpassen und ich sie auch noch singen kann. Das ist ein wichtiger Punkt, denn wenn ich zu viel in eine Zeile packe, schaffe ich das nicht, ich bin ja kein Poetry-Slammer.“ Die Wut dahinter ist immer noch so allumfassend und konkret wie damals. Am unmittelbarsten steckt sie im Song Incurably Innocent, den Bixler seiner Frau gewidmet hat. „Sie ist gerade dabei, einen sexuellen Missbrauch aufzuarbeiten, den sie 15 Jahre lang verdrängt hatte. Der Song ist für sie und für andere Menschen, die so etwas durchgemacht haben. Ich will damit sagen, dass es keinen Unterschied macht, ob es 20 Jahre her ist oder 100 Jahre, es hätte nie passieren dürfen.“ Und auch wenn es an keiner anderen Stelle mehr so klar wird, ist auf Inter Alia nicht nur das Private politisch. Die Session in Südkorea hat ihre Spuren nicht nur in der Hitze der Musik hinterlassen, sondern auch in Bixlers Gedanken. „Man kommt dort nicht umhin, darüber nachzudenken, dass man direkt neben Nordkorea ist, diesem unfassbar rückwärtsgewandten Land. Das war wie ein großes Warnschild, was mit unserem eigenen Land passieren kann, wenn wir nicht aufpassen. Ich sehe das Album als postapokalyptische Version dessen, was ein Kind sehen wird, wenn wir aufhören, für das zu kämpfen, woran wir glauben. Inter Alia ist genau das, was ein Kind schreiben würde, wenn es aus dem Fenster guckt und draußen alles zu Trümmern zerfällt.“ Und nein, Bixler lässt nicht gelten, dass Kinder so nicht reden. Man kann darüber streiten, ob es hilft oder hindert, wenn belesene Punkbands wie At The Drive-In oder auch Refused, Against Me! oder Propagandhi in ihren Texten so viele schwierige Wörter benutzen, dass man mit dem normalen Wörterbuch kaum weiterkommt und zum Nachschlagen mindestens eine südamerikanische Revoluzzer-Bibliothek oder die gesammelten Werke des französischen Anarchismus braucht. Schüchtert das die Leute ein? Schreckt es die Kids in den staubigen Städten ab, die nicht wissen, was eine „Potemkin mall“ ist oder ein „nithing pole“ oder ein „knestrel from the knave“? Bixler sagt, dass es sie stärkt. „Ich weigere mich, Rock’n’roll ein dummes Medium sein zu lassen. Ich will nicht ‘Oh baby’ singen. Man muss nicht direkt jedes Wort verstehen, aber wenn man es hört und sich darunter etwas vorstellt, dann fängt man vielleicht auch an, es zu verwenden. Ich glaube, dass die Kids der Zukunft genau das machen werden. Wenn es so weitergeht, dann steuern wir auf eine Welt zu, in der Wörterbücher verboten sind, weil der Staat seine Macht sichert, indem er den Menschen nur eine begrenzte Anzahl von Wörtern zur Verfügung stellt. Das Subversivste, was ein Kind dann machen kann, ist ein kleiner Mensch mit einem großen Wortschatz zu werden.“

Erschienen in Visions 290, 2016

--

--