Keinen Fußbreit
Sind wir noch zu retten, und wenn vielleicht, wer meldet sich freiwillig für die Front? Die guten alten Punks, natürlich. In zermürbenden Zeiten wie diesen zeigt sich, was wir an Musikern wie RISE AGAINST haben, die sich auch nach fast 20 Jahren Karriere nicht zu schade sind, die immergleichen Grabenkämpfe auszufechten. Warum? Weil sie es können. Zum Auftakt ihrer Lateinamerikatour zeigt sich in Buenos Aires eine Band, die ihr neues Album Wolves nicht verteidigen muss. Wenn es ums Angreifen geht, zählt jedes Privileg.
„Woher kommst du?“, fragt die Barkeeperin, schiebt den Halbliterplastikbecher Cola auf die Theke und lacht. „Deutschland? Ja, so siehst du auch aus.“ Gar nicht so leicht, sich als Reporterin im Teatro Flores unauffällig unter die Menge zu mischen, wenn es am Spanisch hapert, am argentinischen Dialekt sowieso, und der gemäßigte Berliner Punklook anscheinend doch in entscheidenden Nuancen von dem in Buenos Aires abweicht. Klein und sehnig wie ein Fahrradkurier müsste man sein, durchschnittlich männlich, weder blutjung noch offiziell alt, und ein klassisches Bandshirt von beispielsweise Nirvana tragen, das mit hoher Sicherheit nicht von Zara stammt, sondern mindestens vom lateinamerikanischen Äquivalent zu EMP, wahrscheinlicher noch aus den echten 90ern. Aus den kurzen Ärmeln schauen tätowierte Arme heraus, traditionelle Sleeves bis genau zu der Stelle kurz vorm Handgelenk, die ein Anzug noch verdecken kann. Die Ohrläppchen sind auf dezente Tunnel gedehnt, die Stimmung ist riesig. Noch bevor die Band des Abends überhaupt in die Nähe der Bühne kommt, springen sich rund 800 Leute zu einer ordentlichen Punk-Playlist warm, die von Fugazi bis zu Hot Water Music alles kann. I love these chords, und der Laden hier ist auch nicht übel.
Pünktlich um halb zehn springen Rise Against mit. Gleich zum ersten Song Give It All lässt sich Tim McIlrath ins Publikum spülen: „Now there’s a reason why I sing!“ Zum Auftakt ihrer Lateinamerikatour ziert sich die Band aus Chicago nicht groß, sondern liefert einfach mal alles ab. Ewige Topsongs wie Prayer Of The Refugee und Savior, die ganz neuen Stücke The Violence und Welcome To The Breakdown, Survive für die Mütter, deren Kinder die letzte argentinische Diktatur verschleppt hat, und natürlich die Akustiknummern Hero Of War und Swing Life Away, für die McIlrath schließlich ganz alleine mit seiner Gitarre zurück auf die Bühne kommt. So enthusiastisch hier nach jedem Song gefeiert wird, so irritierend still bleibt es beim Warten auf die Zugabe. Keine Chöre, kein rhythmisches Klatschen, nicht mal übermäßig viel Husten. Gar nicht so verkehrt eigentlich, sich die Kräfte einzuteilen, wenn man doch weiß, dass eh noch was passiert, aber schon komisch, wenn so gar keiner was sagt. In so einem Moment ruft sich der Regen wieder ins Gedächtnis, der draußen schon den ganzen Abend lang vom Himmel stürzt, als wolle er die gesamte Stadt wegschwemmen, und sich bis dahin erst mal in knöchelhohen Pfützen auf dem Asphalt sammelt. Im Flores ist es muckelig und trocken, auf den abgewetzten Samtbalkonen könnte man mit Bier, Wasser und Barnüssen einige Wochen verbringen und darauf hoffen, dass der Herbst draußen nicht noch zum Winter wird. Nur hilft das irgendwie niemandem weiter. Was für eine perfekte Metapher.
Vegan im Steakhouse
„Es reicht nicht, Schutzräume zu schaffen“, sagt McIlrath ein paar Stunden vor dem Konzert. „Wir müssen auch dafür sorgen, dass es gefährlich für die wird, die mit rassistischen, sexistischen oder homophoben Ideen ankommen. Wir müssen klarstellen, dass solche Leute nicht willkommen sind.“ Es ist Nachmittag und noch geht der Regen draußen nicht als Unwetter durch. Rise Against haben sich in ein pompöses Hotel mitten in Buenos Aires eingemietet, nicht weit vom berühmten Obelisken, der die zwölfspurige Avenida 9 de Julio in der Mitte teilt. Zum Interview schicken sie McIlrath in die Lobby vor, weil die anderen sowieso nie interessante Fragen abbekommen, wie der Tourmanager erklärt, deshalb sitzt der Sänger jetzt allein auf einem der grazilen Sessel und lässt sich von den verstohlenen Blicken von allen Seiten nicht aus der Ruhe bringen. Rechts guckt der Rezeptionist neugierig und fragt sich wohl, welche Berühmtheit dieser unauffällige Amerikaner mit den verschiedenfarbigen Augen sein soll. Links plingt der Aufzug jedesmal, bevor neue Hotelgäste aussteigen, kurz stutzen und dann schnell aus dem Weg huschen. Weiter hinten hat sich der Rest der Band um einen Tisch gruppiert und diskutiert über Game Of Thrones. Vorne stehen sich die Fans unter dem Vordach des Hotels die Beine in den Bauch und versuchen, durch die Scheiben mitzubekommen, worum es geht. Die meisten von ihnen haben schon Autogramme und Fotos abgesahnt, bleiben aber zur Sicherheit noch ein bisschen da. Vorhin hat sich Gitarrist Zach Blair für sie Zeit genommen und seinen Glatzkopf in ihre Handykameras gehalten. Gerade ist auch Schlagzeuger Brandon Barnes kurz bei ihnen stehengeblieben, klitschnass von einem besonders überraschenden Guss, einen Starbucksbecher als Beute in der Hand. Nur Bassist Joe Principe hat es bisher noch nicht vor die Tür geschafft. Der Weg vom Bett in die Sesselrunde war fies genug, es ist spät geworden gestern. „Joe ist ja schon hart“, sagt Blair und kichert. „Aber gegen Tom Morello kommt keiner an. Sie haben schon die Lichter in der Bar angemacht, damit wir endlich gehen, und der Typ hält nur sein Glas hoch und bestellt das nächste Getränk.“ Das Maximus-Festival war in der Stadt, mit einem merkwürdigen Line-up aus Slayer, den Prophets Of Rage, Ghost und — leider kein Scherz — den Onkelz, und Rise Against haben die Chance genutzt, sich von ihrem Kumpel und Idol ausführen zu lassen.
„Wenn Tom Morello einen in ein Steakhouse einlädt, dann sagt man nicht nein“, erklärt McIlrath. In seiner Band isst zwar niemand Fleisch, aber als Oldschool-Vegetarier oder -Veganer weiß man auch ein ordentliches Salatbuffet in netter Begleitung zu schätzen. „Eigentlich gibt es in Steak-Restaurants sogar oft überraschend gutes veganes Essen, weil die Köche einfach gut ausgebildet sind und die Herausforderung gerne annehmen. Gut, das gestern war eher mittelmäßig, aber ich habe schon einige wirklich tolle Sachen bekommen.“ Er dreht sich zu seiner Band um. „Leute, wisst ihr noch, damals im Ritz in New Orleans? Meine Güte, war das lecker!“ Bestimmt nicht der punkigste Satz, der je gesagt wurde, aber einer, der Rise Against und das Album, um das es hier gehen soll, unwillkürlich auf den Punkt bringt: Vegane Küfas sind gut und wichtig, aber irgendwer muss auch die Steakhäuser mit veganen Bestellungen nerven. Punk bleibt nur dann der beste Zufluchtsort, wenn man ihn mit Klauen und Zähnen verteidigt. Friede den Schutzräumen, Krieg der Gefahr.
Auf Augenhöhe an der Front
Mag sein, dass Tim McIlrath das mit den Schutzräumen noch nicht ganz verstanden hat, aber immerhin kennt er seinen Platz darin. „Gerade in den Staaten gibt es viele weiße Menschen, die glauben, sie dürften entscheiden, wer ins Land gehört und wer nicht, weil sie dort geboren wurden. Wenn es danach geht, kann ich als weißer Mann, der auch in Amerika geboren wurde, aber auch entscheiden, wer bleiben darf und wer gehen soll. Und ich sage: Rassisten raus. Sexisten raus. Fremdenfeindlichkeit raus. Homophobie raus.“ Genau darum geht es bei Schutzräumen, die im Englischen ein bisschen weniger kantig safe spaces heißen, natürlich schon die ganze Zeit. Vor allem Punks, die nicht als weiße Männer geboren wurden, haben sich längst physische und virtuelle Räume geschaffen, in denen für Diskriminierung kein Platz sein soll. Das hat nicht, wie Bessergestellte gern behaupten, mit In-Watte-Packen und Vor-der-echten-Welt-Verstecken zu tun, sondern schlicht damit, sich wenigstens ab und zu mal so frei bewegen zu können, wie es für alle selbstverständlich sein sollte. „Schwul“ oder „behindert“ nicht als Schimpfwörter hören zu müssen, nicht ungefragt angetatscht zu werden und zu wissen, dass sich alle zuständig fühlen, wenn sich doch mal jemand scheiße verhält. Konzerte können solche Räume sein, auch wenn sie es oft nicht sind. Die USA sind kein solcher Ort. Und es liegt, wie McIlrath erkannt hat, an Menschen wie ihm, das zu ändern. Die ganzen –Ismen zielen schließlich nicht auf ihn, er kann auf Augenhöhe an der Front stehen. „Es liegt an uns, solche Ideen anzugreifen, wenn sie gefährlich werden.“
Wer mit McIlrath spricht, landet schnell im Krieg. In fast 20 Jahren Rise Against hat der Frontmann seine Metaphern perfektioniert. Es geht um Fronten und Mächte, um Niederlagen, Widerstände und Verlierer, und McIlrath wiederholt all diese Bilder so oft, bis jeder sie verstehen kann. Mag sein, dass es allzu oft nach plumpen Phrasen klingt, wenn er schon wieder von Schlachten und vom Kämpfen anfängt und davon, dass man bloß nicht aufgeben darf, weil man dann nämlich nicht mehr gewinnen kann, aber recht hat er ja. „Unsere Lektion aus der ganzen Sache ist“, sagt er und redet dabei vom Wahlausgang der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl im letzten Jahr, „dass diese Kämpfe nie ganz ausgefochten sind. Wir dürfen unsere Stellungen nie verlassen, weil die andere Seite immer an der Front steht und darauf wartet, dass wir ihr den Rücken zukehren und sie Land gewinnen kann.“ Er habe nicht daran geglaubt, dass Donald Trump gewinnen würde, gibt er zu, „da war ich vielleicht auch ein wenig naiv. Ich glaube, viele von uns haben unterschätzt, wie wütend Amerika war und wie gut es jemand wie Trump versteht, die Leute von sich zu überzeugen. Wir dachten, wir wären schon so viel weiter, aber Rassismus und Sexismus verschwinden nicht einfach so, egal, wie viele Fortschritte wir schon gemacht haben. Sie sind immer da und lauern auf ihre Chance. Rassismus ist ein mächtiges Gefühl, es gehört nicht viel dazu, es zu befeuern, und Trump weiß, wie das geht. Er gibt den Menschen die Erlaubnis, Arschlöcher zu sein. Er sagt ihnen, dass es okay ist, rassistisch und sexistisch zu sein, weil wir das in den guten alten Zeiten schließlich auch waren. Das ist unfassbar gefährlich. Ich glaube nicht mal, dass er weiß, wie gefährlich das ist.“ Zeit für Rise Against, ihr Arsenal aufzustocken.
Worum es wirklich geht
Wenn McIlrath vom Kämpfen spricht, dann meint er zuerst einmal die Schlacht um Rekruten. „Es geht um die Jugend, um die nächste Generation. Während die Kids aufwachsen, kämpfen eine Million verschiedener Leute um ihre Aufmerksamkeit, ihre Meinung, ihren Kopf. Von einer Seite ziehen die Medien, von einer anderen die Werbeindustrie, Eltern, Lehrer, Freunde, Religionen, alles, was irgendwie Teil der Kultur ist. Es liegt an uns, etwas ins Rennen zu werfen, das diese Kids vielleicht für sich entdecken, weil es genau das trifft, was sie schon länger gefühlt haben, aber noch nicht in Worte fassen konnten. Wenn wir das für einen Menschen machen können, für zwei, drei, viele Menschen überall auf der Welt, dann schaffen wir es vielleicht, nicht mehr Teil des Problems zu sein, sondern Teil der Lösung.“ Das Ziel ist Aufklärung, der Weg führt über die Musik. „Ich glaube, wir vergessen manchmal, wie wichtig Musik gerade für junge Leute ist. Sogar ich vergesse das leicht. Wenn wir hier heute Abend auf die Bühne gehen, dann stehen davor viele Menschen, die gerade dabei sind, wichtige Fragen für sich zu beantworten. Und die Bands, die sie lieben, helfen ihnen dabei. Mag sein, dass sie uns über einen Song wie Savior entdeckt haben, der überhaupt nicht politisch ist, aber wenn wir sie erst mal im Raum haben, merken sie meist, worum es wirklich geht.“
Es ist eben ein altes Missverständnis, dass Protestmusik es zur Aufgabe hat, die da oben aufzumischen. „Die Leute, über die wir singen, hören uns eh nicht“, sagt McIlrath. Aber die Kids und Weirdos und Alleingelassenen tun es vielleicht und fühlen sich dann weniger allein. Darum geht es in Wahrheit, wenn man einen Song wie Savior und eine Band wie Rise Against entdeckt: Sich gemeint und verstanden zu fühlen, und sich dann die größeren Fragen zu trauen, auch an sich selbst. „Welche Art von Musik das macht, ist bei jedem unterschiedlich“, sagt McIlrath. Seine Töchter, im kritischen Alter 8 und 12, können mit Rise Against nichts anfangen. „Sie hören ausschließlich Pop. Ich habe versucht, sie in Richtung Punk zu lenken, aber das hat nur dazu geführt, dass sie gar keine Musik mehr gehört haben. Also lasse ich sie jetzt hören, was sie wollen, und versuche nur, ihnen beizubringen, auch ihre Lieblingsmusik zu hinterfragen. Nur weil ein Popsong ein bestimmtes Frauenbild vermittelt, heißt das nicht, dass es das einzig mögliche Frauenbild ist. Es gibt viele coole und progressive Ideen im Pop, aber eben auch viel Mist. Und ich hoffe, dass sie den Unterschied erkennen.“
Musik für den Widerstand
Woran erkennt man noch gleich den Unterschied zwischen Punk und Pop? Ein Song wie Savior, handgespielt und flott produziert, laut und unfassbar eingängig, einer der bis heute kommerziell erfolgreichsten einer konsumkritischen Band, fällt jedenfalls in ihre Schnittmenge. Genauso könnte man Green Light von Lorde da verorten, noch so ein trotziges catchy Stück übers Drüberhinwegkommen, FKA Twigs‘ eigenwilliges Vogueing, die Hallen voller Ärzte-Fans, Blink-Hits für immer im Radio, Lady Gaga und ihre Monster, drei Minuten, drei Akkorde, ein tanzbarer Beat, große Gefühle, Mitsing-Hooks, jetzt alle, woohoo. Ein bisschen albern jedenfalls, die Trennlinie nicht einfach zwischen super und nicht super zu ziehen. Rise Against spielen seit sieben Alben poppigen Punk, dem zum Poppunk nur die Lustigkeit fehlt. Mitreißend, wütend, Mittel zum Zweck im besten Sinne. Völlig irrelevant weil gestrig, sagen die einen Hater über die Band. Ziemlich enttäuschend weil nicht mehr wie früher, sagen die anderen Hater über jeden neuen Song. Man könnte natürlich auch sagen, dass beides zu simpel ist, aber wo wäre da der Spaß. Tim McIlrath weiß eh, dass er es niemandem recht machen kann. „Es ist nicht so, dass es mir egal wäre, was die Leute denken“, sagt er, „aber wonach soll ich denn dabei gehen.“ Gerade ist der Song The Violence als Vorab-Single zum neuen Album erschienen, und online geht es wie immer rund. „Es gibt jedes Mal die Leute, die sagen, dass unsere alten Sachen besser waren, aber wenn man dann weiterliest, meinen sie damit Endgame. Für mich heißen ‚alte Sachen‘ sowas wie unser erstes Album The Unraveling, ich weiß also nicht mal, wovon wir reden. Mir ist nur wichtig, dass wir weder versuchen, wie früher zu klingen, noch uns an das anzupassen, was gerade im Radio läuft. Wir wollen überhaupt nichts versuchen, wir wollen einfach Songs schreiben.“
Deshalb gibt es zum achten Album Wolves auch so wenig zu sagen. Rise Against haben Songs geschrieben, elf Stück, die zusammen ein Rise-Against-Album ergeben. Eigentlich müssten sich sich die Traditionalisten und die Modernisten sogar besonders gut auf die schnörkellosen Hymnen einigen können, die weder ganz in alte Härte verfallen noch zu viele Effekte schieben. Einen überflüssigen Ska-Part gibt es in Bullshit, ein bisschen viel späte Green-Day-Stimmung in Mourning In America, aber keine Kitschnummern, keine Sample-Orgien, keine Verrenkungen. „Das Album ist auf jeden Fall direkter als die letzten“, sagt McIlrath. „Wir konnten uns diesmal nicht den Luxus gönnen, lange herumzueiern.“ Prinzipiell haben Rise Against natürlich alle Gelegenheiten der Welt, um sich mit ihren Lieblingsinstrumenten in ihre Lieblingsstudios einzumieten und ausführlich zu spielen. Aber politisch drängt die Zeit. Eigentlich hätte McIlrath das Album gerne schon vor der Präsidentschaftswahl herausgebracht, jetzt ist er froh, dass es länger gedauert hat. Wollte ja keiner ahnen, dass der Widerstand danach erst recht losgehen muss. „Darum ging es schon immer auf unseren Alben, aber Wolves ist noch ein Stück aggressiver. Stell es dir vor wie einen Dozenten an der Uni, der seinem Seminar etwas erklärt, und am nächsten Tag merkt, dass es niemand verstanden hat und er alles noch mal von vorne erklären muss. Wir haben diesmal versucht, so deutlich wie möglich zu machen, wie viel Fortschritt wir in dieser Wahl verloren haben, welche Schuld daran uns trifft und warum Widerstand jetzt umso wichtiger ist, nicht nur passiv, sondern aktiv.“
Trump-Wähler im Publikum
Rise Against sind weder Professoren noch Steinewerfer, aber sie wissen beide zu schätzen. Wenn McIlrath so auf seinem Sessel sitzt, das kurze blaue Hemd offen über einem weißen T-Shirt, die Ellbogen kommunikativ auf die Knie gestützt, dann erinnert er eher an einen ehrlich bemühten Mittelstufenlehrer, der Nachmittags-AGs organisiert, aus Prinzip auch mal ein Schimpfwort benutzt und sich immer um alle seine Schüler sorgt. Er ist nicht böse auf die Trump-Wähler, sagt er. „Ich sehe sie als Opfer. Sie sind reingelegt worden, von der Politik und den Medien. Wenn man nur Fox-News schaut, dann glaubt man irgendwann, dass der Klimawandel eine Lüge ist, wir ein echtes Problem mit Wahlbetrug haben, Russland nichts mit unserer Wahl zu tun hatte und Obama uns mit seiner Regierung die Apokalypse beschert hat. Diese ganzen Lügen, die sich aus weißem Privileg speisen. Ich kenne Menschen in meinem direkten Umfeld, die darauf hereingefallen sind. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass sie verstehen, was da passiert ist.“ Wie das gehen soll? „Das ist die große Frage. Es ist immer wichtig, niemanden abzuschrecken und sich in die andere Seite hineinzuversetzen. Aber gleichzeitig gibt es eine ganz klare Grenze, wenn jemand wissenschaftiche Fakten abstreitet oder rassistische Ideen normalisiert. Das ist nie okay.“
Solche Diskussionen führt McIlrath nicht nur mit Freunden und Familienmitgliedern, sondern auch mit Fans. Ein typisches Rise-Against-Publikum aus weißen Mittelklasse-Jungs sieht dem einer Republikaner-Veranstaltung demographisch gar nicht so unähnlich, da sind Überschneidungen nur wahrscheinlich. „Wir haben ziemlich sicher Trump-Wähler im Publikum. Das war gestern beim Essen mit Tom Morello auch Thema. Er weiß, dass er auf jeden Fall Trump-Wähler in seinem Publikum hat. Auch vor der Wahl hatten wir immer schon Fans, die eher links wählen, und solche, die eher rechts wählen. Am Anfang hat es mich überrascht, wenn ich jemanden getroffen habe, der alle unsere Songs kennt und mir dann erzählt hat, dass er rechts wählt. Ich habe mich gefragt, wie das zusammenpasst, ob unsere Songs noch nicht deutlich genug sind. Aber mit der Zeit habe ich verstanden, dass wir oft alle über dieselben Dinge wütend sind. Manchmal entscheidet man sich eben für eine Seite und bleibt dann dabei. Und manchmal hat jemand sehr persönliche Gründe, sich auf eine bestimmte Seite zu schlagen, weil in seinem Leben etwas passiert ist und ihm die Informationen fehlen, es richtig einzuordnen. Wenn wir jungen Leuten nicht erklären, warum ein starkes Sozialsystem uns letztlich allen hilft, verstehen sie vielleicht nicht, warum sie ihr hart verdientes Geld dafür abgeben sollen. Es liegt an uns, ihnen das zu vermitteln.“
Ehrenabzeichen
In Gesprächen kann McIlrath stundenlang über den Klimawandel und seine Katastrophen, Krankenkassen, Immigration, die Republikaner, die Demokraten, Rassismus, Sexismus, Homophobie und Klassengesellschaften reden; in Songs muss er sich kurzfassen. „Are we not good enough?“, heißt es deshalb in The Violence, „Are we not brave enough?/ Is the violence in our nature just the image of our maker?“ Und, ist Gewalt unweigerlich Teil des menschlichen Daseins? „Ich hoffe, dass es nicht so ist. Ich hoffe, dass wir uns dagegen entscheiden können. Ich glaube auf jeden Fall, dass Widerstand nie zu Gewalt gegen Menschen führen sollte. Gewalt gegen Dinge kann ich verzeihen. Niemand sollte verletzt werden, aber wenn man den Menschen keine Zukunft gibt und keine Hoffnung, dann muss man sich nicht wundern, wenn sie Sachen anzünden.“
Das Video zum Song wollte die Band eigentlich auf einem Gelände voller riesiger Präsidentenköpfe drehen, dann wurde ihnen die Genehmigung entzogen. Letztlich die medienwirksamere Meldung und auch für McIlrath selbst ein angenehmer Kitzel. „Wir hatten die Erlaubnis eigentlich schon, aber dann haben sich die Besitzer des Geländes unsere Band ein bisschen genauer angesehen und entschieden, dass wir ihnen zu regierungskritisch sind. Was natürlich auch stimmt. Wir hätten da bestimmt kein Pro-Regierungs-Video gedreht. Wenn man als Band provozieren will, muss man sich nicht wundern, wenn sich Leute davon provoziert fühlen. Für mich wäre das Schlimmste, wenn sich keiner daran stören würde, was wir zu sagen haben. Dass sie uns nicht wollten, ist wie ein Ehrenabzeichen.“ Es ist schließlich auch gar nicht so leicht, als eine Gruppe weißer Herren im besten Alter überhaupt noch Widerstände zu finden, gegen die man anrennen kann. „Das stimmt“, sagt McIlrath. „Diese Band ist ein Resultat weißer Privilegien. Einer meiner besten Freunde ist Amerikaner mit indischen Wurzeln, seine Eltern kommen aus Indien, aber er ist in den Staaten geboren und genauso amerikanisch wie ich. Ich kann mich mitten in Florida auf eine Bühne mit einer 15 Meter hohen umgedrehten amerikanischen Flagge stellen und für Tausende Leute spielen. Er könnte das nicht. Und gerade deshalb muss ich es machen.“
Gar nicht so verschieden
Auf einer Tour durch lateinamerikanische Länder braucht diese Positionierungsarbeit viel Feingefühl. Rise Against wollen zeigen, dass es auch innerhalb der USA Widerstand gibt, auch von Leuten, die wie sie in die Trump-Demographie fallen können. Aber sie wollen die Verantwortung auch nicht abgeben, sich nicht einfach nur als die Guten hinstellen. „Es ist ein bisschen wie auf Touren nach dem 11. September, als wir versucht haben, zu zeigen, dass nicht alle Amerikaner auf der Seite von George Bush sind. Aber wenn die Menschen auf uns als weiße Amerikaner wütend sind, dann muss ich das auch aushalten.“ In den nächsten Tagen geht es weiter nach Mexiko, in das Land, das sich Trump zur Zielscheibe gemacht hat. Wütend auf Rise Against werden die Fans auch da eher sein, weil sie die neuen Songs nicht mögen oder irgendein alter in der Setlist fehlt. Die Verantwortung gilt aber, auch heute in Buenos Aires schon, nicht nur den Fans im Publikum gegenüber, sondern auch für die in den USA. „Wenn wir an Orten wie diesen spielen, gibt es danach Videos und Fotos im Internet, auf denen man auch das Publikum sieht. Wir reden immer so viel über Mexiko und Lateinamerika und die USA, über Immigration und über undokumentierte Immigranten und wie verschieden wir alle sind, aber wenn wir herkommen, spielen wir für Menschen, die genauso sind wie wir. Es hilft, politischen Diskussionen menschliche Gesichter zu geben.“
Ein paar Stunden später sind die alle auf Tim McIlrath gerichtet, erschöpft und schwitzig, mit Smartphones vor dem Gesicht, um die Freunde per Instagram Live teilhaben zu lassen, oder mit zwei leeren Armen in der Luft. Bis zur Zugabe war es leise, die zwei Akustiksongs hat das Publikum noch in freundlicher Halblautstärke gefeiert, aber ohne Savior ist kein Rise-Against-Konzert vorbei. Also kommt noch mal die gesamte Band auf die Bühne, springt und singt ihren unpolitischsten Song, dessen Text trotzdem universell funktioniert: „I don’t hate you, boy.“ Und natürlich hatte McIlrath mit seinen Phrasen recht: Besonders exotisch fühlt sich ein Rise-Against-Konzert auch auf einem anderen Kontinent nicht an. Die Cola ist eh die gleiche, die Songs gehen immer, und der Typ mit den tätowierten Armen und dem nassen T-Shirt, der am Ende an die Bar stürzt, stöhnt dabei: „Agua!“ Das kann man verstehen.
Erschienen in Visions 291, 2017.