Unersättlich

Britta Helm
Britta Helm
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7 min readOct 29, 2017

Ein echter Rapgott hätte genug Arroganz, um die hässlichen Seiten des Ruhms einfach an sich abperlen zu lassen. CASPER ist auch nach drei Erfolgsalben nur ein netter Boy aus Bielefeld mit Zweifeln und Hochstaplersyndrom. Deshalb muss ihm das vierte jetzt die Flucht nach vorn freischießen: mitten durch die treuen Fans, die einfach weiter tanzen, tanzen, tanzen.

Das echte Leben kann gar kein Musikvideo sein. Da gibt es keine 200 auserwählten, schönen, jungen Menschen, die in einem alterwürdigen Saal nicht nur springen, sondern richtig tanzen, mit großen Armbewegungen und im Takt, zu dem ihnen ein anderer schöner junger Mensch aus dem Nichts Mut ansingt. Drangsal ist nicht da an diesem Abend, seine Stimme kommt vom Band, obwohl Max Gruber nur ein paar Friedhöfe und eine Ringbahn entfernt wohnt. Aber Casper ist da. Endlich. Den Anzug hat er im Keine Angst-Video gelassen und trägt stattdessen ein Code-Orange-Shirt mit langen Ärmeln, in dem er über die gebrochenen Kinder der zerbrochenen Stadt rappt, bis er früher als geplant ins Schwitzen gerät. Vielleicht doch die falsche Outfitwahl, sagt er zwischen zwei Stücken, und natürlich ruft jemand „Ausziehen!“ Später wird ein Circle Pit die braven Tänzer gegen die Wand drängen. Aber vorher springt Casper noch zu neun von zehn neuen Albumsongs über die Bühne, weicht einem Bierbecher aus, nimmt einen Herzchenbrief an, und als Zugabe dann noch zu drei alten. Es blitzt und donnert und strahlt, die Band spielt auf den Sireneneinsatz genau, und bis zu den Balkonen hoch sitzt jedes Wort, jedes Handyfeuerzeug. Dieses Konzert hat nicht umsonst sein eigenes Hashtag.

Vor Wochen sind auf Instagram die ersten Postkarten aufgetaucht, dann T-Shirts, Blumensträuße, Kleinanzeigen: #catchcasper3. Die Fans mussten lange genug auf ein neues Album warten, da ist eine neue Rutsche Geheimkonzerte das Mindeste. Wer nicht das Glück hatte, aus der Datenbank der Merchfirma Krasser Stoff gezogen und persönlich eingeladen worden zu sein, kann es am jeweiligen Showtag per Schnitzeljagd durch die Stadt versuchen. In Berlin gab es die letzten Bändchen heute um 15 Uhr im Musik und Frieden, das wie Krasser Stoff dem Casper-Manager Beat Gottwald gehört, fürs Konzert selbst wäre das zu banal. Um 17 Uhr ist raus: Es wird das Silent Green Kulturquartier, ein ehemaliges Krematorium im Bezirk Wedding, der schon so lange auf seine Gentrifizierung wartet. Auf den Friedhofsbänken zwischen S-Bahn und Eingang lümmeln lokale Halbstarke und lachen die Zugereisten aus. Drinnen ist der Einlass so schnell und glatt gelaufen, dass noch Zeit zum Anfreunden bleibt: „Wie weit hattest du’s?“, fragt eine Besucherin die andere in der Cola-Schlange. „So 80 Kilometer“, sagt die zweite, und die erste antwortet: „Och, das geht ja noch.“ Das Publikum ist jung und alleine da, Plus-Einse gab es nur für Unter-16-Jährige, die jemanden zum Aufpassen mitbringen durften. Wer noch kein #catchcasper3-Shirt anhat, holt sich ein #lldt-Shirt am Merch und setzt sich dann geduldig vor der Bühne auf den Boden. Gegen das Casper-Publikum sind Deadheads, Snakepitler und Frusciante-Follower die reinsten Schönwetter-Fandoms. „Krematorium 2017!“, ruft Casper, bevor er von der Bühne geht. Die Asche hat sich gelegt, auf zur nächsten Runde.

Eure Liebe tötet mich/ Und doch bin ich/ Unersättlich

Zwei Wochen vorher sitzt Casper in einem Haus mit einer Lobby aus Gold und besteht darauf, dass sein Umfeld an ihn glaubt. Die Interviews zum neuen Album finden nur ein paar Tage vor der Veröffentlichung von Lang lebe der Tod statt, ein zumindest ungewöhnliches Timing, das aber ausdrücklich nicht bedeuten soll, dass sein Label Vorab-Verrisse zeitlich unmöglich machen will. „Wir haben im Vorfeld schon gemerkt, dass die Thematik der Interviews verschoben ist. Eigentlich will ich über die Musik reden. Aber das große Thema ist die Verschiebung. Und ich denke, wenn die Platte raus ist, und die Leute haben sie gehört, und sie kommt gut an oder nicht, dann ist das für mich die spannendere Story als 135 Mal am Tag zu erklären, dass ich eine Platte verschoben habe, weil ich mit der ersten Version nicht zufrieden war.“ Lang lebe der Tod sollte ursprünglich im Herbst 2016 erscheinen und wurde dann kurz vorher auf unbestimmte Zeit verschoben. Als visions das und die überraschend positiven Reaktionen der Fans in einer Kolumne thematisierte, gab es einen Beschwerdeanruf vom Pressebeauftragten. Die Hoheit über Caspers Geschichte liegt immer noch beim Imperium aus seinem Management Beat The Rich, der Promoagentur Check Your Head und Landstreicher Booking, die gemeinsam aus einer Wohnung in Neukölln heraus operieren. Nur die Juice durfte Casper dort vorab treffen und vom frischen French-Press-Kaffee schwärmen. Die restlichen Medien mussten warten. Erst in der vorletzten Augustwoche werden sie nacheinander an die Spree eingeladen, wo Casper in Dad-Jeans und einem American-Nightmare-Shirt aus seiner unendlich großen Sammlung die Tür einer Airbnb-Wohnung öffnet. Er wohnt nicht in diesem Reiche-Leute-Haus, stellt der Pressemensch klar. Echte Fans wissen ohnehin, dass Casper in einer Wohnung in Friedrichshain lebt und gerade überlegt, ganz in sein Wochenendhaus im Berliner Umland zu ziehen.

Die Geheimhaltung wäre jedenfalls nicht nötig gewesen, denn das Album ist großartig geworden. Lang lebe der Tod klingt groß und böse und umwerfend gut. Endlich ist die Coming-Of-Age-Trilogie aus Hin zur Sonne von 2008, XOXO von 2011 und Hinterland 2013 durch, die zuletzt schon einen Beigeschmack von drittem Aufguss mit zu viel Konfetti hatte. 2017 ist Casper erwachsen und nicht in Feierlaune. Wer Details zu den einzelnen Songs will, schaut am besten die Track-by-Track-Videos, Link in seiner Instagram-Bio, in denen er die Stimmungen und Inhalte und Gäste von Blixa Bargeld bis Portugal. The Man erklärt. Man erfährt dort, dass er eine frühere Version von Meine Kündigung zu annenmaykantereitig fand, die finale aber offensichtlich nicht, dass ihm Max Leßmann zwischen Vierkanttretlager und der Solo-Kuschelplatte beim Texten geholfen hat, und dass Casper einer ist, der Rock am Ring im Stream guckt. Er ist außerdem einer, der keine Instrumente und keine Computerprogramme kann, deshalb hat Produzentenbuddy Markus Ganter ihm beim Schreiben geholfen und dafür gesorgt, dass Lang lebe der Tod nach der angemessenen Mischung aus Deafheaven, Deutschpunk, Pop, Kraftklub und Industrial klingt.

Das fertige Album handelt von Sensationsgier, Paranoia und Depressionen, die Ansagen kommen unumwunden bis gehässig: „Ist es das was ihr wollt?/ Ist es das was ihr liebt?/ Klatscht ihr brav im Takt?/ Seid ihr vergnügt?“, spuckt der Künstler gleich zu Beginn einem Publikum entgegen, das ihn dafür umso trotziger vergöttert. Der Titelsong erschien noch vor der Verschiebung des Albums und stand dann erst mal ein Jahr alleine da, bevor Sirenen und Keine Angst nachkamen. Es hätte keinen besseren treffen können, sagt Casper. „Ich finde den Song sehr stark. Für mich ist das die maximale Aussage der Platte, die absolute Gladiatorenarena.“ Im Laufe der Zeit habe er sich bei all dem Erfolg immer mehr als Tanzbär gefühlt, sagt er, an dessen Scheibe die Leute klopfen, damit er Kunststücke aufführt. Erst Anfang des Jahres wühlte die Bild-Zeitung in seinem Privatleben, aber es sind vor allem übereifrige Fans, die ihn regelmäßig belagern und verfolgen. „Ich finde die Hysterie sehr schmeichelhaft, wirklich, aber ich weiß nicht, ob ich so explizit danach gefragt habe. Es gibt ja diesen Tocotronic-Song, Eure Liebe tötet mich, Das habe ich manchmal schon so krass empfinden können.“

Weil ihr zur gleichen Zeit/ Die Medizin verschreibt/ Unersetzlich

Casper ist eben kein Kanye West, der sich selbst für Yeezus hält und alles außer bedingungsloser Anbetung für Gotteslästerung; er ist nur der weltgrößte Kanye-Fan. Benjamin Griffey aus Bielefeld, der eine Million Lieblingskünstler hat, eine Million Bandshirts im Schrank und krasserweise irgendwie so viel Erfolg, dass er sich alle Sneaker seines Idols leisten kann. Man darf ihm diese Naivität schon glauben, trotzdem nervt sie. Wenn er beispielsweise sagt, dass er jetzt, mit Mitte 30, „sehr viel politisch interessierter geworden“ ist, direkt einen Filterblasenpaniksong wie Morgellon auf sein Album packt und von den alten grauen Herren des Musikjournalismus dafür als „Tabubrecher“ gefeiert wird, als habe sowas noch nie jemand gewagt, dann fragt man sich schon, in welcher Folge von Black Mirror das jetzt alles spielt. Wenn er in Alles ist erleuchtet Hass an die Youtuberinnen Bibi und Dagi Bee verteilt, weil sie ihren Zuschauern Parfüm andrehen, und im nächsten Instagram-Video selbst die Deluxe-Boxen packt, dann hätte er sich das auch sparen können. Und wenn er so tut, als habe er zumindest die cuten Seiten des Ruhms nicht auch selbst zu verantworten, dann wird es albern.

„Findest du das echt so?“, fragt er. „Krass. Aus der Warte habe ich es nie betrachtet.“ Über die Musik ist überall alles gesagt, deshalb geht es um die Festivalblogs, die seine Crew immer wieder dreht, und um die Frage, ob er das Boybandhafte darin erkennen kann. In den Videos läuft Casper vor seinen Auftritten übers Gelände, spielt Ball mit seiner Band, stößt an, macht Quatsch und steht zum finalen Höhepunkt immer vor riesigen Menschenmassen auf der Bühne. Die Geschichte funktioniert, die Rollen sind gut verteilt: Der freche Frontmann, der sich bei jeder Gelegenheit als „Ben“ vorstellt, als wüssten es nicht eh alle besser. Der ausnahmslos schwarz gekleidete Gitarrist mit den deepen Augen und der tragischen Körperhaltung. Der coole Metaller mit dem breiten Kreuz und den goldenen Haaren, der eventuell ein heimlicher Bodyguard ist. Der Schlagzeugerproll, in dem bestimmt ein krasses Herz wummert. Das stille Produzentengenie, das manchmal live mitspielen darf. Dass Lang lebe der Tod ein paar Tage nach #catchcasper3 auf Platz eins der Albumcharts einsteigt, liegt nicht nur daran, wie heftig der Titelsong ist, wie tanzbar Keine Angst und wie unfassbar grandios das Blastbeat-Donnerwetter-Hoffnungsschimmer-Finale von Flackern, flimmern, sondern natürlich auch daran, wie perfekt sich solche Figuren für Schwärmereien hergeben. Casper bestreitet jede Absicht. „Für uns war es so, dass wir einfach ein Haufen Guys aus Bielefeld waren, die sich vorangestümpert haben und erst mal begreifen mussten, was da passiert. Ich habe schon so ein minimales Impostersyndrom und dachte immer, es kann auch sein, dass es das jetzt schon war, dann lass es uns wenigstens dokumentieren. Aber ja, das kann man wohl so sehen, schon witzig.“ In Wahrheit kennt er sein Fandom natürlich besser als jeder andere. Vielleicht ist es leichter, die Scheibenklopfer und die Boulevardmedien auszuhalten, solange es zum Ausgleich Seiten voller liebevoller Fan Fiction gibt, in der er und seine Band sich gegenseitig und ihre Fans körperlich und seelisch trösten. Manchmal knutschen Kraftklub noch mit, in manchen Geschichten schaut Marteria vorbei. „Es gibt auch eine großartige, wo ich mit Maxim in einer WG wohne“, sagt Casper. Wie die ausgeht, verrät er nicht.

Erschienen in Visions 295, 2017.

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