Mathias Ullrich sitzt mit einem Sakko auf einem Sessel und unterhält sich.
Im Interview mit Mathias Ullrich, Managing Director der Strategieberatung LIGA2037.

Dealing with retail’s new normal

LIGANOVA
Business Bites
Published in
9 min readSep 24, 2020

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Größere Flexibilität statt höherer Margen, Händler als Event Hosts und Ballungszentren mit Attraktivitätsverlusten … Mathias Ullrich, unser Managing Director von LIGA2037 spricht mit den Experten für Retail-Kommunikation von Parasol Island über das New Normal und wagt den Blick in die Zukunft.

In einer beschleunigten Zeit wie dieser — kann man Kunden überhaupt noch langfristige Strategien ans Herz legen?
Das ist eine sehr interessante Frage. In der Tat fällt es zunehmend schwerer die Zukunft vorherzusagen. Gleichzeitig wären Unternehmen aber schlecht beraten, sich nicht auf zukünftige Veränderungen vorzubereiten. Im Gegenteil, in Zeiten, in denen sich der Status Quo über Nacht verändern kann, müssen Planungen frühzeitig und flexibel durchgeführt werden. Aber — ähnlich wie in der IT — Unternehmen und Strategien werden agiler aufgestellt und organisiert, mit kürzeren Entwicklungszyklen und unter Ausnutzung von bestehenden Lösungen. Neben Agilität sehen wir auch eine andere Fokussierung der Strategien. Eine erfolgreiche Unternehmensstrategie setzt heute deutlich stärker auf ‘Resilience’ als auf den letzten Prozentpunkt Marge. Dabei geht es nicht um den Aufbau von Puffern — Ereignisse in der Dimension von Corona kann man nicht durch Puffer abfedern — sondern um die Kernfrage: Wie relevant bin ich für meinen Kunden im absoluten Härtefall? Für den Retail gesprochen, Unternehmen und Marken, die eher mitgeschwommen sind und ihren Kunden keine starke Experience (Brand, Product, Service) geboten haben, haben in der Krise deutlich mehr zu kämpfen als Experience-Leaders.

Welche Learnings gibt es für den Retail Sektor aus der Corona Krise und dem Lockdown im ersten Halbjahr 2020?
Was sich bisher ereignet hat, ist natürlich höchst dramatisch und führt zu starken Verwerfungen im gesamten Sektor. Allerdings ist aus meiner Sicht der Höhepunkt noch nicht erreicht. Erst in den nächsten Monaten wird sich manifestieren, wer sich mittelfristig behaupten kann und wer aussortiert wird. Nämlich dann, wenn klar wird, dass es in vielen Bereichen kein ‘Back-to-Normal’ geben wird, und damit viele Geschäftsmodelle keine Existenzberechtigung mehr haben. Dazu zählt auch das originäre Geschäft des simplen Reselling, insbesondere bei Brick ‘n Mortar Retailern. Das Kaufen an sich kann der Kunde von heute an unzählig vielen Orten vollziehen, unter anderem wird immer häufiger direkt von Marken gekauft werden. Das heißt, um für den Kunden relevant zu sein, muss ein Händler mehr als ein Verkäufer sein. Er muss eine ‘Destination’ für seine Kunden werden, mit der sich Kunden identifizieren, die sie inspiriert, ein Ort zum Austauschen und Mitmachen. Das heißt, es wird sich die Rolle des Händlers und damit sein verbundenes Geschäftsmodell an vielen Stellen ändern müssen. Der Wert eines Händlers wird weniger über die erzielte Marge gemessen, dafür aber an der Kundschaft und der Anzahl der Interaktionen mit derselbigen. Das eröffnet neue Wege der Monetarisierung, ähnlich wie im Digitalen, wo Retail Media als Einnahmequelle für Händler rasant wächst, muss im physischen Bereich der Customer Connect mehr monetarisiert werden. Hier ist bei vielen Händlern noch enormes Potential.

Ein dunkler Raum, in dem viele Menschen mit Abstand voneinander auf Stühlen sitzen. Leuchtend groß “IAA”.
Die Strategen der LIGANOVA Group planen für den Verband der Automobilindustrie auch die IAA 2021 mit.

Was sind Beispiele für Unternehmen aus dem Retail Bereich, die in den vergangenen sechs Monaten gute Entscheidungen getroffen haben?
Es lassen sich viele gute Beispiele finden, wie sich der Retail Bereich schnell und pragmatisch auf die neue Situation eingestellt hat, von rasch eingeführten Hygienemaßnahmen bis zu der über Nacht bereitgestellten Möglichkeit von Click-n-Collect Angeboten oder der Verkauf über Social Media Kanäle via DM (direct message). Der gesamte Spirit, der aufkam, indem man sich gegenseitig geholfen hat wie die ‘Händler-helfen-Händler’ Initiative oder ‘We-vs-Virus’, waren schöne Beispiele wie schnell dann doch Veränderungen eingeführt werden können. Insgesamt waren das zwar alles Maßnahmen, die den Schmerz gelindert haben, aber noch keine tiefgreifenden Veränderung der Unternehmensausrichtung beinhalten. An vielen Stellen wird noch versucht, das Alte zu bewahren anstatt den Ansatz neu zu denken. Echte Transformationen sind bisher noch Mangelware. Auf der anderen Seite des Atlantiks zeigen sich Unternehmen mutiger: Walmart hat seine Transformation vom reinen Filialgeschäft zum ernst gemeinten Omni-Channel Anbieter bereits lange vor Corona begonnen, aber im Zuge der Pandemie mit seinen exzellent organisierten ‘Curb-side Pick-ups’ eine neue Dimension verliehen und ist so hervorragend durch die Krise gekommen. Auf der anderen Seite ist es beeindruckend zu sehen, mit welcher Konsequenz Amazon seine Vormachtstellung im Retail weiter ausbaut und insbesondere das Thema ‘Last-Mile-Delivery’ konsequent weiterentwickelt. Neben dem kontinuierlichen Ausbau der eigenen Flotte werden nun womöglich leerstehende Flächen der Warenhäuser JCPenney’s und Sears als Fulfilment Center genutzt. Somit manifestiert sich Amazon beim Kunden als die Plattform, die alles in kürzester Zeit mit bestem Service anbietet. Händler und Marken werden mittelfristig nicht um Amazon herum kommen und werden sich dem Diktat unterwerfen müssen.

Müssen wir uns auf das “New Normal” einrichten — auch im Retail Sektor — und wie stellt es sich dar?
Ja! Mit der Sensibilisierung auf virale Ansteckungen und mit dem damit
verbundenen besseren hygienischen Umgang verhält es sich ähnlich wie bei den Themen Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Einmal sensibilisiert für das Thema wird es nicht mehr aus den Köpfen der Konsumenten weichen. Blickt man auf den Live Event Bereich wird das deutlicher. Schon jetzt hört man Stimmen, wie konnte man früher so nachlässig auf Großevents gehen, wo sich schwitzende Körper auf engstem Raum quetschten? Die Antwort ist, dass die Gefahr schlichtweg nicht bewusst war. Dieses Bewusstsein ist nun da und beeinflusst zukünftige Entscheidungen. Manche werden vielleicht nie mehr solche Großveranstaltungen besuchen. Auch im Retail hat das Konsequenzen. Konzepte, die auf Massenpublikum und Laufkundschaft setzen, sind neu zu denken: Megastores, Malls und Innenstadt Konzepte unterliegen alle den gleichen Herausforderungen. In Zukunft wird es eine Flexibilisierung und Dezentralisierung der Retailfläche geben: dabei verlagert sich das Retail aus Ballungszentren in mehr verteilte Strukturen, es wird kleiner und mobiler. Konzepte wie Pop-up Stores werden deutlich an Relevanz gewinnen.

Unmanned Stores, Contactless Retail — wird der “Human Touch” im Verkauf — auch nach einer potentiellen Überwindung der Pandemie — dauerhaft überflüssig?
Dadurch dass sich die Rolle des Händlers mittelfristig ändert, wird der Human Touch im Verkauf zwar weiter abnehmen, aber auf der anderen
Seite ergeben sich durch die neue Rolle auch neue Aufgaben mit Human Touch Elementen für Retailer. Das wiederum bedingt aber ein neues
Anforderungsprofil an die Mitarbeiter — da wird es eine stärkere Orientierung an Hospitality geben. Retailer werden mehr Event Host als Marktschreier sein.

Mitten in der Stadt ist ein Glaskasten von Maserati, in dem ein Levante steht.
Ein Projekt des LIGANOVA Group Tochterunternehmens HERREN DER SCHÖPFUNG: Maserati Levanto — Hands on Experience

Wie gehen große Konzerne damit um, wenn die Globalisierung weiter zurückgedrängt wird? Besitzen diese Unternehmen genügend Flexibilität, sich neu zu erfinden?
Sollten sich die aktuellen Entwicklungen rund um protektionistische Maßnahmen einzelner Staaten weiter verschärfen, wird das nicht nur die großen Konzerne in Probleme bringen, sondern gesamte Volkswirtschaften in ein neues und anders funktionierendes Zeitalter bringen. Für viele ist die Welt des ‘Splinternet’ ein realistisches Szenario nach dem aktuellen WWW Zeitalter. Aber so weit sind wir zum Glück noch nicht. Nichtsdestotrotz werden global agierende Marken über bewusste regionale Splittung nachdenken müssen — vielleicht nicht ganz so extrem wie im Fall von TikTok. Das heißt mehr eigenständige Länder Entitäten könnte ein Resultat des aktuellen Trends sein. Einige stark regulierte Industrien wie die Tabakindustrie oder auch der Finanzmarkt funktionieren schon heute so. Das Ganze ist natürlich mit deutlich gestiegener Komplexität und Kosten verbunden, was sich mittelfristig auf das Preisniveau des angebotenen Warenkorbes auswirkt. Das eröffnet wiederum Chancen für regionale Player und deren geringe Overhead Komplexität.

Wer sind junge und innovative Player im Retail Sektor, auf die es sich lohnt ein Auge zu werfen?
Junge Unternehmen haben oft den Vorteil, dass sie noch eine gewisse Agilität in ihren Strukturen und Denkansätzen haben, sie können sich schneller an die neuen Gegebenheiten anpassen. Zudem sind sie meist in einem digitalen Kontext groß geworden. Hier lassen sich viele spannende Entwicklungen beobachten. Zum Beispiel in der Fahrradbranche hat das Unternehmen Rose Bikes, ursprünglich über den Online Kanal groß geworden, das Momentum der Pandemie genutzt und baut mit innovativen Store Konzepten den Vertrieb in der Fläche aus. Das verdeutlicht nochmal, dass auch Pure-play Online Unternehmen mittelfristig in einen Omnichannel Ansatz drängen, mit dem Unterschied, dass ihre Steuerung viel zentraler erfolgt und nicht jede Filiale alleine bewertet wird. Das ermöglicht neue Konzepte und mehr Freiheiten in den Formaten, zum Beispiel kann eine Filiale mehr als reiner Showroom oder Brand Community Space genutzt werden, während der tatsächliche Kauf weiterhin Online stattfindet.

Welche Grundsätze sollte ein Händler heute beachten, bevor er in den Markt eintritt?
Händler sollten sich bewusst sein, dass es heutzutage nicht mehr ausreicht als reiner Produktverkäufer aufzutreten. Wie gesagt verschiebt sich die Rolle des Händlers stärker zu einem Kurator, einer Destination, in der sich der Kunde wohl und verstanden fühlt, wo er seinen sozialen Kontakten nachkommen kann — im Übrigen wird sich das auch kurzfristig in den digitalen Handel übertragen. Wer das verstanden hat und weiss, wie er mit einem scharfen Profil seine Zielkunden, am besten im direkten Dialog anspricht, dem steht nichts mehr im Wege, ein erfolgreicher Händler der neuen Generation zu werden. Wer nur ‘Verkoofe’ will, wird scheitern.

Welche Segmente des Handels sind besonders innovationsstark?
Da gibt es aus meiner Sicht keinen klaren Gewinner. Der Bekleidungsmarkt ist natürlich weit fortgeschritten, wenn es um das Thema Social & Influencer Commerce geht, Consumer Electronics liegt beim klassischen eCommerce und Marketplaces vorn, im Sportartikel Markt sind es die besonders starken D-to-C Unternehmen mit ihrem Community Ansatz und Automotive prägt das Thema Brand Experience. Im Lebensmitteleinzelhandel ist vielleicht in den letzten Jahren noch am wenigsten passiert, aber gerade da hat die Pandemie einen enormen Schub geleistet und gezeigt, dass sich neue, innovative Konzepte schnell einführen lassen.

Auf die nächsten zehn Jahre betrachtet — was sind die wichtigen Schlüsseltechnologien, die die Kraft haben, Handel und Einkauf zu verändern?
Aus meiner Sicht befinden wir uns erst am Anfang einer exponentiell wachsenden Entwicklung — vorausgesetzt die Spielregeln werden nicht durch mehr restriktive, nationale Anforderungen verändert. Wenn aber die Marktmechanismen ähnlich bleiben, wird mit Sicherheit die Fähigkeiten im Bereich Artificial Intelligence sowie Blockchain, in Kombination mit 5G Bandbreiten eine enorme Veränderung im gesamten Setup herbeiführen. Während mit AI mittelfristig die ‘beratende’ Rolle des Handels überflüssig gemacht wird, wird Blockchain als dezentral geführte Transaktion die ‘Vermittler’ Rolle im Handel schlussendlich verzichtbar machen.

In einem abgedunkelten Raum ist ein schwarzes Bällebad. An der Wand steht “adidas”.
Eine LIGANOVA Brand Experience für adidas: Copa 19

Ein interessanter Nebenschauplatz der aktuellen Debatte ist die schwierige Situation in vielen Innenstädten. Ist die Zeit der Miet-Maximierung für Gewerbe in 1A-Lagen vorbei?
Eine extrem spannende Entwicklung mit noch unklarem Ausgang. Die Nachwirkungen werden wohl doch deutlich größere Spuren hinterlassen, als ursprünglich angenommen. Das Leben in Ballungszentren erscheint nicht nur kurzfristig, sondern langfristig nicht mehr als erstrebenswert: ein zu großes Ansteckungsrisiko und hohe Kosten auf kleinem Raum. Wenn jetzt noch die Anwesenheitspflicht im Office flexibilisiert wird, warum dann nicht raus auf das Land ziehen, mit viel Platz für Familie und eigenem Home Office? Das wiederum vertreibt die Laufkundschaft der Innenstadtgeschäfte — man kann fast von einem ‘Butterfly-Effect’ sprechen: mehr Home Office heute wird in Zukunft ganze Industrien verändern. Vielleicht ersetzt dieser Trend die leidlichen Versuche der Mietpreisbremse auf ganz natürliche Art und Weise.

Was war ganz persönlich Ihr bestes Kauferlebnis in der letzten Zeit und
warum?

Das war zum einen das Erlebnis als mein 4-jähriger Sohn im Spielwarengeschäft ein elektrisch gesteuertes Auto mit Funkeln in den Augen ausgesucht und gekauft hat. Die ganze Vorfreude auf der Fahrt zum Geschäft, die Aufgeregtheit im Laden — auch wenn es noch so trivial war — war es ein schönes Erlebnis. Das andere mal, was mir in Erinnerung blieb, war der Kauf meines neuen Rennrads, aber nicht IRL, sondern im Shop der eSports Plattform Zwift — einer Plattform, bei der täglich bis zu 10.000 Radsportler miteinander oder gegeneinander um die Wette fahren. Auch da wird das Equipment zum Wettbewerbsvorteil und man optimiert seinen Avatar mit besseren Rädern, Trikots, Aero Helmen etc. Einfach spannend zu sehen, wie sich die realen Welten sukzessive auch in virtuelle verschieben.

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Hier geht’s zur englischen Version dieses Artikels.

Über den Autor

Mathias Ullrich ist Managing Director bei LIGANOVA, dem Innovationsführer im Bereich Brand- & Retail-Experiences im phygitalen Raum. In den vergangenen zehn Jahren hat der Wirtschaftsingenieur Kunden aus dem Bereich Brand Retail hinsichtlich Positionierung, Wachstum und digitale Transformation beraten. Bei LIGANOVA leitet er den Geschäftsbereich Experience Solutions und gestaltet am Schnittpunkt zwischen Mensch, Marke und Produkt Retail-Locations und Erlebnisflächen für globale Premium-Brands aus den Bereichen Luxury, Sportartikel, Automotive, Fashion und Retail.

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