Mit der Zukunft arbeiten: eine kurze Einführung

LIGA2037
Business Bites
Published in
7 min readJan 29, 2020
Eine Lichtinstallation, die wie ein Netz aussieht, in einer Tiefgarage.
Credits: Marius Masalar on Unsplash

„Steig bloß zu keinem Fremden ins Auto“ — wer kennt diesen Satz nicht aus seiner Kindheit? Unsere Eltern hätten sich wohl nie träumen lassen, dass wir nur wenige Jahre später übers Internet absichtlich Fremde zu uns bestellen, um bei ihnen mitzufahren. Aus der damaligen Sicht gesehen, wäre die Nutzung von Uber völlig unverständlich.

Wir sind heute von Marken und Services umgeben, die einen wichtigen Teil unseres Alltags bilden, vor zehn Jahren jedoch praktisch unvorstellbar waren. Statt in Magazinen zu blättern, scrollen wir durch Instagram, bezahlen mit dem Smartphone, statt Bargeld mit uns rumzuschleppen und kommunizieren über Slack statt zu faxen.

Liste an Marken wie: Lime, AmazonAlexa, Instagram, HelloFresh, Snapchat, iPad, N26, slack, Pinterest, TikTok, twitch…

Technologien, die im vergangenen Jahrhundert nur in Science-Fiction-Welten existierten, sind inzwischen Realität und bestimmen unsere Gegenwart. Wir modifizieren Gen-Material mit CRISPR (Huxley 1932 in „Schöne neue Welt“), tummeln uns über VR-Headsets in den virtuellen Welten von Videospielen (Clarke 1956 in „Die sieben Sonnen“) und kommunizieren weltweit in Sekundenschnelle über Satellit (Clarke 1951 in „Odyssee im Weltraum“). Es hat also nicht einmal eine Generation gedauert, dass Science-Fiction zur Realität wurde. Nie zuvor schien es so einfach, aus Visionen Wirklichkeit werden zu lassen — das ist auch der Grund, Unternehmen wie Nike, Intel oder Boeing Schriftsteller bezahlen, um Beschreibungen ihrer Zukunft zu entwerfen (vgl. Merchant 2018). Wer weiß, was auf uns zukommt, spielt eine relevante Rolle. Natürlich lässt sich die Zukunft nie vorhersagen, aber Prognosen sind bis zu einem gewissen Grad möglich — und man kann vor allem aktiv an ihrer Gestaltung mitwirken. Unter diesem Blickwinkel soll dieser Artikel einige kurze Ratschläge zum Umgang mit der Zukunft geben.

Die Zukunft ist keine reine Ableitung der Vergangenheit

Ein häufiger Fehler ist, dass Zukunftsprognosen auf vergangenen Entwicklungen basieren. Dieser Fehler darf Unternehmen bei ihrer Zukunftsplanung jedoch nicht passieren.

„Dass die Zukunft in Stein gemeißelt sei — ein Zeitstrahl, der uns schrittweise enthüllt wird — glaubt schon lange niemand mehr. Wir betrachten die Zukunft inzwischen als das Ergebnis der Entscheidungen, Entdeckungen und Bemühungen der Gegenwart.“
(Futures — confidence from chaos 1969: 2)

Hierzu gibt es eine einfache, aber eindrückliche Metapher: die „Truthahn-Illusion“ (vgl. Taleb 2010: 41): Das Leben auf der Farm ist für einen Truthahn recht angenehm. Er wird täglich gefüttert und sein Wissen, dass es immer so weitergehen wird, wächst mit jedem Tag. Eines trüben Herbsttages erwartet ihn allerdings die Schlachtbank — Thanksgiving steht vor der Tür. Bis zu diesem Tag hat aus seiner Sicht alles darauf hingedeutet, dass es ewig so weitergehen würde wie bisher. Für ihn gab es keinerlei Anzeichen, dass sich etwas ändern könnte — solange bis es eben zu spät war.

Ein Diagramm, das zeigt, dass es einem Truthahn jeden Tag bis zu Thanksgiving besser geht.

Die Metapher mag ein wenig weit hergeholt sein, trotzdem beschreibt sie ziemlich treffend, wie Unternehmen durch unerwartete Entwicklungen scheitern können — BlackBerry zum Beispiel. 2007/2008 war BlackBerry Marktführer im Smartphone-Sektor. Für Zukunftssorgen oder Angst vor möglichen Mitbewerbern schien es keinerlei Anlass zu geben. Als das iPhone auf den Markt kam, wurde es noch nicht einmal als Konkurrenzprodukt wahrgenommen:

„500 Dollar? Für ein Gerät mit Vertrag? […] Das ist das teuerste Telefon der Welt. Und für Business-Kunden ist es auch nicht interessant, weil es keine Tastatur hat. Darauf kann man nicht gut E-Mails schreiben.“
— Steve Balmer, ehemaliger Microsoft CEO (CNBC 2007)

Wie diese Geschichte ausging, brauchen wir hier nicht weitererzählen, da Sie diesen Artikel vermutlich gerade auf Ihrem iPhone, und nicht auf Ihrem BlackBerry, lesen. Der wirtschaftliche Erfolg eines Unternehmens ist also genauso wenig ein verlässlicher Indikator für eine erfolgreiche Zukunft, wie das gegenwärtige Kundenverhalten als Beispiel taugt, dass der Status Quo das Nonplusultra ist.

Die Zukunft ist in Bewegung

Wer sich darauf verlässt, dass alles beim Alten und in schönster Ordnung bleibt, kommt selten ungestraft davon. Davon kann die gesamte Musikindustrie ein Lied singen: Mit dem Einbruch der Verkaufszahlen um die Jahrtausendwende hatte niemand gerechnet (vgl. IFPI 2019: 13). Das hatte nichts mit verändertem Verbraucherverhalten zu tun, sondern damit, dass Musik (illegal) heruntergeladen werden konnte dank der Zunahme an Breitbandanschlüssen. Die Branche brauchte Jahre, um gleichwertige, geschweige denn überlegene Modelle zu entwickeln, für die die Verbraucher bereit waren zu zahlen. Man braucht nur wenig Fantasie, um dieses Beispiel auch auf andere Branchen zu übertragen. Zum Beispiel Drogeriemärkte. Aktuell werden Haushaltsartikel primär im stationären Handel gekauft, weil die Bestellung übers Internet sich oft wenig praktikabel gestaltet: es dauert zu lange, ist zu teuer und macht einfach keinen Spaß — genauso wenig wie damals MP3s mit einem 56k-Modem runterzuladen. Aber nur weil das momentan so ist, heißt das noch lange nicht, dass sich das in nächster Zeit nicht ändern könnte. Neben anderen Online-Händlern arbeitet Amazon mit Hochdruck an Innovationen, die den Logistik-Bereich umkrempeln sollen: automatisierte Lager, Liefer-Drohnen und -Luftschiffe (ja, tatsächlich Zeppeline). Und so könnte es sein, dass wir uns bald fragen: Wer fährt denn zu einem Laden, nur um Toilettenpapier zu kaufen?

Die Zukunft reagiert auf kleinste Impulse

Sich aktueller Trends bewusst zu sein und aktive Zukunftsforschung zu betreiben, ist für die weitere Existenz jedes Unternehmens unabdingbar. Ein allgemeiner Überblick reicht dabei nicht aus, auch kleine, unauffällige Veränderungen müssen dabei im Blick behalten werden. Selbst kleinste Impulse können gravierende Auswirkungen haben oder die Vorboten großer Veränderungen mit weitreichenden Folgen sein. Hier kommt der „Tipping Point“ oder die kritische Masse ins Spiel. Forscher konnten zeigen, dass sobald eine Minderheit von 10 % der Bevölkerung von einer Meinung überzeugt ist, sie sich exponentiell verbreitet und im Nu zur Mehrheitsmeinung wird (vgl. Xie et al. 2011: 6). Dieses Phänomen lässt sich auch auf soziale Trends oder technologische Innovationen übertragen. Zum Beispiel WhatsApp in Deutschland. In den ersten Jahren blieb die Zahl der gesendeten Nachrichten deutlich unter denen von SMS-Nachrichten (vgl. Bundesnetzagentur 2017: 60, vgl. Richter 2018). Das änderte sich als der „Tipping Point“, oder die kritische Masse, erreicht war und 10% der Deutschen WhatsApp nutzten (vgl. Ritter 2013). Der bekannte „Network-Effekt“ trat ein, die Zahl der gesendeten Nachrichten schoss nach oben und überholte innerhalb kürzester Zeit die traditionellen SMS-Nachrichten (vgl. Bundesnetzagentur 2017: 60, vgl. Richter 2018).

Ein Diagramm, das zeigt, dass 2012 10% der Deutschen Whatsapp verwendet haben. Diese Zahl steigt stark an.
Source: basierend auf Bundesnetzagentur 2017: 60, Richter 2018 und Ritter 2013

Die Zukunft glaubt nicht an Hypes

„Man neigt dazu, zu überschätzen, was innerhalb eines Jahres möglich ist, und zu unterschätzen, was in fünf oder zehn Jahren erreicht werden kann.“ (Licklider 1965: 17).

Wie wir gesehen haben, dürfen wir kleine Impulse nicht unterschätzen — doch gleichzeitig dürfen wir sie auch nicht überschätzen. Der übertriebene Hype bei den neuen Technologien zeichnet ein phantasievolles Bild überzogener Erwartungen, die schlicht nicht erfüllbar sind, und führt dementsprechend zu Enttäuschungen. Nur die Zeit zeigt, welches Potenzial tatsächlich in einer Technologie steckt und wie dieses dann produktiv eingesetzt werden kann. Leider haben dann viele schon wieder das Interesse verloren. Das wird im „Hype-Zyklus“ nach Gartner gut illustriert, wo es um Phasen geht, die neue Technologien bzw. die daran geknüpften Erwartungen bei ihrer Einführung durchlaufen.

Ein Diagramm, das aufkommende Technologien aufzeigt.
Quelle: Gartner 2019

Wir erinnern uns wohl alle an die allgegenwärtigen Schlagzeilen zur Blockchain-Technologie, die massive „Disruptionen“ für alle möglichen Branchen versprochen haben. Nachdem sich allerdings die ersten Experimente nicht so breit durchsetzten wie gedacht, gingen die hohen Erwartungen zurück und damit auch das öffentliche Interesse. Dennoch gehen die Forschung und Entwicklung solange weiter, bis die Technologie schließlich ein produktives Level erreicht und sinnvoll eingesetzt werden kann.

Um uns eine aktive Rolle bei der Zukunftsgestaltung zu sichern, bringt es nichts, in der Vergangenheit zu stöbern oder uns in unserem gewohnten Umfeld umzuschauen. Wir müssen aus unseren eingefahrenen Strukturen ausbrechen und die Augen offen halten für scheinbar unmerkliche Veränderungen. Wir dürfen uns nicht auf die Meinungen der Masse oder Aussagen alteingesessener Branchengrößen verlassen, sondern den Status Quo hinterfragen — und ihn wenn nötig über Bord zu werfen.

Hier geht’s zur englischen Version dieses Artikels.

Mehr von LIGANOVA

Folgt uns auf Instagram und LinkedIn! Und schaut auf unserer Webseite vorbei.

Weitere Literatur:

Webb, A. (2016). The Signals are Talking — Why Today’s Fringe Is Tomorrow’s Mainstream. New York: Public Affairs

Taleb, N. N. (2010). The Black Swan — The Impact of the Highly Improbable. 2. Auflage. New York: Random House

Harari, Y. N. (2016). Homo Deus: A Brief History of Tomorrow. London: Vintage.

“Futures”: Science-fiction column of the journal Nature. Zu finden unter: https://www.nature.com/collections/swmfrlfmcn

“Twelve Tomorrows“: Annual anthology of science fiction short stories published by the MIT Press in partnership with Technology Review. Zu finden unter: https://mitpress.mit.edu/books/series/twelve-tomorrows

Die Bibliographie ist unter diesem Link zu finden:
https://cutt.ly/he5l7qo

--

--

LIGA2037
Business Bites

We create marketing innovations that shape the next 20 years.