Eine kurze Geschichte der Zeit

Thomas Schiel
BUZZN
Published in
3 min readFeb 28, 2017

Das Fahren in Blechkarossen mit unnötig hoher Geschwindigkeit durch Lebensraum, oder auch die Notwendigkeit eines „Coffee ToGo“: Beides sind Facetten des gleichen Phänomens in unserer Gesellschaft: Wir sparen immer mehr Zeit durch Effizienz, haben aber immer weniger davon.

In Alice im Wunderland sagt die rote Dame zu Alice:

„In diesem Land musst du so schnell rennen wie du kannst, um auf derselben Stelle zu bleiben. Wenn du woanders hin willst, musst du zweimal so schnell rennen.“

Das ist absurd und daher gilt: Spätestens, wenn ich merke, dass ich an meine Grenzen stoße, muss ich meine Strategie anpassen. Zur Verbesserung der Strategie gibt es zwei Möglichkeiten: inkre­mentelle Verbesserungen und Durchbrüche. Nur mittels Paradigmenwechsel oder disruptiver Innovation kann ich aus dem Rennen ausbrechen.

Hartmut Rosa widmet diesem Thema das Essay „Beschleunigung und Entfremdung“. Er vertritt und begründet die zugegeben akademisch formulierte, aber sehr bedeutsame These, dass

„ […] soziale Beschleunigung in ihrer gegenwärtigen, totalitären Form zu schwerwiegenden und empirisch beobachtbaren Formen der sozialen Entfremdung führt, die als die größten Hindernisse begriffen werden können, die der Verwirklichung einer modernen Konzeption des guten Lebens in spätmodernen Gesellschaften entgegenstehen.“

Im Bereich der Energiewirtschaft können wir diese abstrakte These an konkreten Beispielen erläutern und Auswege aufzeigen. Nährboden für soziale Entfremdung gab es im alten Energiesystem reichlich, da das Thema Stromversorgung als zu komplex für den „einfachen Bürger“ angesehen wurde.

Uns fehlte die Selbstwirksamkeit, wir haben uns vorführen lassen. Wir mussten die Verantwortung an Konzerne abgeben und uns „versorgt“ fühlen. Uns fehlten die Handlungsoptionen. Wir waren gezwungen, menschenfeindliche Technologien zu unterstützen. Die Kosten wurden sozialisiert, die Gewinne privatisiert. Der Netzausbau erfolgte ausgerichtet an Konzerninteressen.

Trotz der bestehenden Umbruchsituation wird diese Handlungsweise fortgeführt. Zum Beispiel:

  • Stromintensive Unternehmen sind davon befreit, die Energiewende finanziell zu unterstützen.
  • Größere Unternehmen zahlen weniger für die Nutzung des Stromnetzes als Privathaushalte.
  • Es werden neue Stromautobahnen geplant, die wir finanzieren müssen, ob wir wollen oder nicht.
  • Die Stromkennzeichnungspflicht ist eine Farce.
  • Der Rentner aus Magdeburg finanziert über seine Stromrechnung die Solaranlage der Rüstungsingenieurin aus Starnberg.
  • Nur von Konzernen können große Windparks betrieben werden. Diese erhalten sehr hohe Fördersummen.

Es ist verständlich, dass die Nutznießer des alten Systems daran festhalten, aber:

Mit der dezentralen Energiewende können wir die soziale Entfremdung im Bereich Energie beenden. Selbstwirksamkeit, gerechter und menschenwürdiger Umgang mit Energie sind möglich.

Das Argument der Komplexität gilt in Bezug auf Stromerzeugung auf Grund der technischen Entwicklungen schon lange nicht mehr. Die Stromerzeugung ist außerdem abgekoppelt von dem im Vergleich zu ihr komplexen Netzmanagement. Das Wichtigste aber ist: Natur und Physik erzwingen den Abbau von Entfremdung. Die solare Energie steht reichlich und dezentral zur Verfügung, während die fossilen Ressourcen zu Neige gehen. Erdgas und Erdöl haben das zentralistische, sozial entfremdete Regime der (Energie)Konzerne erst ermöglicht.

buzzn versteht sich als disruptives Energieunternehmen, mit dem wir die Möglichkeit haben, eine Zukunft mitzugestalten, die die Gesetze der roten Königin außer Kraft setzt. Unter People Power, also der echten Energiewende, verstehen wir:

  • Selbstbestimmung
  • Verantwortung
  • Gemeinsamkeit
  • Nähe

Bezugnehmend auf das Pappbecher/SUV-Thema ist das Wechselspiel von Zeitknappheit und Konsum seit Jahren durchschaut. Der Deutsche schuftet einen großen Teil seiner Lebenszeit für das Automobil. Ohne Automobil müssten wir viel weniger Geld verdienen und können stattdessen die Zeit mit Familie, Freunden, Sport oder einfach nur in Ruhe — statt ToGo — Kaffee trinkend verbringen.

Anders gesagt: Entweder wir ändern etwas grundlegend an unserer Lebenseinstellung oder wir bleiben die Marionetten der Wirtschaft und glauben tatsächlich, dass wir nur Thermobecher statt Pappbecher verwenden müssen, um diesen Planeten zu retten:

Adé Konsumtrottel, willkommen in der wirklichen Welt!

PS: „Willkommen in der wirklichen Weltsagt Morpheus in dem Film Matrix zu dem gerade erwachten Neo. Vorangegangen ist die bekannte Wahl zwischen roter und blauer Pille:

„This is your last chance. After this, there is no turning back. You take the blue pill — the story ends, you wake up in your bed and believe whatever you want to believe. You take the red pill — you stay in Wonderland, and I show you how deep the rabbit hole goes. Remember: all I’m offering is the truth. Nothing more.”

Foto: https://www.flickr.com/photos/wiredforsound23/9630747400/, (CC BY-NC 2.0)

Originally published at www.buzzn.net on February 28, 2017.

--

--

Thomas Schiel
BUZZN
Editor for

Energy Asset Optimizer, Co-Founder of BUZZN, IT Stuntman, Physicist, Father, Son, Friend