Hokuspokus Stromkennzeichnung

Justus Schütze
BUZZN
Published in
7 min readJan 13, 2017

In Deutschland gilt die gesetzliche Stromkennzeichnungspflicht. Diese verpflichtet jeden Stromlieferanten, über die Herkunft seines Stroms Auskunft zu geben. Vordergründig soll dies der Transparenz dienen und die Kaufentscheidung der Konsumenten in Richtung „Ökostrom“ erleichtern. In Wirklichkeit handelt es sich bei der gesetzlichen Stromkennzeichnung aber um einen höchst intransparenten Hokuspokus, der zum einen das Greenwashing von industriellem 08/15-Strom fördert, zum anderen die Sichtbarmachung von tatsächlich ökologisch und sozial produziertem Strom aus dezentralen Kleinanlagen faktisch unmöglich macht.

„Konsumentensouveränität“: klingt gut und ist eines der hehren Ziele europäischer Verbraucherschutzrichtlinien. Für Strom soll in Deutschland der Paragraph 42 Energiewirtschaftsgesetz diese Souveränität sicherstellen. Mit diesem Paragraphen wird jeder der aktuell über 1.100 Stromlieferanten dazu verpflichtet, die Herkunft seines Stroms nachzuweisen. Dem gewogenen Publikum soll dies auch den Kauf von sogenanntem Ökostrom erleichtern. Laut Gesetz muss die Stromkennzeichnung sowohl auf der Stromrechnung als auch auf der Website des Lieferanten angezeigt werden.

Unsere Erfahrung zeigt, dass sich fast niemand jemals länger als ein paar Augenblicke mit diesem gesetzlich vorgeschriebenen Kommunikationsmittel beschäftigt hat. Und dass selbst ausgewiesene Strommarktexperten größte Schwierigkeiten haben, die Stromkennzeichnung auch nur zu verstehen.

Bei genauem Hinsehen entpuppt sich die Stromkennzeichnung sogar als höchst fragwürdiges, da täuschendes und manipulatives Tool. Von „Konsumentensouveränität“ durch Stromkennzeichnung kann in Deutschland also keine Rede sein. Warum ist das so? Und wer profitiert davon? Diesen Fragen wollen wir in diesem Blogbeitrag nachgehen.

Greenwashing (Teil 1): EEG-Umlage anrechnen

Das so genannte Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) fordert hierzulande, dass grundsätzlich jeder Letztverbraucher von Strom für jede verbrauchte Kilowattstunde einen Geldbetrag (derzeit 6,88 Cent) in einen Umlagetopf einzahlen muss. Aus diesem Umlagetopf wiederum wird das Geld an die Betreiber von EEG-geförderten Stromerzeugungsanlagen (v. a. Photovoltaik und Windkraftanlagen) als Vergütung weitergereicht.

Praktisch wird die EEG-Umlage als Teil des Strompreises vom Lieferanten beim Letztverbraucher eingesammelt und an den zuständigen Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) überwiesen. Der reicht sie dann auf weiteren Umwegen an die EEG-Anlagenbetreiber weiter. Dieser Prozess läuft völlig unabhängig von der Strombeschaffung des Lieferanten. Der Lieferant ist lediglich Erfüllungsgehilfe beim Einsammeln und Durchreichen der EEG-Umlage. Trotzdem darf der Lieferant letztendlich so tun, als ob das Geld, welches er beim Letztverbraucher eingesammelt und durchgereicht hat, Teil seiner Strombeschaffungskosten war. In der Stromkennzeichnung taucht das dann als der Posten „Erneuerbare Energien, gefördert nach dem EEG“ auf. Faktisch werden hier also Geldströme aus dem EEG-Umlageverfahren angerechnet, die mit der Strombeschaffung des Lieferanten überhaupt nichts zu tun haben.

Dies zeitigt absurde Effekte. Zum Beispiel, dass ein beliebiger Stromlieferant, wie z. B. die Vertriebstochter des Atomkonzerns EnBW, der seinen Letztverbraucherabsatz ausschließlich mit anonymem „Graustrom“ vom Großhandelsmarkt deckt, seine Stromherkunft derzeit mit satten 45,5 Prozent „Erneuerbaren Energien, gefördert nach dem EEG“ grün anmalen darf (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Stromkennzeichnung EnBW „Normalstrom“
1) Quelle: EnBW Energie Baden-Württemberg AG
3) Gilt für alle Produkte außer den Ökostrom-Produkten
Quelle: www.enbw.com (30.12.2016)

Es gibt Gutachten, die nachweisen, dass durch das oben beschriebene Anrechnungsverfahren und die implizierte willkürliche Verknüpfung von Produktionsmengen mit Absatzmengen bald die verrückte Situation entstehen könnte, dass jeder Stromlieferant 100 und mehr Prozent „Erneuerbare Energien, gefördert nach dem EEG“ auf seiner Stromkennzeichnung ausweisen darf. Schön grün und total legal, aber völlig losgelöst von seiner tatsächlichen Beschaffungsstrategie.

Greenwashing (Teil 2): Netzverluste und sonstige Ausgleichsenergie ausblenden

„100 Prozent grüner Ökostrom aus Erneuerbaren Energien — ökologischer geht’s ja wohl nicht!“ Dass muss der unbedarfte Leser denken, wenn er sich die Stromkennzeichnung seines Ökostromlieferanten anschaut.

Doch leider stimmt das nicht. Denken wir an Großwasserkraftwerke in Österreich und Norwegen, Offshore-Windkraftanlagen in Nord- und Ostsee, Mega-Sonnenkraftwerke in Andalusien. Diese Anlagen benötigen für ihren „Ökostrom“ eine Tausende von Kilometern umspannende, natur- und geldverzehrende Transportnetzinfrastruktur (alias „Stromautobahn“). Mit bis zu zehn Prozent Übertragungsverlusten. Aus der Stromkennzeichnung wird dies nicht ersichtlich. Oder genauer: Die Verlustmengen, die letztendlich durch die Netzbetreiber mit Graustrom, also Strom unbekannter Herkunft, ausgeglichen werden, sind nicht Teil der Stromkennzeichnung des Lieferanten.

Hinzu kommt, dass jeder deutsche Stromlieferant — also auch jeder Ökostromlieferant — bei seiner Strombeschaffung automatisch auch Graustrom mit einkauft. Das liegt in der Natur der Sache. Vor allem weil kein Lieferant im Vorhinein weiß, wieviel Strom seine Kunden in der Zukunft tatsächlich verbrauchen werden. Verbrauchen sie dann mehr Strom als der Lieferant beschafft hat, wird das Defizit von den Netzbetreibern automatisch ausgeglichen. Und zwar mit Graustrom, der nicht in der Stromkennzeichnung auftaucht.

Auch hier also Greenwashing, von dem besonders die sogenannten Ökostromanbieter profitieren. Denn sie dürfen durch die Stromkennzeichnung legitimiert vortäuschen, sie würden ausschließlich reinen Strom aus „100 Prozent Erneuerbaren Energien“ beschaffen und liefern.

Das Anrechnen der EEG-Umlage und das Ausblenden von Netzverlusten und Ausgleichsenergie sind unschön, aber noch längst nicht alles.

Sichtbarkeit für kleinteilig-dezentral produzierten Strom: Fehlanzeige

Die gesetzlichen Vorschriften zur Stromkennzeichnung machen es für Betreiber kleiner, dezentraler Stromerzeugungsanlagen faktisch unmöglich, ihren Strom im rechten Licht darzustellen. Folgende Beispiele sollen dies veranschaulichen:

Beispiel 1: In einem Mehrparteienhauses wird Strom mit einer Photovoltaikanlage (PV) auf dem eigenen Dach produziert und direkt an die Parteien im Haus verkauft (siehe Abbildung 2). Das ist ökologisch sinnvoll, da für den direkt vor Ort vermarkteten Eigenstrom kein öffentliches Netz beansprucht wird und dadurch auch die Netzverluste minimiert werden.

Abbildung 2: Eigenstrom aus Photovoltaik (PV) oder Blockheizkraftwerk (BHKW) wird direkt im Haus vermarktet und fließt — ultimativ ökologisch — auf kürzestem Weg an die Steckdosen.
Grafik © buzzn.net

Um den Eigenstrom jedoch in der Stromkennzeichnung auszuweisen, müsste die Betreiberin ihn in einem kostenintensiven und zeitaufwändigen Verfahren beim Herkunftsnachweisregister des Umweltbundesamts zertifizieren lassen. Dieser bürokratische Aufwand stünde in keinem vernünftigen Verhältnis zu der naturgemäß relativ geringen Strommenge.

Die verrückte Folge: Der ultimativ ökologische Solarstrom vom eigenen Dach muss mit dem europäischen Standardstrommix „gelabelt“ werden, der auch Kernkraft und Kohle enthält!

Der gleiche Sachverhalt trifft auch Kleinerzeuger in der freien Direktvermarktung ohne EEG- oder sonstige Förderung, für welche die Zertifizierungskosten eines Gutachters für minimale Strommengen in keinem wirtschaftlichen Verhältnis zum zweifelhaften generierten Mehrwert stünden (siehe Abbildung 3)

Abbildung 3: Nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand dürfte der Strom einer alten Kleinwindanlage wie dieser Enercon 16 (55 Kilowatt, Baujahr 1989, also längst aus der staatlichen Förderung) als „erneuerbar“ gekennzeichnet werden. Ansonsten wird er wie Graustrom gelabelt, d. h. mit Atom- und Kohlestromanteilen.
Foto © buzzn.net

Beispiel 2: In einem Gebäudekomplex wird die alte Heizung durch ein Blockheizkraftwerk (BHKW) ersetzt. Dieses verarbeitet das eingesetzte Gas noch effizienter als eine moderne Brennwerttherme. Denn es macht aus dem Gas nicht nur Wärme, sondern auch Strom (dieses ökologisch sinnvolle Verfahren wird „Kraft-Wärme-Kopplung“ genannt). Dieser fließt wie der Sonnenstrom aus Beispiel 1 oben auf direktem Weg zu den Steckdosen im Haus, ohne große öffentliche Netzinfrastruktur und mit minimalen Transportverlusten (siehe Abbildung 2).

Die Stromkennzeichnung ignoriert den ökologischen Vorteil der Kraft-Wärme-Kopplung, da sie nur auf den Primärenergieträger (in diesem Fall Erdgas) abstellt, nicht jedoch auf die Art und Weise, wie effizient und damit ökologisch dieser Primärenergieträger in Strom gewandelt wurde.

Beide vorgenannten Beispiele haben die Tatsache gemeinsam, dass der Strom auf denkbar kürzestem Weg vom Ort der Produktion (Dach, Keller) zum Ort des Verbrauchs (Steckdosen im Haus) fließt. Wie bereits oben am Negativbeispiel von fernen Großkraftwerken und „Stromautobahnen“ erläutert, lässt die Stromkennzeichnung den Entfernungsfaktor unter den Tisch fallen. Der ökologische Vorteil von dezentral vor Ort produziertem Strom bleibt damit ebenfalls unsichtbar.

Auch die Eigentumsverhältnisse unsichtbar

Für viele Menschen ist Energiewende mehr als nur „100 Prozent Erneuerbare Energie“. Sie begreifen sich als souveräne Konsumenten, die bewusste Kaufentscheidungen treffen wollen. Kaufentscheidungen, die Konzern- und Lobbymacht schwächen und stattdessen zu einer Demokratisierung des Marktes beitragen. Kaufentscheidungen, die helfen, zentrale und entgrenzte Wirtschaftsstrukturen durch lokale, nachvollziehbare Kreisläufe zu ersetzen.

Hier versagt die gesetzliche Stromkennzeichnung, die eigentlich ein Tool zur Förderung der Konsumentensouveränität sein müsste, auf ganzer Linie. Denn es geht ihr einzig und allein um den Primärenergieeinsatz. Eigenschaften wie Eigentumsverhältnisse, Kapitalinteressen oder Arbeitsbedingungen rund um die Stromerzeugung/-verteilung spielen keine Rolle.

Gesetzliche Stromkennzeichnung weglassen? Lieber wegbuzzn!

buzzn ist selbst Stromlieferant und unterstützt Betreiber kleiner Stromerzeugungsanlagen dabei, als eigenständige Lieferanten ihrer Hausbewohner im Rahmen von sog. Mieterstrom-Modellen aktiv zu werden. In diesen Zusammenhängen können wir die gesetzliche Stromkennzeichnung also nicht einfach weglassen, auch wenn diese offensichtlich in die Irre führt oder schlicht falsch ist.

buzzn ist ein Werkzeug für People Power, also der ökologischen und sozialen Transformation unseres Energiesystems. Im Zusammenhang mit der Stromkennzeichnung stehen bei buzzn deshalb schon immer diese Fragen im Mittelpunkt des Interesses:

  • Wem gehören die Erzeugungsanlagen, die ich mit meinem Stromgeld unterstütze?
  • In welcher Entfernung zu mir befinden sich diese Stromerzeugungsanlagen?
  • Wie groß sind diese Anlagen?
  • Welcher Person fließt mein Stromgeld zu?
  • Jenseits der Primärenergie, was macht die Stromproduktion sonst noch ökologisch?
  • Welche Eigenschaften machen die Stromproduktion sozial?

Mit unserer deutschlandweiten Karte, die auch die Einspeisestellen der buzzn Stromgeber anzeigt, haben wir bereits einen ersten kleinen Schritt zur Beantwortung dieser Fragen getan. In den nächsten Wochen und Monaten werden wir buzzn als Werkzeug weiter ausbauen. Ein wichtiges Ziel wird dabei die bessere Sichtbarkeit der kleinteilig-demokratischen Stromerzeugung in der Community durch unsere Stromgeber sein. Zum Beispiel über den sinnvollen Einsatz von digitalen Stromzählern. Oder über die Offenlegung von Details des buzzn Beschaffungsportfolios. Und natürlich indem wir weiter über die Erfolgsgeschichten unserer Stromgeber berichten, die sich und andere Mitglieder der Community dezentral versorgen.

Zur aktuellen gesetzlich verordneten buzzn Stromkennzeichnung geht es übrigens hier.

Fazit

Die derzeit in Deutschland gesetzlich vorgeschriebene Stromkennzeichnung täuscht zum einen Ökostrombeschaffung vor, wo keine da ist. Zum anderen verschleiert sie negative Eigenschaften von industriellem Ökostrom. Positive ökologische und soziale Eigenschaften von dezentralen Strukturen der Stromerzeugung hingegen lässt sie unsichtbar.

Die Stromkennzeichnungspflicht erweist sich damit als Etikettenschwindel und perfektes Tool für die Irreführung der Letztverbraucher zugunsten der Großindustrie. Egal, ob diese mit konventionellem oder Ökostrom handelt.

buzzn muss als offizieller Lieferant seinen Strom weiter gesetzeskonform kennzeichnen und auch alle unterstützten Mieterstrom-Projekte dahingehend beraten. Gleichzeitig werden wir weiter aufklären und dem Hokuspokus der Stromkennzeichnung neue Features und mehr Sichtbarkeit entgegensetzen.

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