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ATTENTION HACKING! Teil 1— Die Marketing-Epidemie unserer Generation.

Facebook, Apps und Co. trachten uns nach unserer Aufmerksamkeit und schlagen aus unseren aufmerksamen Augen riesige Profite.

campfire
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8 min readMar 31, 2020

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Das Internet stiehlt uns unsere Zeit.

Jeden Tag ein bisschen mehr und das sogar während wir arbeiten.
Als Berufsanfängerin habe ich einen stressigen Alltag. Die Woche rennt, der Stapel Arbeit auf meinem Schreibtisch wächst und stetig muss ich mich beeilen. Für jeden Task und jeden Job gibt es eine entsprechende Deadline. Und wie bei so vielen Deadlines, rauschen auch meine tagtäglich nur so an mir vorbei.

Der Wecker, der um 7:30 klingelt, das Telefonat gegen 9, das Meeting um Punkt 11, die Präsentation bis um 3… Nur die wenigsten unserer Deadlines können wir auch einhalten. Woran das liegt? Attention Hacking heisst der Übeltäter. Und soziale Plattformen, Apps und Websites sind wahre Meister darin.

So unterschiedlich Social Media Plattformen auch sind. Sie haben eine Gemeinsamkeit: Sie kämpfen um unsere Aufmerksamkeit und beeinflussen unser Verhalten. Sogar, wenn wir eigentlich arbeiten sollten. Nicht selten sitze ich an einer Recherche und finde mich urplötzlich im Fotoalbum eines ehemaligen Mitschülers wieder, der nun als stolzer Vater Bilder von seinen zwei Kindern mit der Welt teilt.

Obwohl wir gar nicht danach gesucht haben, geschweige denn daran gedacht, spielen uns verzwickte Algorithmen gezielt Inhalte zu und sorgen so dafür, dass wir unsere Zeit sinnlos verschwenden. Meistens kriegen wir es nicht mal mit.

Teste selber, wie gut du Attention Hacking die Stirn bieten kannst.

Wieviel ist unsere Aufmerksamkeit wert?

Alle populären und erfolgreichen Plattformen messen ihren Erfolg anhand folgender Indikatoren:

  • Wie viele User gehen täglich auf die Plattform?
  • Wie lange bleiben die User?
  • Wie oft kehren User zurück?
  • Wie viele neue User wurden von bestehenden Usern auf die Seite gebracht?

Aber alle diese Indikatoren haben letztendlich einen gemeinsamen Nenner: das Stehlen unserer Aufmerksamkeit.

Ist dir schonmal aufgefallen, dass der Grossteil der Internet-Giganten sich ein und das selbe Mantra teilen? „Don’t be evil”, „Bring the world closer” oder „Live in the moment” — jeder dieser Slogans könnte nicht widersprüchlicher zum eigentlichen Business-Case sein: die grösstmögliche Anzahl an Usern, für die längst mögliche Zeit, mit der höchsten Rückkehr-Rate auf ihre Plattform zu bringen. Doch wozu das alles? Um dein aufmerksames Gehirn an den Höchstbietenden zu verkaufen.

Denn genau darin sind Facebook, YouTube und Co. extrem erfolgreich — sogar so erfolgreich, dass 2017 der durchschnittliche Internetnutzer 15% seines Tages auf Social Media Plattformen verbracht hat.

So perfid manipulieren digitale Plattformen unser Nutzungsverhalten.

Zu Beginn hatte Instagram eine . So konnte man sich einen schnellen Überblick verschaffen und war schnell Up-to-date. Schön für uns als User, aber leider kritisch für Instagram als Werbeplattform. Schliesslich kann nur Usern, die lange auf der Plattform bleiben, auch chronologische Timelinebesonders viel Werbung zugespielt werden — das Geschäftsmodell fast jeder Social Media Plattform.

Der neue Algorithmus von Instagram — über den sich vor allem Influencer aufregen — sorgt dafür, dass alles irgendwie durcheinander ist. Wie genau der Algorithmus funktioniert ist streng geheim, aber so viel ist klar: die chaotische Anordnung der Fotos sorgt dafür, dass wir länger scrollen, um alle neuen Fotos gesehen zu haben. Zudem erweckt sie in uns die Angst, wir könnten etwas verpassen, wenn wir nicht weiter scrollen. Schliesslich könnten wir nur einen Fingerscroll vom neuen, aufsehen erregenden Bild von Kim Kardashian entfernt sein. Das steigert unsere Verweildauer in der App — praktisch. Vor allem für Instagram.

Zusätzlich wird Instagram automatisch refreshed, wenn du die App öffnest. Sofort wirst du mit neuen Bildern gelockt, scrollst schon wieder durch den aktualisierten Feed und bleibst mal wieder hängen.

Instagram-Stories gehören zu meinem grössten Süchten. Ich liebe es, Stories zu konsumieren und könnte das stundenlang tun. Reiseberichte, Babynews, Diskussionen und, und, und. Was mir das bringt? NICHTS! Ich werde davon nicht schlauer — ich werde unterhalten und mal wieder abgehalten von den wichtigen Dingen im Leben.

Das Ding mit der sozialen Akzeptanz

Facebook setzt vor allem auf soziale Bestätigung, die wir Menschen nun mal brauchen. Facebook wäre nicht Facebook, wenn dir nicht ständig Fotos von Freunden und Bekannten angezeigt würden, die du liken und kommentieren kannst, oder denen du doch mal wieder schreiben solltest. „Facebook verbindet” wie Zuckerberg so schön sagt.

Wenn du dein Profilbild änderst bekommt dieses einen besonderen Platz im Newsfeed deiner Freunde. Du erhältst eine , damit möglichst viele Freunde dein neues Profilbild liken. höhere ReichweiteDas tut dem Ego gut und macht süchtig. Denn wer einmal viele Likes bekommen hat, möchte doch für jedes Update mindestens gleich viele Likes erhalten. Was aber, wenn die vielen Likes ausbleiben?

Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass du weiterscrollst und damit du die App bloss nicht schliesst, werden seit einiger Zeit Videos im Newsfeed automatisch abgespielt. Das erhöht vor allem die Wahrscheinlichkeit, dass du bei einem Video hängen bleibst. Wenn du das Video dann sogar anklickst, hast du dann vielleicht nicht noch Lust auf noch ein Video? Nett von Facebook, dass es deine geheimsten Wünsche befriedigt und dir anschliessend automatisch weitere Videos abspielt. Die nächste halbe Stunde deiner Arbeitszeit geht somit schon mal flöten.

Kennst du das Phänomen, wenn dir auf der Arbeit plötzlich eine Rabattaktion von dem Nachttisch aufpoppt, den du dir am Wochenende im Netz noch angeschaut hast? Ach wie passend! Na da muss ich doch direkt mal auf die Seite gehen, obwohl ich doch diesen Artikel schreiben müsste! Schlimmer ist es nur, wenn du den Nachttisch schon gekauft hast und dir Facebook drei Wochen lang unter die Nase reibt, dass du ihn doch für mindestens 30% günstiger hättest haben können. Danke Facebook!

Sozialer Druck auf WhatsApp

schneller zu antworten. Das bedeutet, dass du die App schneller öffnest und häufiger zurückkehrst — anstelle von Whatsapp hat unser Nutzungsverhalten auf den Kopf gestellt — nicht erst seit der Einführung der berühmten blauen Häkchen. Ich antworte in der Regel ziemlich schnell, aber trotzdem stresst mich WhatsApp regelmässig. Die blauen Häkchen erhöhen den Druck, zeitversetztem Antworten, wie es bei einem Nachrichtendienst wie WhatsApp oder auch E-Mail eigentlich der Sinn wäre.

Mit der , können wir jetzt sogar am Arbeitsplatz munter Hin- und Her-Chatten ohne aufzufallen. Neben seinem Chef am Handy hängen kommt schliesslich wirklich nicht gut. Aber wenn du munter am PC tippst, könnte es ja sein, dass du gerade einen tollen Artikel ( 😉 ) schreibst, oder E-Mails von Kunden beantwortest. Tja — ausgetrickst.
Einführung von Whatsapp Web und dem Ausbau des Instagram-WebinterfacesDie Frage ist nur, wer hier eigentlich wen austrickst.

Ach komm. Noch ne Folge!

Netflix und Youtube sind wahre Meister darin, dich an sich zu binden. Wer kennt das nicht: Du hast dir vorgenommen nur eine einzige Folge zu gucken und heute wirklich mal früher ins Bett zu gehen, doch dann wird mitten im Abspann — in 5… 4… 3… 2… 1… — einfach automatisch die nächste Folge abgespielt. Klar überlegt man es sich dann zwei Mal, ob man wirklich schon aufhören muss. Und schon geht’s los: Film ab. Dadurch bekommt YouTube weitere 25 Minuten lang die Chance, dir Werbung unter die Nase zu reiben.

Mit der steigenden Nutzung steigert YouTube nicht nur die Verweildauer auf ihrer Plattform und die Argumente für Werbetreibende, auf der beliebtesten Videoplattform der Welt Werbung zu schalten. Je mehr du YouTube nutzt, um so mehr lernt es über dich. Bist du einmal auf Youtube, bleibst du meistens nicht nur auf ein Video, sondern springst danach noch zu mindestens zwei oder drei weiteren Videos, denn YouTube weiss genau: „Diese Videos könnten dir auch noch gefallen!”

To infity and beyond.

Dem Vorbild von YouTube sind mittlerweile fast alle Social Media Plattformen gefolgt und haben auf „Infinity-Drive” umgestellt. Ohne dein aktives Zutun kannst du dir 24/7 Videos, Posts und Bilder angucken — ein weiterer Mechanismus, um dich bei der Stange zu halten. Du musst nicht klicken, nicht denken, nicht entscheiden. Einfach nur noch konsumieren.

Nur für Contentcreator führt das zu einer Spirale des Todes. Denn einerseits drängen uns Plattformen wie wild Inhalte zu erstellen, andererseits stellt sich die Frage, wer soll all diese Inhalte überhaupt konsumieren. Anfang 2018 führte das Überangebot an Inhalten auf Facebook, gepaart mit einer Änderung am Algorithmus, für viele Publisher zu einer frustrierend tiefen Reichweite. Schliesslich wächst die Anzahl an aufmerksamen Augen nicht zwingend mit der steigenden Anzahl an Inhalten.

Und damit wieder ein geschickter Zug von Facebook. Jetzt überbieten sich Publisher mit Werbeangeboten, um ihre Inhalte vor die Leute zu kriegen. Denn während unsere Aufmerksamkeitsspanne gleich geblieben ist (und eher sukzessive abnimmt), reissen sich nun Publisher und Marken um die begehrten obersten 10–15 Spots im unendlichen Stream der Inhalte. Einziger Ausweg: Paid Content. Google lässt grüssen!

Internet — Der Zeitdieb unserer Generation.

Ist es nicht erschreckend? Wir werden nach Strich und Faden manipuliert. Unsere wertvolle Zeit wird gestohlen, ohne dass wir es merken oder uns gar darüber aufregen würden. Aber langsam wächst ein stiller Protest. „Digital Detox” oder „W-LAN-freie Zonen” sind längst keine undenkbaren Szenarien mehr.

Erinnert ihr euch noch an „Momo — Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte.”? Wusste Michael Ende schon 1973, in welcher Misere wir uns nur 45 Jahre später wiederfinden würden?

Facebook, Apps und soziale Plattformen fangen uns. Sie stehlen unsere Aufmerksamkeit und unsere Zeit.

Ich gehe dagegen vor und hole mir meine Zeit zurück — wie Momo 😉 — und wage mich an einen ungewissen Selbstversuch „Eine Woche Arbeiten und Leben ohne Ablenkung”.

Geht das überhaupt? Wird das meine Arbeit verändern? Wird der Selbsttest Einfluss auf mein Privatleben haben?
Ich bin noch nicht sicher, ob ich das schaffe. Du auch nicht?

Über die Autorin

Julia Fehér ist Texterin und Content Producerin. Die junge Berlinerin zog 2017 in die Schweiz und hat zuvor „Angewandte Medien“ an der Hochschule Mittweida studiert.

Dieser Artikel wurde in Teilen inspiriert von Georges Abi-Heila’s Artikel “Attention hacking is the epidemic of our generation…”

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