“Annihilation” auf Netflix zeigt vor allem die Auslöschung vergangener Fernsehgewohnheiten und die Macht von “Second Order Effects”.

Wenn früher ein Film direkt als DVD (oder noch ein bisschen früher als Videokassette) herauskam und nicht im Kino gezeigt wurde, dann war das ein schlechtes Zeichen und so ziemlich das schlimmste, was der Produktionsfirma samt Film passieren konnte. Die Logik war einfach: der Film ist zu schlecht für das Kino und die negative Presse würde zu viel Aufmerksamkeit verursachen und zusätzlich das Geschäft verschlechtern.

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4 min readMar 13, 2018

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In den letzten Tagen ging “Annihilation” an den Kinokassen vorbei direkt auf Netflix live (außer in den USA), als Grund hierfür wird die Geistreichigkeit des Films verantwortlich gemacht, zum Beispiel vom Guardian. Es ist schon lange beobachtbar, dass die Studios nur noch Titel mit Gewinngarantie umsetzen. Zu groß ist die Angst, einen Flop zu produzieren, zu hoch die Kosten (und damit der Verlust), einen Film weltweit zu befeuern.

Befeuert wird deshalb das, was sich auf jeden Fall verkaufen lässt. Die Folge sind Sequels von Sequels in den großen Kinosälen - und Nischenarthouse in den Programmkinos. Was zu sterben droht ist die qualitative Mitte (wenn es die im Film gibt). Serien schienen dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen.

Netflix hat mit Original Programming die neue filmische Mitte geboren: Schlaue, gut gemachte Serien, die einer Figur statt 90 Minuten gerne auch ein paar Episoden Zeit zur Entwicklung und zur Entfaltung geben.

Die Businesslogik hinter Original Programming ist simpel: Wer die besten Inhalte bietet, wird immer mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen und wer das Sehverhalten seiner Nutzer kennt, kann diese guten Inhalte immer verlässlicher planen (mehr dazu hier).

Was als Handvoll guter Serien begann, soll 2018 bis zu 700 Titel stark und mit über 8 Milliarden Dollar finanziert werden. Mit der sofortigen Verfügbarkeit guter Serien erschuf Netflix das Binge Watching und veränderte das Sehverhalten. Aber erst durch die Veröffentlichung von “Annihiliation” wird deutlich, dass Netflix sich eine Machtposition erarbeitet hat, in der es die Regeln des Kinos außer Kraft setzt. Denn es verändert die Blockbuster-Logik und damit das Verhalten der Studios (117 Millionen zahlende Kunden sind auch im Kino-Maßstab eine solide Audience und sofort erreichbar).

“Annihilation” wurde aus Angst vor einem Kassenflop direkt auf Netflix veröffentlicht — Was, wenn wir diese Form von Filmveröffentlichungen in Zukunft öfter sehen?

Was, wenn die großen Blockbuster weiter im Kino laufen (Avengers 12), aber die Studios in Zukunft gezielt für die großen Streaming-Dienstleister produzieren? Wenn Netflix (und Co) zu einer eigenen Destination werden, für die man Formate plant? Welche neuen Formate entstehen dann? Wie sieht anspruchsvolle Kinounterhaltung aus, wenn die Geschichten nicht mehr dem 90 Minuten Fall-Auferstehung-Fall Muster folgen müssen? Netflix macht es möglich, aus guten Filmen Kleinstserien zu machen: Eine Neuverfilmung von Shawshank Redemption, in 3 Episoden etc.

Das ändert auch das Marketing. Wie würde man einen Blockbuster bewerben, der sofort verfügbar ist? Was heißt das für das Werbebudget und die Berechnung der CAC? Wie schlägt sich die fröhliche Ungewissheit auf die nächste Veröffentlichung auf die Churn Rate (der Anteil aller Abonnenten, die einen Dienst nicht weiter benutzen/ihr Abo kündigen) nieder, verstärkt sich der Original-Content Effekt, den die aktuellen Inhalte heute schon ausüben?

Es zeigt sich einmal mehr, das die eigentlichen Konsequenzen einer neuen Technologie, in dem Fall Movie-Streaming, schwer abzuschätzen sind. Das Prinzip der Second Order Effects versucht diese Konsequenzen zu beschreiben.

Das Denken in “Second Order Effects” ist die eigentliche Herausforderung.

Second Order Effects sind die Folgen, die man nicht sofort sieht oder einschätzen kann. Es geht also bei der Betrachtung von Technologien, neuen Services, Businessmodellen etc. um die Frage, was danach passieren könnte. Herausforderung beim Beantworten der Frage ist, ein Verständnis für die Effekte zweiter oder sogar dritter Ordnung zu schaffen.

  • Effekte haben Ursachen
  • Effekte verursachen oder sind die Ursache weiterer Effekte
  • Ein Event kann eine lange Kette von Effektketten verursachen, die alle auf dieser einen Ursache aufbauen
  • Effekte, die mit Absicht verursacht wurden, können Effekte haben, die nicht beabsichtigt waren

Die Erarbeitung möglicher Second Order Effects ist qua definition ein agiler Prozess: Es geht nicht darum, exakt vorherzusagen, was passieren könnte, sondern mögliche Szenarien zu bestimmen. Die aber möglichst analytisch. Hilfsmittel ist der Bau der Effektketten in Form von Hypothesen und möglicher Antworten.

Im Fall von Netflix ist die Effektkette bis zu Annihilation schon ziemlich lang: Aus einem DVD Versand wurde ein Streaming-Service, der plötzlich ganz genau die Sehgewohnheiten seiner Nutzer kennenlernen konnte, aus den gewonnen Insights wurden neue Formate, die mit einem wissenschaftlichen Anspruch auf Erfolg heraus entwickelt wurden, aus wiederholten Erfolgen wurde eine Erfolgsgarantie, aus der wiederum wurde ein Track-Record und Vertrauen auf den Kapitalmärkten und bei den Studios, aus immer besseren Beziehungen zu den Studios wurde schließlich ein sehr kurzer Weg, einen multimillionen Dollar Film nicht im Kino zu veröffentlichen.

Die Frage ist nun: was wird aus dem Effekt, das ein Film nicht zwangsläufig mehr ein Kino braucht?

Offensichtlich zu anspruchsvoll für Kinogänger: Annihilation

child kollaboriert mit ambitionierten Unternehmen, um sie bei der Digitalisierung durch radikale Vereinfachung von Null auf Eins zu bringen.

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