Der Wert des Designs

Designer wurden lange Zeit zu Grafikern degradiert: Menschen, die Oberflächen irgendwie hübsch machen. Technologie hat diesem Beruf seine Berufung zurück gegeben: nämlich fundamentaler Baustein jedes erfolgreichen Unternehmens zu sein. Was Designer heute ausmacht, erklärt sich damit, was Design heute wertvoll macht.

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Heute arbeitet Design auf den Millimeter genau verzahnt mit anderen Disziplinen der Wertschöpfung. Der Wandel von Design ist der Wandel vom Gestalten der Oberflächen hin zum Gestalten der Produkt- und Service-Erfahrungen. Design ist zu UX geworden und damit zu etwas, für das sich die gesamte Organisation irgendwie verantwortlich fühlt. Das hat mindestens drei Ursachen, die alle ineinandergreifen und beinahe jede aktuelle Entwicklung erklären.

Der soziologische Unterbau: “Von einer Gesellschaft des Allgemeinen zu einer Gesellschaft des Besonderen”

Der neue Wert von Design ist nicht allein damit erklärbar, dass durch die technischen Möglichkeiten wie Apps und der einhergehenden Service-Explosion einfach mehr gestaltet werden muss. Wir nutzen Andreas Reckwitz’ “Die Gesellschaft der Singularitäten” als Denk- und Erklärmodell, um beweisbar zu argumentieren, wieso Design kein Selbstzweck und damit so wichtig geworden ist. Reckwitz beschreibt aus seiner Soziologiebrille blickend den gesellschaftlichen Strukturwandel der modernen Gesellschaft. Von der industriellen Moderne zur Spätmoderne (letzten 100 Jahre), in der sich eine soziale Logik des Allgemeinen zu einer sozialen Logik des Besonderen entwickelte.

Im Kern stellt er einen Bedeutungswandel der Technik fest, die früher in einer sozialen Logik des Allgemeinen vor allem standardisierte, heute jedoch in der neuen sozialen Logik des Besonderen vor allem singularisiert. Es ist heute das Individuelle, das nicht Austauschbare — das Singuläre — , was die Gesellschaft interessiert. Das Web fördert und beschleunigt die Orientierung am Besonderen, es singularisiert:

Subjekte — ich bin besonders, nicht wie alle anderen

Objekte — diese Lampe ist vintage, nicht Ikea

Aktivitäten — ich reise nach Kamchatka, nicht auf Kreta

Kollektive — wir sind Veganer, nicht wie der Rest

Design ist zum Werkzeug geworden, um Subjekte in ihrer Einzigartigkeit, Objekte in Ihrer Einzigartigkeit, Aktivitäten in Ihrer Einzigartigkeit und Kollektive in ihrer Einzigartigkeit zu bedienen. Reckwitz beschreibt vier Praktiken der Singularisierung, die jedem Leser bekannt vorkommen dürften. Praktiken des Beobachtens, des Bewertens, des Hervorbringens und des Aneignens. Für die Praktiken des Beobachtens ist eine kulturelle Sensibilität für die Eigenkomplexität des Besonderen auszubilden, die im Design Thinking schon viele Jahre methodisch angewendet wird. Besonders deutlich wird in diesem Denkmodell und seinen ableitbaren Praktiken der Umstand, dass man für Design auch Designer braucht:

“Während die Logik des Allgemeinen ein Wissen und die Kompetenz zur Klassifikation, Subsumtion, und Abstraktion voraussetzt, muss für das Erfassen singulärer Objekte, Subjekte, Räume und Kollektive eine kulturelle Sensibilität entwickelt werden, ein bestimmter Sensus, der sowohl eine kognitive als eine sinnliche Dimension umfasst.”

Das Internet ist ein „Markt der Sichtbarkeiten“, in dem man unsichtbar werden kann, wenn andere Anbieter diese Singularisierung besser beherrschen als man selbst. Popkultur und die Fähigkeit, Produkte und Services zu erschaffen, die mit der Zielgruppe resonieren — wir definieren das als Dinge, mit denen sich Menschen gerne, lange und oft beschäftigen — , ist eine zentrale Kompetenz geworden. Das bringt uns zur zweiten Ursache des Wandels des Designwerts.

Die neue ökonomische Realität: menschliches Verhalten ist zu einem Rohstoff geworden

Aus Bauchgefühl wurde Big Data und heute steht Data Strategy auf jedem Management-Slide. Aber warum ist das so? Wieso ist das Ersetzen von Bauchgefühl durch Daten, um strukturierte und informierte Entscheidungen zu treffen, so ein Big Deal? Es gibt eine lange und dichte Antwort darauf, die wir für die T3N verfasst haben. Die kurze Antwort tut es an der Stelle auch. Daten sind so wichtig geworden, weil menschliches Verhalten zu einem Rohstoff geworden ist. Auszug aus dem Artikel:

“Produkte aus Nutzerdaten zu bauen klingt zunächst harmlos, aber es handelt sich nicht um eine Win-Win-Situation wie Öffentlichkeit und auch Regulierungsbehörden häufig glauben, sondern um eine völlig neue Form von Kapitalismus, bei der menschliches Verhalten zu einem Rohmaterial wird. Die ständige Expansion in neue Geschäftsfelder von Firmen wie Google dient einzig und allein der Logik, neue Versorgungskanäle für weiteres Rohmaterial zu schaffen, um menschliches Verhalten zu entführen und in einem System zu verarbeiten, das die Öffentlichkeit nicht versteht.”

Design ist zu der Disziplin geworden, die menschliches Verhalten als Rohstoff zu etwas Brauchbaren verarbeitet und formt. Die Skalierung, in der Firmen wie Google dieses Rohmaterial schürfen und die Intransparenz, mit der sie es verarbeiten, muss ausdrücklich kritisiert werden. Die durch Technologie entstandene Fähigkeit, aus vielen Input-Punkten menschlichen Verhaltens bestimmte Outputs zu kreieren, ist aber ein ökonomischer Imperativ, mit dem man umzugehen lernen muss. Design ist die Disziplin die aus Input Output macht.

Diese neue ökonomische Realität hat den Eingangs beschriebenen Effekt, dass sich die gesamte Organisation für die UX verantwortlich fühlen muss. “Digitale Transformation” folgt in seiner Tiefe dem Muster, die Organisation zu befähigen, menschliches Verhalten als Rohstoff zu begreifen und verarbeitbar zu machen. Menschliche Erfahrung als Produktionsfaktor erfordert, dass Unternehmen nicht einfach Produkte bauen, hier und da mal eins, sondern eine “Engine” konzipieren — einen Motor als Symbol der neuen Produktionsfähigkeiten. Diese Fähigkeiten umfassen drei Essenzen:

  1. Das Unternehmen in einen Zustand der Experimentierfähigkeit versetzen
  2. Strukturierte Entscheidungsfindung auf Basis von realen Daten treffen
  3. Aufbau der organisatorischen Fähigkeit der schnellen Richtungsänderungen

Mit dieser Erkenntnis steht so ziemlich alles auf dem Spiel; auf der Risiko-Seite ganz konkret der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Unternehmen, die den neuen Wert des Designs verstanden haben und entsprechend eine Engine gebaut haben, aus Input kontinuierlich neuen Output zu formen. Auf der Gewinn-Seite wartet dann die dominierende Wirtschaftslogik des 21. Jahrhunderts.

Der große Gewinn: Firmen, die Nachfrage kontrollieren sind mehr Wert als Firmen, die das Angebot bereitstellen

Die mit Abstand einfachste Erklärung des Unterschieds zwischen analoger und digitaler Welt ist die, dass im Web Konsum freiwillig stattfindet. Design wurde in dieser Welt der Null-Euro-Grenzkosten zum Motor der User-Akkumulation. Wer es schafft, möglichst viele Nutzer zu erreichen und an sich zu binden, erobert Nachfrage und ist in der Lage, so viel Schwungmasse aufzubauen, dass andere Firmen nicht anders können, als sich der Akkumulation zu beugen und die eigenen Produkte zu integrieren.

Bestes Beispiel sind die Publisher, die von facebook und Google abhängig sind und direkt Nutzer in Form von Traffic verlieren, sobald es Änderungen im Algorithmus gibt. Die ökonomische Theorie dahinter kommt von Ben Thompson und heißt Aggregationstheorie. Was wir hier sehen, ist der Wert von Design in der Akkumulationslogik: Die gesamte Produkt- und Serviceentwicklung drehte sich zugunsten von Firmen, denen die Nachfrage gehört, nicht das Angebot.

Wer Nachfrage kontrolliert, arbeitet an einer neuen Schnittstelle der Wünschbarkeit. Der Wert von Design ist heute die Fähigkeit, aus gemessenen Input und Impulsen Businesses zu formen und ultimativ so viel Nachfrage an sich zu binden, bis einem die Nachfrage gehört.

Die Folge: mehr Design, mehr Designer

Design ist nicht mehr das Gestalten von Oberflächen, genauso wie Designer keine Grafiker mehr sind. Designer geben Objekten, Subjekten, Räumen und Kollektiven eine kulturelle Sensibilität, die sowohl eine kognitive als eine sinnliche Dimension umfasst. Das macht Design zu einer Kernkompetenz moderner Unternehmen, die nicht länger (vollständig) an Agenturen und Designbüros ausgelagert werden kann. Unternehmen müssen schlichtweg eigene Design-Fähigkeiten aufbauen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die besagte Engine kann nicht außerhalb des Unternehmens liegen. So erklärt sich auch das Aufdröseln des Design-Berufs in zahllose Unterdisziplinen. Eine so wichtige Tätigkeit muss sich mittelfristig spezialisieren, heute zählt der Design-Beruf Jobkategorien wie UX-Designer, Interface-Designer, Visual-Designer, Motion-Designer, Organisations-Designer, Game-Designer, Data-Visualization Designer und so weiter.

Der neue Wert befähigt den alten Wert von Design. Design war immer Problemlösungskompetenz, interdisziplinärer Sachverstand, das Verstehen und auf den Punkt bringen von Zusammenhängen. Das gutes DE$IGN einen entscheidenden Einfluss auf wirtschaftlichen Erfolg hat, wurde lange wie Esoterik behandelt und war nicht messbar. Erst jetzt wird deutlich, dass ein gutes Gefühl auch einen wirtschaftlichen Wert hat.

Wir suchen übrigens Designer und freuen uns auf interessante Bewerbungsgespräche.

child kollaboriert mit ambitionierten Unternehmen, um sie bei der Digitalisierung durch radikale Vereinfachung von Null auf Eins zu bringen.

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