MicroTik und SofTok

Die mögliche Akquise von TikTok durch Microsoft ist politische Mafia-Satire. Sie kommt durch unlautere Mittel zustande und wirkt mit Blick auf die Potentiale dieses Deals besonders fies. Eine Übernahme TikToks durch Microsoft betont die Stärken Microsofts und kaschiert gekonnt seine Schönheitsfehler. Für Microsoft wäre es der Coup des Jahrhunderts.

child-authors
child

--

Microsoft werden verkümmerte Social-Network-Fähigkeiten attestiert, dabei hält Microsoft auf LinkedIn eine Business und mit ihrem XBox Network eine Gaming-Community lebendig. Aber das zählt wohl nicht, denn Microsoft steht außerhalb der GAFA-Gang und wirkt wie der uncoole Nerd in einer Gruppe cooler (oder gangstermäßiger) Nerds. Unterschätzt zu werden, so zeigt es sich gerade, ist von großem Wert.

Denn Microsoft ist sensibel genug, Social nicht zu ignorieren, aber nicht abhängig genug, das gesamte Geschäft um den Social Graph zu bauen. Das ist die Spezialität von GAFA und die durch den Social Graph entstehenden Netzwerk-Effekte wurden zu GAFAs größtem Burggraben. Dachte man zumindest in der WEIRD-Welt (Akronym for “Western, educated, industrialized, rich and democratic”). TikTok zeigt offen, was für unfokussierte und zu großem Teil auch un-innovative Produkte Instagram und Facebook sind.

Es gibt eine Blendgranate im Übernahme-Poker von TikTok, die man kennen muss. Microsoft spricht von Datensicherheit als ihr wichtigstes Gut. Ihr Pitch: wenn wir TikTok kaufen, sind die Daten sicher und das Problem ist gelöst! Was in einem Land, in dem so ziemlich alle Daten in Konsum oder Überwachung verwurstet werden, nicht so richtig schlüssig klingt — und hier ist nicht China gemeint. Die Blendgranate soll den Blick von TikToks wichtigstem Gut ablenken: seinem Algorithmus.

In der Gegenwart würde eine Akquise durch Microsoft mehr Wettbewerb bedeuten. Der ist bekanntlich gesund und offensichtlich dringend nötig. Aber dazu muss auch der TikTok Algorithmus Teil des Deals sein und ob das der Fall ist, ist nicht ganz klar. Muss es aber dringend. Denn der Wert von TikTok für Microsoft im Speziellen und dem Tech-Ökosystem der WEIRD-Welt im Ganzen liegt in dem Potential von morgen, nicht in der Opportunity von heute. Die Opportunity ist, mafiös unter dem Vorwand der Datensicherheit an TikTok zu kommen. Das Potential hingegen ist, auf dem einzigartigen interessenbasierten Algorithmus TikToks eine Plattform zu bauen, die nicht nur ein neuer Social-Wettbewerber ist, sondern auf der sich alle möglichen Services integrieren lassen.

Der Interest-Graph ist TikToks Manhattan Project. Der Algorithmus ist der effizienteste Aufmerksamkeitsmarktplatz der Welt. Präzise, und über Ländergrenzen hinweg einsatzfähig. In Sekundenbruchteilen werden milliardenfach bestimmte Inhalte bestimmten Nutzern ausgespielt. TikTok braucht dafür keinen Minimum Social Graph, sondern nur 3-Minuten Nutzung der App. Den Algorithmus füttert eine Kamera und Videofunktion, die in ihrer Vielfalt und Remix-Genialität das Herstellen hochunterhaltsamer Inhalte möglich macht. TikTok baute daraus einen sich selbst fütternden Kosmos aus Inhalten aller möglicher Zielgruppen, der wie ein sich verstärkender Resonanzraum wirkt. Es ist diese Matchmaking-Effizienz, die so wertvoll ist. Sebastian Hofer formulierte es in einem spitzen Artikel im österreichischen Nachrichtenmagazin “ Profil”:

“So ist auf TikTok jeden Tag etwas anderes wichtig, etwas Neues los, eine neue Challenge, ein neuer Song oder ein neuer Star auf dem Schirm. Wie diese Hypes konkret entstehen, wie aus einem unschuldigen Tanzvideo ein weltweiter Wahnsinn wird, entzieht sich der öffentlichen Kenntnis.”

Ein Social Graph oder ein Interest Graph führen zu sehr unterschiedlichen Produkten. Eugene Wei hat es in einem Tech-Essay von ungeheurer Dichte beschrieben; sein Essay ist eine Leseempfehlung und Mutter einiger Gedanken in diesem Text. Der Vorteil eines Interest Graphs ist, das er durch Interaktion Wert aufbaut und nicht wie der Social Graph durch die Größe des Netzwerks. TikTok beschreibt Eugene Wei als “passives Lernen durch Konsum”. Als einen süchtigmachenden Algorithmus, den Nutzer durch hunderte Mikrointeraktionen pro Nutzung trainieren und nicht dabei Spaß haben, sondern deshalb. Der Nachteil des Social Graph Modells sind laut Eugene negative Netzwerk-Effekte. Sie treten ein, wenn man vielen Menschen folgt, was die Basis für die Inhalte des Feeds ist, aber eben nicht alle Inhalte von allen Menschen immer gleich gut findet. Unsere Feeds in Instagram, Facebook, Twitter und LinkedIn sind voll von Inhalten von Menschen, denen wir zwar aktiv folgen, aber bei denen uns nicht immer alle Inhalte gleich viel interessieren. Die Folge ist ein Feed, der im besten Fall langweilt, im schlimmsten Fall nervt (siehe Facebook).

Das Potential TikToks wird mit einer Akquise zum Potential von Microsoft. TikTok ist in China (dort heißt die App Douyin) längst zu einem Multifunktions-Werkzeug geworden (ähnlich wie WeChat). TikTok’s Kurzform-Video ist dort eine Art Betriebssystem für Shopping, Dating, Karriereplanung und mehr. Zu den alten Fähigkeiten Microsofts, Plattformen bauen und operieren zu können, Cloud-Infrastruktur zu verwalten, Communities zu bauen und Workflows zu optimieren, kommt mit TikTok möglicherweise ein erschreckend effizienter und unterhaltsamer Interessen-Marktplatz auf Videobasis hinzu. Auf diesem Marktplatz kann Microsoft neue Services und Produkte bauen, die der Interessenlogik und nicht der Social-Logik folgen.

TikTok uns seinen Algorithmus als Plattformbasis zu verstehen, auf der mehr und andere Services und Produkte entstehen können, ist die Chance in diesem Deal. Natürlich neben der Übernahme der Userbase des Kernprodukts und dem Kernprodukt selbst. Produktivität ist schonmal Microsofts Steckenpferd. “Empower individuals to achieve more” ist kein schlechter Unternehmens-Purpose, wenn die Akquise des effizientesten Interessenmarktplatzes der Welt auf der Agenda steht. Dazu muss der Deal natürlich auch zustande kommen und ob dem so ist, darf bezweifelt werden.

Die wirklich traurige Zwischennote ist, dass wir in Europa wieder nur zuschauen. Kein SAP, keine Telekom und kein Flixbus oder Spotify sind groß genug für so einen Deal. Aber zumindest wird deutlich: das Silicon Valley ist angreifbar. Attacke.

child kollaboriert mit ambitionierten Unternehmen, um sie bei der Digitalisierung durch radikale Vereinfachung von Null auf Eins zu bringen.

Sag: hi@child.team

--

--

child-authors
child
Editor for

central account of all writers @child-studio