Das Paradox der Innovation — Warum Innovation längst nicht mehr das ist, was sie einmal war

Arthur E Smith, Mikros in the book Nature through Microscope & Camera (1909)

Von Aileen Moeck, Adrian Wons und René Schäfer

Innovation gehört zu den wichtigsten strategischen Prioritäten unserer Zeit. Doch all das Gerede über Innovation der letzten Jahre gepaart mit einem ziellosen Streben nach Neuem hat zu “immer mehr vom Gleichen” geführt. Der Lobgesang auf Innovation wurde verherrlicht, die Motivation hinter Innovation veränderte sich — Hypergrowth & Blitzscaling ftw!— und entstanden ist ein Innovationssystem, welches sich mehr für sich und seine Experten interessiert als für das Gemeinwohl. Innovation ist nicht mehr das, was sie einmal war: die gewinnbringende Kombination von vorhandenem Wissen, Ressourcen und Technologien für Fortschritt und Entwicklung zum Wohle der Allgemeinheit. Es ist an der Zeit, uns zu fragen, wem oder was wir eigentlich nachjagen und wohin wir wollen.

Im Jahr 2009 teilte Mark Zuckerberg der Welt mit, dass wenn “wir Dinge nicht schnell genug kaputt machen, wir uns nicht schnell genug bewegen”. Rasch wurde das Facebook-Mantra “Move fast and break things” zu einem festen Bestandteil des Silicon Valley Denkstils und die produktive Gier nach schnellem Wachstum erhob sich zur Maxime der Digitalwirtschaft.

Rückblickend wenig überraschend, immerhin lebt die Welt der Bits und Bytes von Beta-Releases und schnellen Anpassungen. Und da Fehler in der Software in der Regel nicht mehr kaputt machten, als die Software selbst, räsonierte das Mantra von Tag zu Tag mit immer mehr Leuten aus dem Valley und wir akzeptierten Einschränkungen im Produkt im Tausch für immer neue Features.

Doch die Dinge änderten sich. Schnell war The Zuck nicht mehr alleine. Egal ob Gründer:innen, Geschäftsführer:innen, Business-School-Professor:innen, Meinungsführer:innen oder Vordenker:innen, seit Jahren versucht man die Menschheit mit Konzepten — oder Innovationstheater, je nachdem wen man fragt — wie disruptiver Innovation, Ideation, Intrapreneurship, Design Thinking oder Innovationsökosystemen wachzurütteln. Aber auch mit neuen Technologien wie Künstlicher Intelligenz, Blockchain oder dem Internet of Things. Beliebt sind zudem Motivationssprüche wie “what would you do if you weren’t afraid?”, “done is better than perfect”, “stay focused and keep shipping” oder “fail fast, fail often, fail forward”.

Ob neue Innovationskonzepte, junge Technologien oder “Get-shit-done” Motivationsparolen, alles zielte darauf ab, eine leane und agile Mentalität zu schüren, die Scheitern, Disruption, Skalierung, Viralität und Wachstum zu ihren Imperativen macht. Ob die Unternehmung auch ethisch vertretbar ist? Egal. Hauptsache es wird Aktivität erzeugt und man kann Aufmerksamkeit verbuchen. “Move fast and break things” ist zum Zeitgeist geworden. Nur das Neue zählt. Es ist uns heilig. Wer es kritisiert, sträubt sich. Und wer nicht zur Symphonie des Neuen tanzt, ist ein miesepetriger Spielverderber.

Das Ethos wurde zu einer Geschäftsstrategie, die sich viral verbreitete. Und damit sind wir beim ersten großen Problem. Denn die Einstellung dringt zunehmen in Bereiche vor, in denen nicht nur Software Schaden nimmt, wenn man schnell mal was am Produkt oder am Code verbessert. In unserer digitalisierten Welt stehen mittlerweile auch Menschenleben auf dem Spiel.

Innovation um der Propheten willen

Die große Beschleunigung machte Innovation zur Obsession. Und die Sucht nach dem Neuen gebar Dinge, die uns bis heute nachhaltig beeindrucken. Fallende Kommunikations- und Technologiekosten ermöglichten es den Internet-Titanen, es sich in jeder noch so kleinen Ritze in unserem Leben bequem zu machen und sich global über den Erdball zu erstrecken.

Von diesem Erfolg angestachelt, machten sich Entscheidungsträger:innen aus allen Branchen die digitale Denkweise schnell zu eigen. Überall wurden Corporate Innovation Units und Denklabore gegründet, um nach dem Vorbild des Silicon Valley neue Umsätze durch Innovationen zu generieren. Geschwindigkeit wurde zum Gebot und “das Märchen vom ewigen Wirtschaftswachstum” — nach Greta Thunberg — wurde zum Problemlöser. Unternehmen schufen klangvolle Positionen mit zukunftsorientierten Titeln wie Chief Innovation Officer oder Innovation Evangelist. Universitäten und Schulen begannen exponentielles Denken in die Lehre mit aufzunehmen und neue Denkansätze wie Design Thinking schickten sich an, die Arbeitswelt zu verändern. Das Ganze ging sogar so weit, dass sich mittlerweile sogar deutsche Politiker für Moonshots, Sprunginnovationen und die Erfolge der lokalen Startup- und Tech-Ökosysteme interessieren. Zukunft wird aus Mut gemacht!

Nicht nur die Plattformunternehmen haben sich in die Mitte unserer Gesellschaft ausgebreitet, sondern auch ihre Denkstile. Wer nicht innovativ denkt und Veränderungen fordert, ist nicht Fortschritts-gewandt. Wer sich nicht mindestens für eine technologie-getriebene Zukunft interessiert, geht vor den Problemen der Welt in die Knie. Man muss mit dem Alten brechen und die Gegenwart radikal neu sortieren, sonst hat man keine Chance. Es kann zumindest nicht schaden, frei zu denken und die Zukunft mit offenen Armen zu empfangen. Lieber Flugtaxis, als einen modernen ÖPNV. So zumindest das gängige Narrativ.

Doch es mehren sich die Stimmen, die diesen Neuheitenzentrierten Denkstil infrage stellen¹. Gerade weil deutlich geworden ist, dass sich (risikokapitalgetriebene) Innovation gegenwärtig eher für sich selbst interessiert als für das Gemeinwohl.

Zwar geben Innovatoren, Unternehmer und ihre Propheten vermeintlich gerne vor, den Menschen nahe sein zu wollen. Aber eigentlich sind sie nur daran interessiert, dass das Spiel, das sie mit ihren Produkten, Servicen und Technologien geschaffen haben, nach ihren Regeln gespielt wird². Wir kommen eigentlich nur als Nutzer:innen in den User-Stories und Monetarisierungsmodellen vor — zwischen Nutzern und Menschen liegen übrigens Welten. Oder eben dann, wenn sich jemand mit einer Zukunft voller Flugtaxis schmücken will, in der alle Probleme des Massentransitverkehrs gelöst sind.

Making The World a Better Place

Um das Spiel um die Zukunft einzuleiten und zu dominieren, nutzen Innovationsexperten oft eine Rhetorik der Angst, gepaart mit einer sich immer wiederholenden Taktik: Sie formen aus etwas Bekanntem eine Zukunft, die unvertraut wirkt und voller Herausforderungen ist. Es folgt der Auftritt der Erlöser:innen. Mit Pauken und Trompeten wird verkündet, dass das, was wir zu wissen und zu verstehen glauben, in Wirklichkeit etwas ganz anderes ist. Das Problem ist ein ganz anderes, sagen sie voller Selbstbewusstsein. Sie rekontextualisieren es — Refraiming im Design Thinking Speech — um die eigene Agenda zu untermauern und voranzutreiben. Denn zum Erstaunen aller, haben sie natürlich eine Lösung in Form eines Subscription-Modells für das neue Problem parat.

Nun folgt die immergleiche Litanei: Die Gesellschaft muss sich verändern. Wir müssen visionärer denken, radikaler werden und offen für Neues sein. Sprich: Wir müssen uns dem Erlösungsnarrativ anpassen und unterwerfen. Nur dann haben wir eine Chance zu überleben. Nicht umgekehrt. Denn die Zukunft ist alternativlos — wer kommt schon auf die Idee, sich im hier und jetzt mit den Problemen der Gegenwart auseinandersetzen, wenn die Zukunft auf dem Spiel steht.

Wie der Prophet die Zukunft war nimmt. Edwin D. Babbitt: The Principles of Light and Color, 1878

Vorbei ist die Zeit, in der man Argumente mit guten Ideen gewann. Terminologie und Framing wird immer wichtiger. Und je mehr man den Propheten zuhört, desto deutlicher wird, dass nur wenige an echten, gemeinwohlorientierten Innovationen interessiert sind. Viel wichtiger ist, wer wann und wie laut über seine Zukunftsvorstellung spricht und wer die meiste Aufmerksamkeit damit auf sich und seine Zukunft verbuchen kann. Denn je breiter der Anspruch auf die Zukunft, desto größer die mögliche Monetarisierung.

Und deswegen wird so viel Innovation gepredigt, wie nie zuvor. Was dazu führt, dass so viel innoviert wird, wie nie zuvor. Jedes Unternehmen sieht sich mit der Zukunft konfrontiert, in der es natürlich nicht obsolet sein will. Niemand ist sicher vor Disruption, Transformation und Veränderung. Aber — und das ist der Kniff in der Erlösungs-Rhetorik des Paradigmas — wir alle können wie Steve Jobs, Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg sein. Wir müssen nur schneller, besser und revolutionärer scheitern. Denn Innovation ist eine Frage der Methode. Wer mutig ist, etwas riskiert und auf die richtigen Methoden setzt, wird belohnt.

Das Dilemma: Wir denken und handeln gleich. Wir blicken herauf zu den Innovatoren und fragen sie, was wir tun sollen, in was wir investieren sollen, was wir konsumieren sollen und was wir denken sollen. Dabei vergessen wir die Dinge, die uns immer dabei geholfen haben, eine Lösung zu finden: Verantwortung zu übernehmen und über den Tellerrand hinaus denken. Je mehr wir uns der Verantwortung entziehen, desto weniger neue Lösungen entwickeln wir. Je mehr Gleiches gefördert wird, desto schneller kippt das fahle Ökosystem um. Wir sind gefangen in einer Endlosschleife, bei dem jede Iteration mehr Abnormitäten verursacht als die letzte.

Es gibt kein Rezept für Innovation

Das mag nun nicht mehr überraschend kommen, aber es gibt kein Rezept für Innovation. Niemand kann sagen, wie Innovation überhaupt passiert.

Weder Ökonom:innen oder Sozialwissenschaftler :innen— geschweige denn Unternehmer:innen oder Manager:innen — haben eine erschöpfende Antwort entwickelt, wie man Innovation wirklich planen oder wie man Fortschritt, und damit Wachstum, unternehmerisch oder makroökonomisch beschleunigen kann. Viel zu wenig ist bekannt über die Institutionen und Netzwerke, die Fortschritt in der Vergangenheit substantiell stimuliert haben. Innovation wirkt viel weniger gerichtet, als wir zu denken pflegen. Gäbe es eine Wahrheit, würden wir nicht begierig jedes neue Innovationsmanagementbuch lesen — welches übrigens auch von allen anderen gelesen wird — um im nächsten Jahr ein Prozent innovativer als der Wettbewerb zu sein.

Innovation hängt von Zukunftsbildern ab und wenn es um die Prognosen geht, sind wir alle so gut wie dartwerfende Schimpansen.

Wirtschaftswissenschaftler und Historiker wie Robert Gordon, Tyler Cowen und Peter “We wanted flying cars, instead we got 140 characters” Thiel behaupten sogar, dass die Innovationsrate seit den 1970er Jahren gesunken ist. Oder anders ausgedrückt: Es gibt keine Anzeichen für einen Anstieg einer makroökonomischen Innovationskraft, seit wir darüber sprechen, wie innovativ wir alle doch sind. Oder um Adrian Daubs Silicon Valley Kritik ins Allgemeine zu kehren: “Wir haben einen Hang dazu, revolutionär zu sein, ohne irgendwas zu revolutionieren”.

Vertreter der Stagnationshypothese — die nicht von “null Fortschritt” ausgeht, aber von langsameren Fortschritt— fragen sich, was wir den wahrlich innovativen Jahrhunderten entgegensetzen können, die Elektrizität, städtische Abwasserentsorgung, Plastik, Pharmazeutika, Autos, Webstühle, Papier, Transistoren, Stahlbeton, Konzerne, die Frauenbewegung, Eisenbahnen, Teflon oder das Internet hervorgebracht haben. Etwa das Internet und BigTech? Mit Sicherheit. Die digitale Revolution mit ihren Supercomputern für die Hosentasche, welche alle über ein globales Kommunikationsnetzwerk verbunden sind, ist erstaunlich. Das Gesamtpaket gehört zu den grundlegensten transformativen Technologien unseres Zeitalters — auch wenn es schwer ist, den Effekt von Computern in Produktivitätsstatistiken auszumachen. In der Welt der Bits und Bytes geht es voran, aber darüber hinaus?

Man muss nur einen Blick auf den schleichenden Tod der mit Fanfaren-gestarteten Corporate Innovation Units in Deutschland werfen, die in der Welt der Bits die Erleuchtung suchten. Oder all die vermasselten Geschäftsmodelltransformationen tradierter Unternehmen studieren. Oder sich die vielen versenkten Millionen Euro anschauen, die in Forschungsförderungsprogramme, Technologien und Verbünde für irgendwelche neuen Technologien oder Infrastrukturen geflossen sind, welche marktdominante Technologien und Geschäftsmodelle aus der Welt der Bits und Bytes herausfordern sollten — looking at you Quaero, Theseus und GAIA-X.

Das Konzept der Innovation sollte eigentlich in einer tiefen Krise stecken. Doch überraschenderweise tut sie das nicht. Denkansätze wie Design Thinking oder Disruption florieren und Risikokapitalströme steigen von Jahr zu Jahr auf unbekannte Volumen. Und das, obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass durch die neuen Methoden der letzten Jahre auch wirklich transformative Innovationen, Geschäftsmodelle oder Produkte entstanden sind. Nur 7 von 69 amerikanischen Unicorns waren 2020 überhaupt profitabel! Klar, Disruptive Innovation, Design Thinking und (Corporate) Venturing Methoden haben ihre Vorzüge, keine Frage, aber sie sind kein mystisches Allheilmittel. Und auch wenn hiesige Startups wie Tier, Lieferando oder Zalando monetäre Erfolge sind, den tiefen Teller haben sie nicht erfunden — über die Obst- und Gemüsesaftpresse Juicero oder Jibo den freundlichen Haushaltsroboter wollen wir erst gar nicht anfangen zu reden. Das Gemeinwohl heben solche “disruptiven” Unternehmen jedenfalls nicht auf ein neues Niveau. Und wenn selbst Clayton Christensen, der Vater der disruptiven Innovation, die Auslegung seines Werkes in Frage stellt, sollten wir uns fragen, ob wir unsere Motivation hinter “Innovation” überhaupt verstehen.

Historische Röntgenaufnahme eines Kammchamäleons. Aufgenommen von Josef Maria Eder und Eduard Valenta, 1896. Ein Beispiel — also die Technologie die zur Aufnahme des Bildes führte — für eine wahre, langlebige Innovation.

Im Rückblick ist es einfach, Technologien oder Geschäftsmodelle als disruptiv zu kennzeichnen. Auch, weil Technologien und Pfadabhängigkeiten im Nachgang absurd einfach nachzuzeichnen sind. Christensen war sich dieser Voreingenommenheit sehr wohl bewusst. Er wiederholte deswegen immer wieder, warum Uber keine disruptive Innovation darstellt und erklärte auch, warum das iPhone als nachhaltige Innovation begann — wie so viele anderen Innovation davor und danach. Das Etikett “disruptive Innovation” wird ex post verliehen, nicht ex ante.

Das Verwirrende an unserem Zeitgeist ist, dass wenn wir die Begriffe ernst nehmen würden, mit denen wir um uns schmeissen, wir uns nicht nur auf disruptive marktverändernde Beispiele stürzen würden. Wir würden auch nachhaltigen und inkrementellen Innovationen wie Google, Wikipedia, IKEA, oder dem iPhone nacheifern. Für Unternehmenserfolg scheint der Unterschied zwischen nachhaltiger und disruptiver Innovationen keinen Ausschlag zu geben. Er ist rein akademischer Natur. Dennoch haben wir uns darauf eingeschwungen, dass nur das Neue eine Marktveränderung herbeiführen kann. Ganz im Stile des Denkstils haben wir das Konzept neuausgerichtet und damit dem unternehmerischen Kapitalismus einen Bärendienst erwiesen. Denn er baut auf wachstumsgetriebenen Narrativen auf. Geschichten die danach streben, der Zukunft einen Sinn zu geben und sie dadurch zu formen. Zweifellos ist Disruption das bessere Meme.

Doch wenn wir eines von den großen Innovator:innen der letzten Jahrhunderte lernen können, dann, dass Erfinder:innen und Unternehmer:innen nicht unter dem Einfluss von innovativen Denkansätzen standen. Sie waren getrieben von pragmatischem Erfindergeist, Wagestolz und von politischem oder sozialen Engagement. Oft spielte auch schlicht und einfach der Zufall eine Rolle, weil ihre Variation im Design, Marketing oder Geschäftsmodell endlich mit einem Markt schwang. Selten war jedoch ein Wille zur kreativen Zerstörung ausschlaggebend. Oder die Suche nach dem schnellen Exit, dem größtmöglichen Gewinn durch ein Marktkonsolidierungspowerplay oder der Disruption um der Disruption willen. Sicherlich, viele Innovationen sind marktorientiert individuell oder im Kollektiv entwickelt worden — Flugzeuge, Telegrafen, Nähmaschinen, Glühbirnen, Filmkameras, das Fernsehen oder Staubsauger. Doch die Mär an Innovationen entstand in den letzten 200 Jahren nicht-marktorientiert: das World Wide Web, die Relativitätstheorie, Supraleiter, Röntgenstrahlen, das Stethoskop, Aspirin, der Computer, Radar, GPS, Herzschrittmacher oder die Antibabypille, um nur ein paar zu nennen.

Gleichwohl ändern sich die Zeiten. Natürlich hat der neue Denkstil eine stimulierende Wirkung, das ist unbestreitbar. Er hält die Diskussion über Innovation aufrecht, fördern den Diskurs und sorgen für notwendiges Kapital — auch wenn der Treibstoff Risikokapital ungleich verteilt ist. In B2B Sektoren passieren zudem langsam Dinge, die uns nachhaltig als Gesellschaft prägen werden. Es gibt vielversprechende junge Unternehmen, die an grünen Energietechnologien arbeiten, die Bau- und Fertigungsindustrie modernisieren oder versuchen, den Bildungssektor, die Landwirtschaft oder den Gesundheitsmarkt in das einundzwanzigste Jahrhundert zu überführen. Zudem wird der Ausgründungsprozess aus der deutschen Spitzenforschung erleichtert und bundeseigene Förderungsinitiativen wie die Agentur für Sprunginnovation (SPRIN-D) setzen einen nachhaltigen Investitionsfokus auf radikale Innovationen mit makroökonomischen Effekten. Die Form der Dinge, die kommen werden, lassen sich bereits erahnen. Und das macht Hoffnung.

Einschneidende technologische Veränderungen sind in den letzten Jahren selten geworden

Doch es sollte uns zu denken geben, dass esoterische Predigten über Innovation immer noch wichtiger und wirkungsvoller sind als die Ergebnisse, die sie hervorbringen.

Natürlich ist die Liste an weltverändernden Technologien lang, mit der sich Startups und Unternehmen versuchen eine goldene Nase zu verdienen. Doch die meisten Hoffnungen — selbstfahrende Autos, Kernfusion, Gentherapie, künstliche Assistenten, Weltraum-Technologie, Virtual Reality, Smart Cities etcpp — verharren auf der Liste schon eine geraume Weile und werden dort auch noch ein wenig im Prototypenstatus abhängen. Sie alle haben Potenzial und erhalten viel Aufmerksamkeit und Geld. Aber ihre Wirkung auf die Gesellschaft war bisher marginal und das wird sich so schnell auch nicht ändern. Im Grunde kann man fast alle Trendtechnologien noch ein paar Jahre ignorieren, wenn man nur an einer breiten Wirkung interessiert ist, die sich auch makroökonomisch in Form eines Produktionswachstum messen lässt und das Gemeinwohl fördert. Disruption braucht Zeit und Infrastruktur.

Die 100-Euro-Frage lautet: Welche technologische Errungenschaft der letzten 50 Jahre hat uns wirklich nachhaltig beeinflusst? (ǝuoɥdı sɐp :ʇɹoʍʇuɐ)

Das Problem: Wir alle wollen Frenzyness und argumentieren damit, doch was wir brauchen sind langweilige Grundlagen. Illustration: Carlota Perez: Technological Revolutions and Financial Capital -The Dynamics of Bubbles and Golden Ages, London 2002.

Zugegeben, die Liste an weltverändernden Technologien ist voller harter Probleme und die zu lösenden gesellschaftlichen Herausforderungen sind noch härter. Doch wer soll sie lösen, wenn die schlausten Köpfe unserer Gesellschaft sich darüber Gedanken machen, wie wir auf mehr Werbung im Internet klicken? Das Gros an Innovation kommt derzeit aus den Innovationsmotoren unserer globalisierten Welt: Den Risikokapital-getriebenen Tech-Ökosysteme in Amerika, Europa und China. Doch nur Risikokapital wird nicht ausreichen. Die Anlagehorizonte von Risikokapitalgeber sind viel zu kurz für harte Probleme. Wir müssen Grundlagen schaffen. Der Rausch exponentiellen Wachstums ist noch ein paar Jahre entfernt.

Aus großer Kraft folgt große Verantwortung

Wir brauchen kritische Debatten über bestehende und neue Innovationskonzepte, Fördermodalitäten, Narrative und Zukunftsbilder unserer Zeit. Genauso wie Diskussionen über Ökosysteme und ihre Stakeholder, die die meisten gegenwärtigen dominierenden Innovationsmethoden gebaren und die sie nun aus reinem Selbsterhaltungstrieb befeuern. Es kann nicht sein, dass verhältnismäßig einfach-gestrickte E-Commerce Ventures Millionen US-Dollar an Risikokapital für Kopien von Kopien einsammeln. Oder das Foie-Gras-Startups — ein eigentlich passenderer Begriff für Blitzscaling- und Hypergrowth-Effekte — wie WeWork, Peloton oder Uber mit Milliarden überfüttert und zwangsernährt werden, während soziale, gesellschaftliche und ökologische Innovationen händeringend nach Unterstützung suchen, um überhaupt nur die Entstehungsphase zu überstehen³.

Risikokapital kann Wunder bewirken, wenn die Bedingungen stimmen. Keine Frage. Doch regelmäßig geraten Unternehmer in eine Spirale moralischen Misserfolgs, weil sie gezwungen werden vorzeitig zu skalieren, da Burn Rate, Cash Runway und die Bewertung des Unternehmens ganz oben auf der Prioritätenliste von Risikokapitalgebern stehen. Während “gutes Wachstum” ein Unternehmen beflügelt, löst “schlechtes Wachstum” einen Teufelskreis aus. Und Wachstum ohne Kontext schlägt schnell in Eitelkeit um.

Netzwerkeffekte gelten positiv wie negativ. Über die negativen will halt nur keiner sprechen. Und kollektive Amnesie gehört zum guten Ton im Ökosystem.

Was wir deswegen brauchen, sind neue Mess- und Entscheidungsgrößen, sowie alternative Finanzierungsoptionen, die sich z.B. auf das Erreichen eines nachhaltigen Umsatzwachstums fokussieren. Ohne ein Umdenken in den Ökosystemen, können wir den Problemen des 21. Jahrhunderts nicht begegnen⁴.

Unsere Motivation für Innovationen muss sich ändern

Wir brauchen Innovationen. Kein Zweifel. Die entscheidende Frage lautet, aus welcher Motivation heraus sie entsteht. Denn wir leben in einer Zeit, in der die Notwendigkeit, Lösungen zu entwickeln und alternative Wege zu gestalten, so groß ist, wie nie zuvor. Egal ob es dabei um unternehmerische, technologische, soziale oder ökologische Themen geht. Und genau deswegen sollten wir uns daran erinnern, dass Innovation mehr ist als eine Ideologie aus dem Silicon Valley.

Wir sollten einen Blick zurück werfen und den Sinn sowie die Werkzeuge unseres Innovationsverhaltens erkunden, bevor wir zur nächsten gehypten Guru-Methode greifen. Auch müssen wir uns zwingend von mystischen Personenkulten lösen, die sich um Heilsbringer:innen gebildet haben und in dessen toxischen Fahrwasser sich nun Trittbrettfahrer:innen als Propheten versuchen — wenn uns die Geschichte etwas lehrt, dann, dass die meisten Propheten nur an der Erhaltung ihres Status interessiert sind. Wir sollten mit neuen innovationsfördernden Methoden experimentieren, die lange vernachlässigten Aktivitäten wie Wartung, Pflege, Reparatur und Instandhaltung fokussieren. Genauso wichtig ist eine Innovationskultur, die wertbasierte, langfristige Investitionen in die Grundlagenforschung sowie in junge Technologien, die erst in 10–15 Jahren ihre volle Blüte entfalten werden, schätzt und unterstützt.

Gleichzeitig sollte Innovation beim innovativ denkenden und gestaltenden Menschen beginnen und nicht beim EXIT-getriebenen Entrepreneur mit der besonderen merkantilen Aura. Wir sollten der Versuchung widerstehen “Fail fast, fail often, fail forward” zum Gebot zu erheben. Denn fades Innovationsgeschwätz und wortreiche Predigten von schrillen Shingy-Propheten, Thought Leadern, LinkedIn Meinungsführern, Clubhouse Moderatoren und Keynote Speakern werden uns nicht retten.

Innovation ist mehr als nur eine Methode. Innovation entwickelt sich aus einer Haltung heraus, nicht weil jemand einen Workshop besucht oder weil man dem Early Adopter Lifestyle frönt. Innovationen wirken langfristig stärker als kurzfristig, weswegen sie nicht dem Zweck der Zerstörung dienen sollten. Wir sollten in Anfänge investieren, nicht in das Ende.

Eine Innovationskultur mit Menschen im Mittelpunkt

Das Leben beginnt an dem Tag, an dem man einen Garten anlegt, lautet ein chinesisches Sprichwort. Gärtner nähren Böden, sie pflanzen Samen, wässern Setzlinge, jäten Unkraut und schützen Jungbäume. Gartenarbeit ist ein Rahmen für die Auseinandersetzung mit unserer Welt, beruhend auf Fürsorge und Engagement. Gute Gärtner kümmern sich. Sie investieren. Sie beschützen. Sie wissen, dass Erfolg nicht planbar ist, man ihn aber über Rahmenbedingungen kultivieren kann.

John Ernest Weaver, The Ecological Relations of Roots, Washington, Carnegie Institution of Washington, 1919

Und genauso baut Innovation auf der fortlaufenden Neuordnung und dem Zusammenspiel von Wissen, Ressourcen und Technologien auf. Innovation wird von neuen gedankliche Zugängen wie von alternativen Wegen getrieben. Innovation ist neu, aber eben nie ganz. Deswegen hängt Innovation auch nicht nur davon ab, was man weiß oder vorgibt über die Zukunft zu wissen. Viel wichtiger ist es, mit wem man spricht und mit wem man arbeitet. Kollaboration und Begegnung entscheidet über Erfolg und Misserfolg. Innovation ist eine zutiefst soziale Aktivität. Und um dies zu fördern, brauchen wir neue Methoden, Paradigmen und Perspektiven. Denn Innovation ist weit mehr als nur ein neue App, eine Abteilung in einem Unternehmen, ein Fortbildungsprogramm oder ein Wettbewerb zur Stimulierung des Fortschritts.

Reformation von Innovation

Natürlich braucht solch ein weitreichendes Zielbild einen starken Initiator. Gute Chancen besitzt die neue EU Initiative “New European Bauhaus”, die letzte Woche offiziell gestartet ist. Ziel des Vorhabens ist die Entwicklung einer interdisziplinären Bewegung, um den europäischen Green Deal voranzutreiben. Ursula von der Leyen formulierte es wie folgt:

“I want Next Generation EU to kickstart a European renovation wave and make our Union a leader in the circular economy. But this is not just an environmental or economic project: it needs to be a new cultural project for Europe.”

Es ist eine hoffnungsvolle und erstrebenswerte Vision, die nun nicht utopisch im Silo entwickelt werden darf. Der Erfolg hängt von neuen Denkschulen ab, die den Gedankenaustausch zwischen Academia, Kunst, Forschung, Politik und Wirtschaft im öffentlichen und privaten Sektor forciert, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerüstet zu begegnen.

Und dazu gehört auch die Reformation des gegenwärtigen Innovationsparadigmas. Es muss so pluralistisch sein, wie Europa es ist, und dennoch für spezifische und unverwechselbare Ansätze stehen, die den New Green Deal im Auge haben. Es braucht ein geteiltes Bewusstsein für Wertschöpfung und Partnerschaften, um neue Beziehungen und Projekte zu knüpfen.

Eine Reformation von Innovation ist unausweichlich. Auch, weil in den letzten Jahren im Namen von Innovation und Disruption viele unerfreuliche Dinge passiert sind, die uns nachhaltig beschäftigen. Wir sind darauf programmiert worden, das Alte radikal zu entfernen, auf Neues zu setzen und auf Hockey Sticks zu optimieren, statt gesund und nachhaltig zu wachsen. Innovation ist aber nicht Marktkapitalisierung in kürzester Zeit. Wir sollten uns zwingend fragen, wem wir eigentlich hinterherlaufen und was wir am gängigen Innovationsparadigma in unserem kulturellen Kontext ändern sollten.

Der Computer wird in diesem Jahr 75 Jahre alt, der Mikroprozessor feiert seinen 50. Geburtstag. Aber was kommt als nächstes? Natürlich weckt der Erfolg der mRNA-basierten Covid-Impfstoffe die Hoffnung, dass die Biotechnologie mehr sein kann, als nur eine Zukunftshoffnung. Aber auch sie unterliegt Kräften der Stagnation: Fehlende Forschungsfinanzierung durch eine zentralisierte Bürokratie, ein übervorsichtiges regulatorisches Umfeld und die kulturelle Wahrnehmung von etwas Unheimlichem und Gefährlichem. Es ist also nicht garantiert, dass es zu einer umfassenden Revolution in den nächsten 20–40 Jahren kommen wird. Auch fehlt es an Aufbruchstimmung in so wichtigen Industrien wie Landwirtschaft, Produktion und Fertigung, Energie, Gesundheit, Bildung, Mobilität und Verwaltung. Es muss sich was tun. Wir brauchen transformative Innvoationen.

2014 veränderte Facebook ihr Motto übrigens in “Move fast with stable infrastructure”. Zuckerberg sagte auf der hauseigenen Entwicklerkonferenz, dass der Zeitaufwand für die Behebung von “Move fast and break things” Fehlern mittlerweile viel zu groß geworden ist. Interne wie externe Entwickler sollen sich auf die Infrastruktur Facebook verlassen können.

Die Anpassung ist subtil, zeigt aber auch die Reife, die Facebook mittlerweile an den Tag legt.

Wir brauchen Fortschritt in der Breite und in der Tiefe. Wir brauchen Innovationen, die Bestand haben.

Und wenn Facebook sich verändern kann, können wir das auch.

Offensichtlich haben wir mehr Fragen, als Antworten. Auch wissen wir wie es ist, wenn man sich an etwas Neues wagt. Der Zauber des weißen Blattes der Innovation ist groß. Auch weil sich uns die Antwort oft entzieht. Selten ist Innovation greifbar. Und deswegen sind wir so sehr auf unseren Glauben angewiesen. Den Glauben an eine bessere Zukunft, in der wir prosperieren, trotz aller Ungewissheiten.

Doch wir ertappten uns in den letzten Monaten mehrfach beim Gedanken, dass die Gebote unseres Denkstils in erster Linie dem Denkstil selbst und ihren Eingeweihten zu Gute kommen. Wollen wir gemeinsam die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte bewältigen, scheint eine Reformation des Denkstils unausweichlich.

Wer genauso viele Fragen hat wie wir, folgt uns auf Twitter @CCTI_UDS oder vernetzt sich direkt mit uns. Wir sind für jeden Hinweis, jede Kritik und jede virtuellen Kaffeedebatte dankbar.

Über das Competence Center

Das Competence Center für Transformative Innovation der University of Digital Science (UDS) erforscht und lehrt die Philosophie, Strukturen und Prozesse der Innovation für das 21. Jahrhundert. Kern der Forschung bildet ein tiefgreifendes und ganzheitliches Verständnis darüber, wie Innovationsparadigmen entstehen, bestehende hinterfragt werden können und sich neue aktiv und demokratisch gestalten lassen. Ziel unserer Forschungs- und Gestaltungsaktivitäten sind die Entwicklung neuer Werkzeuge und Methoden, die Innovation als langfristigen Wert in Organisationen und Unternehmungen jeglicher Art etablieren.

[1] Die erste Anlaufstelle für jeden Interessierten sollte The Maintainers sein, ein globales Forschungsnetzwerk, das sich mit den Konzepten von Wartung, Infrastruktur, Reparatur und den unzähligen Formen von Arbeit und Expertise beschäftigt, die unsere Welt am Leben halten.

[2] Besonders deutlich wird dies auf (Social Media-)Plattformen, die ein ambivalentes Verhältnis zu nutzergenerierten Inhalten pflegen. Geschieht auf der Plattform etwas Magisches von globaler Bedeutung, war es schon immer Aufgabe, solche Ereignisse zu verwalten. Aber Nazis, Donald Trump, Antisemitismus, Hassreden oder Querulanten jeglicher Couleur sind oft das Problem von jemand anderem.

[3] Wer ein aktuelles Beispiel für Foie-Gras-Startups sucht, findet sicherlich Anwärter im Hyperlocal Dark Delivery Markt (Gorillas, goPuff, Ghost Kitchen, FastAF etc). The next hot shit, nach den Scooter-Kriegen des letzten Jahres.

[4] Der Risikokapitalgeber Union Square Ventures spielt offen mit dem Gedanken, Klima-Tech in ihre Investment-Thesis aufnehmen. Ein gutes Zeichen. Spannend ist auch das Modell von Activate, die ein Entrepreneurial Fellowship Model für Wissenschaftler ins Leben gerufen haben.

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