Der Ruf nach mehr Öffentlichkeit ─ oder wie Gemeinden mit Content Marketing die Demokratie verbessern

Bruno Habegger
contentmarkething
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4 min readApr 18, 2017

In Langenthal im Kanton Bern ist seit Januar 2017 ein Stadtpräsident im Amt, der ein Trumpeltier sein soll. Ist er nicht. Das Trumpeltier ist die Stadt selbst. Beobachtungen in der Schweizer Provinz.

Langenthal ist ein Städtchen im Oberaargau. Klein und niedlich. Es hat etwas von Allem, das es in der Schweiz so gibt: einen Berg (nicht so riesig), einen meisterlichen Eishockeyclub (in der zweithöchsten Liga, gerade am Aufstieg gehindert von einem Tessiner Klub), eine Fasnacht (gigantisch), einen MacDo (gleich wie überall), leere Läden (böses Internet!), Kopfsteinpflaster (hübsch für Historiker, aber nichts für Rollstühle) und einen neuen Stadtpräsidenten (von Links und ganz schön kommunikativ, kein Trumpeltier, wie ein Kommentarschreiber vermutet, wofür er via Berner Zeitung den Tatbeweis liefert). Dazu viel SVP, viel SP und FDP und daneben etwas EVP und sonst nichts. Fast nichts. Eine normale, durchschnittliche Stadt. Die Schweiz im Hosensackformat. Die durchschnittlichste Stadt der Schweiz.

Ausschnitt Facebook: Gemeinden brauchen mehr als vorgefertigte Statements für die Profis von Verwaltung und Politik.

Verschlafen

Was Langenthal nicht hat, ist eine Kommunikations- und Contentstrategie. Das höchste der Gefühle sind Verlautbarungen des Gemeinderats via Website. Die heissen «Pressemitteilungen». Immer noch. Dabei werden nur Themen kommuniziert, die der Gemeinderat und der CEO der Stadt für kommunikationswürdig halten.

Da schreit der Verschwörungstheoretiker in mir auf. Ruhig, ruhig. Hier, lies deine Trump-Tweets.

Langenthal hat das neue Kommunikatonszeitalter nur verschlafen. Keine böse Absicht.

Der Stadtpräsident schreibt unter den Beitrag «Der Ruf nach mehr Öffentlichkeit» der Berner Zeitung ─ gepostet im Facebook-Stream der Redaktionsleiterin ─ dass er wohl selbst wieder mehr bloggen, twittern und facebooken müssen, was aber an der Zeit scheitern werde. Und weiter: «wahrscheinlich wird aber das Bedürfnis nach Öffentlichkeit der Informationen stets grösser sein, als unsere behördlichen Möglichkeiten dieses zu stillen.»

Damit kapituliert er hinter den Worten vor einer Administration, die den Aufwand scheut, den Transparenz mit sich bringt. Und er macht die Kommunikation der Stadt von seiner Person abhängig. Er ist sich dessen sicherlich bewusst: Offensichtlich fehlt einfach eine schlüssige Strategie, die auch das Zeitargument berücksichtigt.

Der Schatz der Gemeinden

Mit dem richtigen Know-how, ein wenig kommunikativem Geschick, könnte die Gemeinde bereits mit wenig Mitteleinsatz ihre Kommunikation verbessern. Aber das tut sie nicht und vergisst ob der Diskussion um Transparenz und «Informationspolitik» (der Begriff allein widerspricht einer offenen Kommunikation), dass es um etwas Grösseres geht. Gemeinden müssen ein kommunikatives Umfeld schaffen, in dem ihr Wirken sichtbar wird und der Bürger ein Verständnis für die demokratisch-komplexen Vorgänge entwickelt. Tut sie dies nicht, bildet sie den Nährboden für alle Wutbürger des Landes.

Gemeinden sitzen auf einem Schatz an Geschichten, den es zu heben gilt.

Dafür braucht es eine Strategie quer durch alle Abteilungen der Verwaltung. Dafür braucht es keine Einzelaktionen, sondern ein koordiniertes Vorgehen, ein Verknüpfen der Geschichten zu einem Abbild des Lebens in der Gemeinde und der Verwaltung. Wir hier, ihr dort ─ moderne Kommunikation löst solche künstlichen Grenzen auf.

Tatsächlich sind aber Gemeinden gesetzlich eingeschränkt. Amtsgeheimnis und so. Niemand hindert sie aber daran, die Rahmenbedingungen zu schaffen für ihre Bürger, um verstärkt mit der Verwaltung zu kommunizieren, vor allem über die gewählten Vertreter des Volkes. Anders gesagt: Volksvertreter, die nicht kommunizieren, nehmen ihre Aufgabe nicht wahr, die Verwaltung zu kontrollieren und die Menschen zu beschützen, die sie gewählt haben. Volksvertreter, die nicht kommunizieren, vertreten sich selbst und sind Kumpane der Verwaltung.

Die ersten Schritte

Kommunikation ist eine Frage der Einstellung. Wer den Bürger als Eindringling in seine Komfortzone betrachtet, wird den Dialog verweigern. Darum muss Kommunikation der Verwaltung zur Chefsache erklärt werden. Stadtpräsident und Stadtschreiber («CEO» der Verwaltung) müssen an einem Strick ziehen. Sonst ist jede weitere Handlung Verschwendung von Steuergeldern ─ und wären Probleme auch andernorts zu erwarten.

Einige Content-Grundsätze für Gemeinden:

  • Der Content ist da, wo du ihn nicht erwartest.
  • Der Content ist da, wo die Vereine sind.
  • Die Geschichte erzählt sich auch ohne konkrete Personen.
  • Mitarbeiter der Administration sind Menschen mit ihren eigenen Geschichten, Fähigkeiten und vor allem sind sie ebenfalls Bürger auf ihrer eigenen Heldenreise.
  • Hinter Gesetzen und Verordnungen stecken Geschichten, die einen Bezug zum Leben eines Jeden herstellen.
  • Die Gemeinde als Marke heizt auch mal Kanton oder Bund ein, anstatt ihnen brav zu folgen. Das macht die Gemeinde zur Heldin ihrer Bürger.
  • Kommunikationsbewusste Gemeinden sind selbstbewusste Gemeinden.
  • In jeder Verwaltungsabteilung sind kreative Köpfe zu finden, die ihren Teil zur Contentwelt der Gemeinde beitragen können.
  • Der Freigabeprozess soll einfach gehalten sein und zwei Kriterien prüfen: inhaltliche Korrektheit und Übereinstimmung mit den Gesetzen.
  • Der Stadtpräsident, der seinen hohen Lohn von den Bürgern erhält, hat die Pflicht, über seine Tätigkeit zu informieren. Dazu reichen 140 Zeichen pro Tag.
  • Gemeindewebsites liessen sich hervorragend mit einem lokaljournalistischen Angebot verbinden.
  • Eine sinnvolle Content-Strategie bezieht die umliegenden Gemeinden sowie den Kanton und den Bund mit ein.
  • Die Content-Welt von Gemeinden ist höchst individuell. Sie ist ein Abbild des Charakters jeder einzelnen Gemeinde und ihrer Einwohner.

P.S. Langenthal, die durchschnittlichste Stadt der Schweiz? Ein Mythos, der sich seit Testmarktzeiten dank fehlender Kommunikationsstrategie bis heute erhalten hat.

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Bruno Habegger
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Unternehmensjournalist. Langjähriger freier Mitarbeiter diverser Zeitschriften und Zeitungen. Mitglied Gründungsteam zweier Newsplattformen in den 90ern.